Traditionell beschäftigen sich Ethnologen mit Verwandtschaftsnetzwerken, Bräuchen und Mythen bestimmter Gruppen von Menschen. Doch was passiert, wenn wir einen immer größer werdenden Anteil unseres Lebens nicht mehr mit physischer Interaktion, sondern im virtuellen Raum des Internet verbringen? Wenn ein soziales Netzwerk wie Facebook fast 800 Millionen Mitglieder hat? Daniel Miller kuckt in seinen Fallstudien, die er auf Trinidad durchgeführt hat, Facebook-Nutzern über die Schulter. Er trifft einen Mann, dessen Ehe online vor seinen Augen zerbricht, einen schüchternen Jungen, der erst beim Online-Spiel Farmville richtig aufblüht, und auf einen älteren Mann, dem Facebook es erlaubt, auch weiterhin am wirklichen sozialen Leben teilzuhaben.

 

Daniel Miller, geboren 1954, lehrt Ethnologie am University College in London. In den letzten Jahren hat er eine Reihe vielbeachteter empirischer Studien – etwa über Au-pair-Mädchen und -Jungen, Jeans oder Mobiltelephone – und eine Theorie des Einkaufens vorgelegt. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute (es 2613) und Weihnachten. Das globale Fest (2011).

Das wilde Netzwerk

Ein ethnologischer Blick auf Facebook

 

Daniel Miller

 

Aus dem Englischen von Frank Jakubzik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die edition unseld wird unterstützt durch eine Partnerschaft mit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de

 

Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Tales from Facebook bei Polity Press (Cambridge). Der Autor hat aus den dreizehn Porträts der englischen Ausgabe für die Veröffentlichung in dieser Reihe sieben ausgewählt sowie den theoretischen Teil gekürzt und überarbeitet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Nina Vöge und Alexander Stublić

 

eISBN 978-3-518-76350-6

www.suhrkamp.de

Das wilde Netzwerk

Inhalt

 

Vorwort

 

Erster Teil: Sieben Porträts

1 Eine virtuelle Scheidung
Vor unseren Augen zerbricht Marvins Ehe.
Ist Facebook daran schuld?

2 Das Buch der Wahrheit
Vishala erläutert, warum man bei Facebook mehr über einen Menschen erfährt, als wenn man ihm in der Realität begegnet.

3 Die Früchte von Farmville
Der schüchterne Arvind erntet virtuelle Freundschaften.

4 Gemeinschaften
Alana vergleicht Facebook mit der Dorfgemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist und bis heute lebt.

5 Ein Mann mit Zeit
Der wegen einer Krankheit ans Haus gefesselte ehemalige Menschenrechtsanwalt Dr. Karamath wird auf Facebook wieder aktiv.

6 Avatar
Ajani erläutert, warum sie sich auf Facebook exponiert, um ihr Privatleben zu schützen.

7 Die Historikerin
Nicoles Leben ist untrennbar mit der Geschichte von Facebook verwoben.

Zweiter Teil: Ein ethnologischer Blick auf Facebook

1 Facebook und die Folgen. Fünfzehn Thesen

2 Der Ruhm von Facebook

Schlußfolgerung

Glossar

Danksagung

Vorwort

Im sechsten Jahr seines Bestehens hat Facebook Google als weltweit meistbesuchte Seite im Internet abgelöst. Unternehmensangaben zufolge sind derzeit über 500 Millionen User aktiv, die Hälfte von ihnaen loggt sich täglich ein.1 Jeden Monat werden drei Milliarden Photos hochgeladen, pro Tag etwa sechzig Millionen Statusmeldungen gepostet. Ein Facebook-User hat im Durchschnitt 130 Freunde und verbringt täglich knapp unter einer Stunde auf der Seite. Doch diese Zahlen werden uns in diesem Buch nicht beschäftigen. So beeindruckend die Statistiken auch sein mögen, mir geht es um das, was am anderen Ende des Spektrums passiert – bei denen, die Facebook nutzen, ihren Freunden und Familien. Das vorliegende Buch ist eine ethnologische Studie über die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf den Alltag gewöhnlicher Menschen. Inwiefern hat sich ihr Leben durch Facebook verändert? Wie wirkt sich die Seite auf die Beziehungen aus, die ihnen am wichtigsten sind? Ist Facebook so etwas wie eine Gemeinschaft? Verändert es das Selbstverständnis der Nutzer? Warum machen diese sich kaum Gedanken über den Verlust ihrer Privatsphäre?

Viele Kritiker gehen irrigerweise davon aus, daß die Ursprünge von Facebook auch seine Zukunft bestimmen werden. Bekanntlich richtete sich die Seite zunächst ausschließlich an Studenten. Doch das spielt für die Dinge, um die es in diesem Buch geht, kaum mehr eine Rolle. Im Jahr 2010 (als ich die empirischen Studien für diesen Band abschloß) zeichnete sich erstmals ab, daß Facebook für ältere oder ans Haus gebundene Menschen, die keine anderen Möglichkeiten der Gesellung haben, unter Umständen bedeutsamer sein kann als für Studenten. Deshalb wird der Schwerpunkt unserer Betrachtung nicht auf dem liegen, was Facebook einst war, sondern auf der Frage, wozu es sich möglicherweise entwickeln wird. Da Facebook in den USA gegründet wurde, stammen auch die meisten Untersuchungen über seine Wirkung von dort. Inzwischen ist das Netzwerk jedoch längst ein globales Phänomen, über siebzig Prozent der User leben außerhalb der Vereinigten Staaten. Jede Untersuchung muß diese zunehmende Diversität berücksichtigen.

Einen ethnologischen Blick auf Facebook zu werfen drängt sich in gewisser Weise auf. Schließlich begreift die Ethnologie, im Gegensatz zu anderen Disziplinen, den Menschen nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern als Knotenpunkt seiner Interaktionen mit anderen. Schon lange vor der Erfindung des Internet haben Ethnologen das Individuum als »soziales Netzwerk« betrachtet. Daher muß ein neuartiges Ding, das diese Bezeichnung trägt, für sie von besonderem Interesse sein. Am 21. April 2010 kündigte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg auf der jährlichen Entwicklerkonferenz f8 (lies: fate, Schicksal) zukünftige Veränderungen der Seite mit den Worten an: »Wir wollen ein Netzwerk, das von Grund auf sozial ist.«2 Angesichts der Tatsache, daß sich das Gemeinschaftsleben und die sozialen Beziehungen nach allgemeiner Auffassung seit über hundert Jahren im Niedergang befinden, ist diese Umkehrung eines langlebigen Trends erstaunlich – und um so relevanter für die Voraussetzungen und Möglichkeiten ethnologischer Forschung.

Die Ethnologie betrachtet globale Phänomene gerne aus lokaler Perspektive, und Facebook hat im Zuge seiner Ausbreitung eine enorme Diversifizierung durchgemacht. Aus ethnologischer Sicht gibt es daher nicht nur ein Facebook, sondern viele – entsprechend dem Gebrauch, den Menschen in unterschiedlichen Regionen von der Seite machen. Dieses Buch ist auf Trinidad angesiedelt, weil ich zeigen wollte, daß Facebook nicht nur das ist, was man sich in den USA oder in Großbritannien oder Deutschland darunter vorstellt. Der Schauplatz ist geeignet, uns die zunehmende Heterogenität des Netzwerks vor Augen zu führen. Die Verschiebung aus der gewohnten Umgebung soll es dem Leser außerdem erleichtern, über die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf sein eigenes Leben nachzudenken. So mag der Schauplatz zwar Trinidad sein, doch liegt der Fokus auf konkreten Menschen, deren Sorgen und Nöte uns durchaus vertraut sind. Wir erfahren etwa, welche Folgen Facebook für eine Ehe haben kann, womit junge Leute ihre Nächte verbringen und wie man beurteilt, ob die Selbstdarstellung eines Facebook-Mitglieds wahrhaftig oder pure Fassade ist.

Trinidad ist eine karibische Insel unmittelbar vor der Küste Venezuelas. Zusammen mit der kleineren Insel Tobago bildet sie den Staat Trinidad und Tobago. Anstatt den vor Ort üblicheren Ausdruck »Trinbagonier« zu benutzen, spreche ich hier nur von »Trinis«, da sich meine Untersuchung auf Trinidad beschränkte. Die Insel ist knapp 5000 Quadratkilometer groß, was bedeutet, daß man sie im Auto an einem Tag umrunden kann. Die Ureinwohner wurden von spanischen Kolonialisten weitgehend ausgerottet. Das Land stand erst unter französischer, dann unter britischer Herrschaft, bis es 1962 die Unabhängigkeit erlangte. In Trinidad und Tobago leben derzeit rund 1,3 Millionen Menschen, rund vierzig Prozent stammen von afrikanischen Sklaven ab, weitere vierzig Prozent von zwangsverpflichteten Kontraktarbeitern aus dem südasiatischen Raum; die Vorfahren der übrigen kamen aus einer Vielzahl von Ländern und Regionen, unter anderem aus China, Madeira und dem Libanon.

Ich führe seit mehr als zwanzig Jahren Feldstudien auf Trinidad durch und habe bereits drei Bücher über die Insel geschrieben. Für das vorliegende Buch habe ich die Facebook-Aktivitäten der Trinis ein Jahr lang im Internet und zusätzlich zwei Monate lang, von Dezember 2009 bis Januar 2010, vor Ort erforscht. Die Beschäftigung mit Facebook ergab sich aus einer umfangreicheren Studie, in der ich zusammen mit Mirca Madianou von der Universität Cambridge die Auswirkungen der neuen Medien auf die Kommunikation über große Entfernungen hinweg untersuche. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches hatten 26 Prozent der Trinidader einen Facebook-Account, 54 Prozent der User waren Frauen.3 Was den Anteil der Facebook-Nutzer unter den Menschen mit Internetzugang betrifft, lag Trinidad 2008 weltweit auf Rang zwei hinter Panama.4 So zeigte sich vor Ort denn auch, daß außer in sehr armen Regionen praktisch jeder im High-School- und College-Alter bei Facebook ist.

Der erste Teil dieses Buchs besteht aus sieben Porträts. Sie beruhen auf Interviews und Beobachtungen, doch habe ich in den meisten Fällen Details geändert und Material von anderen Teilnehmern ergänzt, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Stilistisch orientieren sich die Porträts eher an Kurzgeschichten oder Reiseberichten als an wissenschaftlicher Essayistik, was die Lesbarkeit erhöhen soll. Das mag jenen etwas Geduld abfordern, die das Buch aus akademischem Interesse lesen. Im zweiten Teil werden die aus den Porträts gewonnenen Erkenntnisse dann wissenschaftlich aufgearbeitet. Allerdings hoffe ich, daß auch dieser Teil für das allgemeine Publikum ebenso lesbar wie interessant sein möge. Im ersten der beiden eher theoretischen Essays versuche ich in fünfzehn tastenden Thesen anzudeuten, welche Folgen Facebook für unser Zusammenleben haben könnte.5 Im abschließenden Essay vergleiche ich dann die Ergebnisse unseres Projekts mit denen einer klassischen ethnologischen Studie über die Bewohner einer Insel an der Küste Papua-Neuguineas.

Aufgrund des Wesens sozialer Netzwerke muß man davon ausgehen, daß die in diesem Buch angestellten Überlegungen jederzeit teilweise obsolet werden können, wenn Facebook sich verändert oder etwas anderes an seine Stelle tritt. In jedem Fall bleibt es jedoch eine ethnologische Studie über Menschen als Knotenpunkte sozialer Netze.

Und warum gerade Trinidad?

Manche Leser erwarten womöglich, daß die Facebook-Nutzung auf Trinidad in diesem Buch auf globale beziehungsweise amerikanische Vorbilder zurückgeführt wird. Schließlich ist Trinidad nur eine winzige, randständige Insel, umtost von gewaltigen Stürmen, die von den Großmächten herüberwehen. Folglich kann man das »echte«, das »eigentliche« Facebook natürlich nur in seinem Ursprungsland, den USA, erforschen, während die Nutzung des Netzwerks andernorts wenig authentisch, epigonal, bloße Nachahmung bleiben muß. Solche Auffassungen sind vor allem in den Cultural Studies und der Soziologie verbreitet. In meinen Augen hat die Ethnologie jedoch vor allem die Aufgabe, uns die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu zeigen.

Diese Auffassung hat bereits meine früheren Bücher geprägt. So gingen Don Slater und ich bei unserer Studie zur Internetnutzung auf Trinidad davon aus, daß es so etwas wie das Internet nicht gibt, da unterschiedliche Nutzer ganz unterschiedlichen Gebrauch von seinen Möglichkeiten – Surfen, E-Mails, Instant Messaging und so weiter – machen.6 Demnach war für uns das Internet stets das, was die jeweiligen User, im Rahmen einer ethnologischen Studie auf Trinidad also die Trinidader, damit anstellten. Auf diese Weise untersuchten wir, wie sich die örtlichen Gegebenheiten im Umgang mit dem Medium widerspiegelten. Mein Ausgangspunkt dabei war und ist, daß Trinidad nicht irgendeine epigonale Peripherie, sondern der Nabel der Welt ist. So habe ich einmal Coca-Cola im Titel eines Aufsatzes als »schwarze Limonade aus Trinidad« bezeichnet, weil Coke in Trinidad vor allem mit Rum getrunken wird und zudem in Abhebung von orangefarbenen oder roten Limonaden ethnische Unterschiede markiert, was mir wichtiger schien als ihre Herkunft aus den USA. Ein solcher Ansatz hat den Vorzug, vorschnelle Pauschalisierungen in Frage zu stellen. Wie ich andernorts gezeigt habe, folgt selbst die Wirtschaft auf Trinidad eigenen Regeln, die so weder in Ökonomielehrbüchern stehen noch der Theorie des Kapitalismus entsprechen und deren Auswirkungen im Wirtschafts- und Finanzbereich durchaus widersprüchlich sind.7 So sind die größten transnational agierenden Konzerne auf Trinidad einheimische Unternehmen, die weite Teile der karibischen Wirtschaft dominieren und sogar nach Florida exportieren.

Aus dem gleichen Grund werde ich hier zuweilen von »Fasbook« statt von Facebook sprechen, weil das die auf Trinidad übliche Bezeichnung ist (vgl. Glossar, S. 215). Zwar hat Mark Zuckerberg ein Netzwerk namens Facebook erfunden, doch haben es die kreativen Trinidader in Fasbook verwandelt. Und vor ihrer Kreativität und ihrem Scharfsinn habe ich schon lange den größten Respekt. Konversationen zwischen Trinis sind nach meiner Erfahrung wortgewandter, lustiger und profunder als die Alltagsgespräche in allen anderen Ländern, in denen ich gewesen bin (und da Trinis nicht zu übertriebener Bescheidenheit neigen, würden sie mir darin wohl zustimmen). Die meisten Trinis, die in den vergangenen Jahrzehnten nach Großbritannien migrierten, waren Juristen, Ärzte oder andere Fachleute. Sie haben großen Ehrgeiz und sind gewöhnlich erfolgreicher als die Einheimischen. Allerdings ist das nur ein Teilaspekt, da es daneben ein ganz anderes Trinidad gibt. Die einen bestehen als Kinder die schweren Zugangsprüfungen, werden an einer der renommierten High Schools angenommen und schneiden bei den Examina häufig so gut ab, daß sie ein Vollstipendium an einem US-College ihrer Wahl erhalten, falls sie das wollen. Die meisten international bekannten Intellektuellen aus Trinidad haben solche Schulen besucht, etwa der Kulturwissenschaftler C. L. R. James und der Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul. Wie diese Namen andeuten, ist dabei der Anteil der afrikanisch- bzw. indischstämmigen Bevölkerungsgruppen etwa gleich. Die meisten Trinis schaffen es jedoch nicht an solche Schulen, was weitaus schlechtere Lebensaussichten zur Folge hat. Allerdings verfügen auch die Bewohner der Armenviertel nach meinen Erfahrungen über eine bessere Allgemeinbildung und mehr Unternehmungsgeist als die entsprechenden Bevölkerungsschichten in jedem anderen Land, das ich kenne.

Auch deshalb neige ich dazu, neue Kommunikationstechnologien gerade auf Trinidad zu erforschen. Ich vermute, daß man dort nicht nur anders, sondern auch in mancherlei Hinsicht zukunftsweisend mit ihnen umgehen wird. So mag es zwar das Unternehmen Facebook sein, das die Infrastruktur des Netzwerks vorantreibt, doch es sind die Menschen an Orten wie Trinidad, die Ideen darüber entwickeln, was sich mit dieser Infrastruktur anfangen läßt.

Daß Trinidad einen besonderen Zugriff auf die Möglichkeiten der Moderne hat, ist auch historisch bedingt. Zum einen entstand dort durch das abrupte Ende von Sklaverei und Kontraktarbeit ein besonderes Gefühl für Freiheit, das weniger von Konservatismus geprägt ist als in Weltregionen, in denen sich der soziale Status der Landarbeiter nur allmählich verändert hat. Zum anderen hat es auch nicht geschadet, daß Trinidad eines der ersten erdölproduzierenden Länder der Welt war und die erwirtschafteten Profite ins Bildungssystem investierte. Insofern bin ich zuversichtlich, daß einige der hier für Trinidad beschriebenen Trends sich dank der Verzögerung, die die Herausgabe eines Buches mit sich bringt, inzwischen auch an gewöhnlich weniger innovativen Orten wie London oder Los Angeles abzuzeichnen beginnen. Wir werden ja sehen.


1

  

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches waren es bereits 800 Millionen User; vgl. dazu die Angaben unter: {http://www.facebook.com/press/info.php?statistics} (Stand: November 2011) (Anmerkung des Übersetzers).

2

  

Nachzulesen unter: {http://news.bbc.co.uk/2/hi/technology/8590306.stm} (Stand: Oktober 2011).

3

  

Vgl. dazu die Informationen unter: {http://www.facebakers.com/count ries-with-facebook/TT/} (Stand: August 2010). Im Oktober 2011 nennt die Seite 36 Prozent Facebook-Mitglieder, davon 53 Prozent Frauen. Über 90 Prozent derer, die auf Trinidad über einen Internetzugang verfügen, sind auch bei Facebook.

4

  

Vgl. dazu die Informationen unter: {http://thekillerattitude.com/2008/06/facebook-statistics-and-google-motion.html} (Stand: Oktober 2011).

5

  

Der Fokus bleibt dabei auf den Nutzern. Was das Unternehmen selbst und seine Geschichte angeht, verweise ich auf das derzeit maßgebliche Buch von David Kirkpatrick, The Facebook Effect. The Inside Story of the Company That Is Connecting the World, London: Virgin Books 2010; deutsch: Der Facebook-Effekt. Hinter den Kulissen des Internet-Giganten, aus dem Amerikanischen von Karsten Petersen, München: Hanser 2011.

6

  

Daniel Miller/Don Slater, The Internet. An Ethnographic Approach, Oxford: Berg 2000.

7

  

Daniel Miller, Capitalism. An Ethnographic Approach, Oxford: Berg 1997.

Erster Teil
Sieben Porträts

1 Eine virtuelle Scheidung

Für einen Moment löse ich den Blick vom Bildschirm, um durch das Fenster nach draußen zu schauen, wo ein paar Meter entfernt ein rotes Vogelhäuschen wie ein Miniaturraumschiff in der Luft schwebt. Was meine Aufmerksamkeit erregte, waren die Bewegungen eines Vogels, des auf Trinidad allgegenwärtigen Zuckervogels (oder Bananaquits) mit seinem gelben Bauch. Kurz darauf kommt ein Türkisvogel, dessen Gefieder noch intensiver leuchtet. Solche Vogelhäuschen sieht man auf der Insel überall, und wenn man Glück hat, kann man morgens einen Blick auf das irisierende Blauviolett eines Kolibris erhaschen. Die Palette kräftiger Farben der hiesigen Vogelwelt läßt an ein Korallenriff denken. Manchmal fällt es mir schwer, mich auf den Bildschirm vor mir zu konzentrieren, denn das Büro, in dem ich sitze, liegt inmitten einer Kakaoplantage in der Nähe des Zentrums der Insel. Die großen Fenster machen die Umgebung zum Panorama. Am Vormittag habe ich einen Leguan beobachtet, der meine Sichtung des Vortags ergänzte, als ich im Wald ein Aguti entdeckte, das einer Kreuzung aus Ratte und Hausschwein ähnelt.

Normalerweise stelle ich solche Erkundungen der Fauna vor dem Fernseher in London an, anhand von Dokumentationen, die in raschem Wechsel vorführen, wie Tiere Angehörige anderer Arten bei lebendigem Leib verschlingen oder sich mit Exemplaren der eigenen Spezies paaren. Hier hingegen erschien die Tierwelt zahm und friedlich, während etwas ganz anderes vor meinen Augen auf dem Bildschirm unter heftigen Schmerzen starb. In diesem Büro sollte ich miterleben, wie Facebook eine Ehe zerstörte. Je mehr Zeit verging, desto mehr überzeugte mich der Mann neben mir davon, daß Facebook diesen Zerstörungsprozeß nicht nur öffentlich machte oder abbildete, sondern die Schandtat letztlich selbst beging. Facebook war dafür verantwortlich, daß sich die Mutter seines Kindes von ihm trennte.

Mit nichts dergleichen hatte ich auch nur im geringsten gerechnet, als ich am Morgen hier aufgekreuzt war. Wir wollten darüber reden, wie die Kakaoplantage Facebook für Marketingzwecke nutzte. Das fiel in Marvins Aufgabenbereich als Projektmanager, bis die Plantage genug einbringen würde, um einen Marketingmann einzustellen. Wie Marvin mir erklärte, hatte die Facebook-Seite des Unternehmens der viel älteren Webseite in den vergangenen zwei Jahren allmählich den Rang abgelaufen. Das brachte allerdings Probleme mit sich, da Facebook gewisse Dinge nicht zuließ. So war es etwa unmöglich, PDF-Dateien auf die Seite zu stellen. Marvin versuchte daher, die Facebook-Freunde der Plantage auf die Webseite umzuleiten, damit sie den Newsletter lesen konnten. Doch zumindest die Einheimischen unter ihnen kommunizieren fast nur noch über Facebook. Wie Marvin mir erläuterte, ersetzt die Seite vielen Trinidadern das gesamte Internet. Facebook ist das Medium, in dem man am ehesten eine Reaktion auf seine Mitteilungen bekommt, ganz gleich, ob in kommerziellen oder privaten Angelegenheiten.

Marvin hatte damit kein Problem. Ihm gefiel, daß er mit jemandem, der der von ihm gegründeten Facebook-Gruppe der Plantage beitrat, sofort vom Büro aus Kontakt aufnehmen konnte. Er schickte dem neuen »Freund« eine persönliche Nachricht und lud ihn – oder sie – zu einem virtuellen Schwatz ein. Das Private mit dem Dienstlichen zu vermischen hatte sich oft als ziemlich effektiv erwiesen, zumal Marvin um die Dreißig ist und ziemlich sympathisch rüberkommt. Ich bin nicht gut im Beurteilen des äußeren Erscheinungsbildes von Männern, vermute aber, daß die meisten Frauen ihn durchaus attraktiv finden würden. Auf seinem Gesicht mischt sich Freundlichkeit mit Sensibilität. Wenn er mit neuen Facebook-Freunden über den Instant Messenger (IM) von Facebook oder über Windows Live Messenger (WLM, früher: MSN) chattete, achtete er stets darauf, daß sein bestes Profilphoto online war, insbesondere wenn es sich um weibliche Freunde handelte. Leuten aus dem Ausland, die durch die »Freundschaft« ihr Interesse an Schokolade bekundeten, schlug Marvin vor, die Plantage zu besuchen, und versorgte sie mit den entsprechenden Tips zu Reise- und Unterkunftsmöglichkeiten. Dieser touristische Aspekt begann sich gerade zu einem ernsthaften Zusatzgeschäft der Kakaoproduktion zu entwickeln. Und selbst wenn die Leute nie nach Trinidad kamen, vertiefte dergleichen ihre Beziehung zum Produkt. Marvin hatte bereits sechs Photoalben und einen Videoclip hochgeladen, und er forderte die Besucher auf, ihm ihre Lieblingsphotos zu schicken, damit er sie ebenfalls online stellen konnte.

Und was hatte mich in dieses Büro verschlagen? Ich war nach Trinidad gekommen, um die Auswirkungen der neuen Medien auf die Kommunikation zwischen weit voneinander entfernt lebenden Verwandten zu untersuchen. Mit meiner Kollegin Mirca Madianou hatte ich zuvor auf den Philippinen beobachtet, mit welchen Mitteln in Großbritannien arbeitende Eltern ihre Kinder auf der anderen Seite der Welt zu erziehen versuchen. Trinidad hatten wir als Ort der Vergleichsstudie gewählt. Vor allem interessierte uns, wie die Beteiligten mit der immensen Vielfalt möglicher Kommunikationskanäle umgehen, die wir mit dem Neologismus »Polymedia« bezeichneten. In einem gewissen Stadium des Projekts begann mich jedoch ein anderes Vorhaben zu verlocken, das sich allein um Facebook drehte. Ich hatte in letzter Zeit immer öfter gehört, Facebook sei im Begriff, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor etwa im Textileinzelhandel zu werden. Mein Gespräch mit Marvin schien dieses Gerücht zumindest für Trinidad zu erhärten. Als ich die Insel zehn Jahre zuvor besuchte, hatte mir jedermann versichert, wer in der Lebensmittelbranche Geschäfte machen wolle, müsse eine Webseite haben, weil ihm ansonsten ein wesentliches Siegel der Modernität fehle. Dieser Tribut an den Fortschritt sei für das Image eines erfolgreichen Unternehmens unverzichtbar. Diesmal war es offenbar Facebook. Man mußte dort einfach präsent sein, weil jeder Trinidader dort zuerst nachsah.

Daß ich mich gerade auf einer Kakaoplantage befand, hatte spezifische Gründe. Ich liebe nämlich gute Schokolade. Zufällig befinden sich im Inneren der Insel einige der weltweit besten Kakaopflanzungen, insbesondere die Gran-Couva-Plantage des französischen Edelschokoladenherstellers Valrhona. Der Kakao aus Trinidad wird gewöhnlich mit minderen Sorten vermischt, um diese aufzuwerten. In reiner Form ist er ziemlich teuer. Ich habe zu diesem Stoff seit Jahren eine überaus erfreuliche Beziehung. Allerdings bekommt man auf Trinidad keine gute Schokolade. Die Endverarbeitung des Kakaos wird in der Regel dort vorgenommen, wo die Schokolade in den Handel kommt, in Ländern wie Frankreich also. Was man hier sehen kann, ist die Kakaoproduktion, das Ernten, Fermentieren und Trocknen. Außerdem werden die Kakaobohnen mit bloßen Füßen poliert, um Reste der Schale zu entfernen, ähnlich wie beim traditionellen Weinstampfen im Mittelmeerraum. Ein Videoclip eines solchen »Bohnentanzes« gehörte zu den Highlights im Marketing von Marvins Plantage. Obwohl es hier keine Schokolade gab, war es dennoch ein kulinarischer Genuß, der mich zu den Kakaoplantagen zog. Mein absolutes Lieblingsobst nämlich – dem meines Wissens bislang nicht die Ehre eines eigenen Namens zuteil wurde – ist das weiße Fruchtmus, das die Kakaobohnen innerhalb der Schale umgibt. Es schmeckt leicht säuerlich, ein bißchen wie die Früchte vom Mangostanbaum. Ich kann diesem Zeug nicht widerstehen. Man braucht nur eine frische Kakaofrucht aufzuschlagen – was aber eben nur auf einer Kakaoplantage möglich ist, wo das Mus, als Hindernis auf dem Weg zur eigentlichen Bohne, normalerweise weg»getanzt« wird.

Nachdem ich mir also den Bauch mit Kakaofruchtmus vollgeschlagen hatte, setzte ich die Forschungsarbeit fort, die meine Anwesenheit an diesem Ort rechtfertigte. Zu meiner Freude unterhielt sich Marvin ausführlich mit mir über Marketing via Facebook. Dabei ergab es sich jedoch, daß ich infolge meines in die Länge gezogenen Aufenthalts Zeuge eines ganz anderen, gänzlich unerwarteten Geschehens wurde. Es hatte sich schon länger angedeutet und trat dann zunehmend in den Vordergrund, weil Marvin immer häufiger abschweifte. Schließlich war er so weit, daß er selbst dem völlig Fremden gegenüber, der in seinem Büro saß und das neue Thema freilich begierig aufgriff, einfach über das, was gerade geschah, sprechen wollte und mußte.

Marvin gehört zu jenen, bei denen Facebook praktisch den ganzen Arbeitstag über läuft. Wenn er abends zu Hause bei den beiden Kindern ist, bleibt ihm kaum Zeit dafür, doch weil Internet-Marketing unverzichtbar ist, hängt er am Arbeitsplatz ständig am Netz. Im Büro via PC, draußen auf der Plantage per Laptop, auf den Wegen in der Umgebung meist via Blackberry. Während der Arbeitszeit muß und darf er pausenlos online sein. Und solange er online ist, ist Facebook mindestens im Hintergrund aktiv. Er hat 620 Freunde, von denen, was für einen Trinidader ungewöhnlich ist, relativ wenige zur Familie gehören. Das liegt auch daran, daß er aus einem Ort in der Nähe kommt und als erster aus der Nachbarschaft studiert hat. Die meisten seiner Verwandten haben keinen Computer, geschweige denn einen Laptop. Vor allem haben sie kein Blackberry, für wohlhabende Trinidader derzeit das Accessoire überhaupt. Den Kern seiner ausgedehnten Freundesliste bilden Frauen, die er von einer der Schulen kennt, die er besucht hat. Seiner Ansicht nach ist das darauf zurückzuführen, daß die Frauen auf Trinidad Facebook intensiver nutzen als die Männer, was sich in meinen Untersuchungen ebenfalls abzeichnete.

Marvins Umgang mit Facebook war mir von Anfang an ungewöhnlich vorgekommen. Offenbar verwendete er sein Smartphone nie zum Telefonieren, sondern ausschließlich zum Abrufen von Instant Messages. Die wichtigste Software auf seinem Rechner war das Chat-Programm WLM; die Kontaktliste führte, wie ich sehen konnte, rund fünfzig Bekannte als aktuell online erreichbar auf. SMS hingegen benutzte er niemals. Eine solche Hingabe an das Medium IM hatte ich selten erlebt. Es nervte mich, bis kurz vor Ende unseres Gesprächs der Groschen fiel.

Denn soviel Zeit Marvin auch auf Facebook verbringen mag, es gibt einen Menschen, der dort noch mehr Zeit verbringt als er, und das ist seine Frau. Vor allem aber verbringt sie diese Zeit überwiegend nicht auf ihrer, sondern auf seiner Facebook-Seite. Sie verfolgt alles, was er tut. Sie informiert sich über jede neue »Freundin« und versucht herauszufinden, ob er mit ihr etwas am Laufen hat. Natürlich kommentiert er die Photos seiner neuen Bekannten, das tut jeder auf Trinidad – sie aber liest jeden seiner Kommentare. Dummerweise nutzt er Facebook jeden Tag sehr ausführlich. Er kommuniziert ständig mit Frauen und hinterläßt dabei fast immer schriftliche Spuren, die sie verfolgen, abfragen und zum Anlaß von Verdächtigungen nehmen kann. In seinen Augen lief es inzwischen darauf hinaus, daß seine eigene Frau eine Stalkerin geworden war, gegen deren endlose Vorwürfe er sich jeden Tag aufs neue rechtfertigen mußte. Es hatte sich zu einer Obsession entwickelt, die ihn fertigmachte. Seit einiger Zeit dachte er ernsthaft darüber nach, die Brocken hinzuschmeißen und sich von der Frau zu trennen, die ihn, sosehr er sie auch liebte, in den Wahnsinn trieb. Doch an diesem Tag kam sie allen seinen Überlegungen zuvor.

Er hatte sich ihrer Verfolgung auf verschiedene Arten zu entziehen versucht. Einmal war er sogar das Anruferverzeichnis ihres Telefons durchgegangen, um ihr zu zeigen, wie man sich als Gegenstand solcher Übergriffe fühlt. Es funktionierte nicht. »Ich hab nix zu verbergen«, schnaubte sie.1 »Ich auch nicht«, entgegnete er. Das brachte nichts. Genausowenig schützten ihn Paßworte oder veränderte Privacy-Einstellungen vor ihren Nachstellungen, weil seine Frau diese Maßnahmen als brandheiße Beweise dafür auffaßte, daß er doch etwas zu verbergen habe und ihre Ehe in Gefahr sei. Auf diese Weise spitzte sich die Lage unumgänglich zu.

Marvin sieht also sehr genau, was da passiert. Er hat zwei Kinder, eines von einer früheren Partnerin, das andere von seiner Gattin. Er will nicht, daß ihre Beziehung kaputtgeht, und sagt, daß er sie nach wie vor liebt. In seinen Augen rührt das Problem, das ihnen über den Kopf wächst, letztlich von der Technik und vor allem von Facebook her. Wir befinden uns auf Trinidad, in jeder Beziehung spielt Eifersucht eine Rolle, und tatsächlich haben die meisten Liebenden auch Grund zum Mißtrauen. Die Angst davor, »Hörner aufgesetzt« zu bekommen, wie auch die Trinis sagen, ist auf der Insel allgegenwärtig. Aber genau das ist der Punkt. Das war nämlich schon immer so, es ist nichts Neues daran. Mit der Feststellung, daß etwas Teil einer bestimmten Kultur sei, verbindet der Ethnologe keinerlei Werturteil. Er konstatiert lediglich, daß etwas über mehrere Generationen zum Leben und zum Erwartungshorizont der Menschen gehörte. Bevor es Facebook gab, existierten potentielle Seitensprungkandidaten jedoch in aller Regel nur als vage drohende Schatten im eigenen Hinterkopf. Man konnte sie nicht sehen, es gab keine Photos, auf denen sie in provokanter Haltung posierten, keine zweideutigen oder offen flirtenden Kommentare zum Nachlesen. Heute besitzt jeder der damaligen Schatten selbstverständlich eine Facebook-Seite, deren Tiefen geradezu zum Stalken einladen. Die Schatten sind überall, und es sind Hunderte. Sie schicken virtuelle Geschenke in Form von Blumen oder Puzzles oder posten Statusmeldungen, die alles bedeuten können. Facebook führt einem all diese anderen Frauen (oder Männer) unmittelbar vor Augen. Es erschafft eine Welt, in der man seine Obsession ausleben und jeder eifersüchtigen Regung nachgeben kann, indem man Profile von Nutzern durchforstet und herauszufinden sucht, was sie mit dem eigenen Partner verbindet. Es ist unmöglich, dem zu widerstehen, weil es so einfach ist. Ein Klick genügt, um von der Seite des Partners zu denen seiner Bekanntschaften zu gelangen. Was man dort vorfindet, ist nie geeignet, das Mißtrauen auszuräumen und die Sorgen zu beschwichtigen. Jede Spur auf dem Bildschirm schafft neue Irritationen und verstärkt das Bedürfnis, tiefer zu graben, und von allen Seiten tauchen neue drohende Bekanntschaften auf.

Daß sich gerade Marvins Frau Sorgen machte, war auch nicht weiter schwierig nachzuvollziehen. Ich habe oben bereits angedeutet, daß Marvin seine schokoladenbraune Haut zu Marketingzwecken einsetzt. Mit der Folge, daß offenbar eine ganze Menge Frauen aus Schweden, Kanada und Großbritannien via IM mit ihm erst über Schokolade und dann auch über Reise- und Unterbringungsmöglichkeiten plauderten. Ob sich daraus mehr ergab, kann ich nicht beurteilen. Auf der Nachbarinsel Tobago existiert ganz offen und alltäglich ein Sextourismus, bei dem schwarze Männer die Lustobjekte weißer Frauen sind, der offenbar umstandslos an die Stelle des in Zeiten umgekehrter Geschlechterverhältnisse üblichen Verfahrens getreten ist. Oder verfiel ich hier der leicht wahnhaften Logik seiner Frau, die mir Marvin ausführlich schilderte? Tatsächlich habe ich nicht die geringste Ahnung, ob sexuelle Absichten bei ihm oder den Ausländerinnen eine Rolle spielten. Allerdings konnte ich nachvollziehen, daß seine Frau von der Vorstellung besessen war.

Evident hingegen war das grundlegende Problem seiner Facebook-Freundschaften im Hinblick auf Frauen aus Trinidad. Denn hier wurde ich Zeuge dessen, was geschah. Sosehr seine Arbeit und seine Ehe Marvin auch in Anspruch nahmen, stets fand er Zeit, via IM mit Leuten zu chatten, deren Logos während meines Besuchs auf dem Bildschirm aufpoppten. Passend zu dem Bild, das sich herauskristallisierte, war der wichtigste IM-Chat-Partner an diesem Morgen eine äußerst attraktive junge Frau. Zufällig war sie keine ehemalige Schulkameradin. Sie arbeitete als Stewardess und chattete zwischen zwei Flügen von einem Hotelzimmer in New York aus. Der Flirtcharakter der Unterhaltung war unmöglich zu übersehen. Sie freut sich so darauf, ihn wiederzusehen, sie sehnt sich nach Wärme, sie schmollt: »Bestimmt hast Du wieder keine Zeit für mich, wenn ich nächsten Monat auf Trinidad bin.« Marvin beteuerte jedoch seine Unschuld und meinte, es liege allein an den Trinidader Frauen: »Yeah … und das ist wahr, weil sie hat ja mich gefragt, ob ich mich mit ihr verabreden will; sie hat gefragt, ob wir zusammen ausgehen. Wegen meiner Beziehung wollte ich das aber nicht. Aber ich wollte sie auch nicht vor den Kopf stoßen. Viele Mädchen brechen die Beziehung gleich ganz ab, wenn sie bei einem Typen, auf den sie stehen, nicht weiterkommen. Sie wollen nicht … Freundschaft allein reicht ihnen nicht. Also wenn sie auf diese Art auf einen stehen. Wenn sie mehr von einem wollen, funktioniert es nicht, wenn man einfach nur ein Freund sein will. So was passiert mir andauernd. Sie finden mich attraktiv. Sie wollen mit mir zusammensein. Zumindest wollen sie sich die Möglichkeit offenhalten. Auch wenn ich ›Nein‹ sage, was ich bisher immer gemacht habe. Ich glaube nicht, daß es mit diesem Mädchen noch lange weitergeht, weil sie es offenbar wissen will: ›Was machst Du gerade? Wann können wir uns sehen?‹ Dabei ist gar nichts gewesen, ich meine, können wir nicht einfach Freunde sein? Etwas in mir will sich zwar mit ihr treffen. Aber ich will die Beziehung mit meiner Frau nicht riskieren.«

Das Problem ist, daß dieser Mann sein Verhalten zwar wortreich rechtfertigt, zugleich aber unbestreitbar flirtet. Inzwischen war mir klar, warum er ein Telefon besaß, auf dem niemals Anrufe eingingen, was er auch einräumte. IM ist das einzige Medium, in dem seine Frau seine Aktivitäten nicht verfolgen kann, weil die dort ausgetauschten Nachrichten im Gegensatz zu Anrufen oder SMS, Kommentaren und Statusmeldungen bei Facebook keinerlei Spuren hinterlassen.

Mir kam ein Gedanke, dessen Triftigkeit ich nicht abschließend zu beurteilen vermag. Vielleicht litt Trinidad durch den bloßen Zufall einer semantischen Koinzidenz unter problematischen Effekten von Facebook. Aufgrund einer anderswo unbekannten Begriffsvermischung, die das Zerbrechen von Beziehungen förderte. Das Problem wurzelt in der Bedeutung des Wortes »friending« bzw. »to friend« (sich anfreunden). Nur auf Trinidad waren diese Begriffe schon ein Jahrhundert vor Facebook in Gebrauch. Allerdings bedeutete to friend im Trinidader Dialekt soviel wie Geschlechtsverkehr haben, insbesondere im Rahmen einer unehelichen Beziehung. Wie auf anderen karibischen Inseln auch heirateten die Leute hier, zum Verdruß der Kirche, meist erst dann, wenn sie sich ein Haus leisten konnten. Allerdings wurde von ihnen erwartet, daß sie zum Beweis ihrer Reife bereits vorher Nachwuchs zeugten und gebaren. Die Kinder dieser Kinder wurden dann der älteren Generation, zumeist den Großeltern oder Großtanten übergeben. Das System hat immer gut funktioniert. Junge, biologisch fitte Frauen brachten Kinder zur Welt, ältere Frauen, die das Interesse an Liebschaften verloren hatten, versorgten sie. In gewisser Hinsicht ist das vernünftiger als die in Großbritannien herrschende Erwartung, daß die biologische auch die kulturelle Mutter eines Kindes sein müsse. Derartige Beziehungen zwischen jungen, unverheirateten Partnern jedenfalls bezeichnete man damals als »friending«.

Sie mündeten nicht unbedingt in eine Ehe. Auf Trinidad gibt es viele Worte für das, was in Frankreich Mätresse heißt und hier eben deputy oder outside woman (Vize- bzw. externe Frau). Problematisch an Facebook ist auf Trinidad nicht so sehr, daß es komplexe multiple Beziehungen fördert, sondern daß es sie sichtbar macht. Selbst im alten Frankreich war es, wie man in den Romanen Zolas nachlesen kann, etwas ganz anderes, ob man sich diskret eine Mätresse hielt oder unter einem Dach mit ihr lebte.

friendingfriending