Paulus ist der Protagonist, einer der meist-gedeuteten und meistbekämpften Denker des Christentums. Nicht aus Selbstsicherheit und mit Weltgewandtheit hat dieser Apostel gesprochen, sondern auf dem unsicheren Grund eines Neuanfangs, angetrieben durch Widersprüche, als ein Fragender, der mit der Sprachen kämpfte und ihr Begriffe wie »Kirche« und »Wiederkunft« des Christus erst abrang. Am Scharnier zwischen Judentum und Griechentum hat Paulus entscheidende philosophisch-theologische Fragen gestellt: nach dem Subjekt, nach Zeit und Geschichte - und danach, wie Gott ins Wort kommt.

 

 

Christian Lehnerts Essay, eine expressiv-dichterische ebenso wie begrifflich scharfe Auslegung des berühmten ersten Korintherbriefes, ist ein Versuch, aus der postsäkularen Gegenwart heraus in biographischer Rekonstruktion, über Textarbeit und durch eigene Erfahrungen das zu erlauschen, was bei Paulus erstmals zur Sprache findet. Dieses Buch erkennt, gewiß nicht zu jedermanns Gefallen, einen Paulus, der über die modernen Verlusterfahrungen des Glaubens und über die Beliebigkeiten eines »Wellness«-Chistentums hinausführt ins Offene.

 

 

Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Derzeit leitet er das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands an der Universität Leipzig. Lehnerts bislang fünf Gedichtbücher erschienen im Suhrkamp Verlag. 2012 erhielt er den Hölty-Preis für Lyrik.

 

 

 

Christian Lehnert

Korinthische Brocken

Ein Essay über Paulus

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

 

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© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Michael Triegel, R 53,
Traum, 1996, Galerie Schwind Leipzig,
© VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Satz: Memminger MedienCentrum AG

 

eISBN 978-3-518-73098-0

www.suhrkamp.de

Korinthische Brocken

Ein Essay über Paulus

ΠΡΟΣ ΚΟΡΙΝΘΙΟΥΣ Α

Παυ̑λος κλητὸς ἀπόστολος Χριστου̑ Ἰησου̑ διὰ θελήματος

θεου̑ καὶ Σωσθένης ὁ ἀδελφὸς

τῇ ἐκκλησίᾳ του̑ θεου̑ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ, ἡγιασμένοις

ἐν Χριστῷ Ἰησου̑, κλητοῖς ἁγίοις, σὺν πᾶσιν τοῖς

ἐπικαλουμένοις τὸ ὄνομα του̑ κυρίου ἡμῶν Ἰησου̑ Χριστου̑

ἐν παντὶ τόπῳ, αὐτῶν καὶ ἡμῶν·

χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεου̑ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου

Ἰησου̑ Χριστου̑.

1. KAPITEL

Paulus, berufen zum Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, und Sosthenes, unser Bruder, / an die Gemeinde Gottes in Korinth, an die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen samt allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort, bei ihnen und bei uns: / Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

(1 Korinther 1,1-3)1

1

Unruhe. – Unruhe, Buchstaben wie eine abgesetzte Last. Nicht eine Minute ohne Gebet, nicht eine Minute, ohne auszurufen, was fiebrig den Worten voraus ist und sie unterhöhlt. Paulus – gehetzt von der Zeit, die noch bleibt. Schnell wirft er hin, was ihn zu dem macht, der er ist: »berufen zum Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes«. Brocken – eine Vorstellung wie ein Schrei aus großer Distanz, ein Rettungsruf, plötzlich, und man weiß gar nicht, was geschehen ist, woher die Gefahr droht: Jetzt, schnell, bevor es zu spät ist! Nicht fragen! Komm!

Wer ist Paulus? Ein Mensch hat sich verloren durch ein Ereignis,2 das wenige Jahre zurückliegt. Was geschah, traf ihn unvermittelt, gegen die Logik seines Lebens, gegen seine Überzeugungen und seine inneren Kräfte. Was geschah, hatte keinen verständlichen Zusammenhang mit dem, was vorher war und was er und was ihn getrieben hatte. Auf dem Weg nach Damaskus – eine Unterbrechung. Die Hochebene knistert wie Kohleglut, auf die ein leiser Regen fällt. Stop. Schwarzes Licht. Ich werde mit einem Toten geboren. Stop. Ich liege dem Namen, den ich höre, wie ein warmer Kiesel im Mund: »Christus Jesus«.

Was folgte (wenn es überhaupt sinnvoll ist, von einer Folge zu sprechen), griff tiefer als ein Gedächtnisverlust – es war der Relevanzverlust des Gedächtnisses. Die Vergangenheit hatte für ihn jede Bedeutung verloren, wie auch die Zukunft nur als ein kurzzeitiges Verharren erschien. Das Ereignis hat ihn nicht nur entwurzelt, es hat ihn sich selbst obsolet gemacht. Ganz neu war zu bestimmen, was das sei, ein Mensch in der Zeit, und wie er es denken könne, diesem Menschen, der er blieb und der er zugleich nicht mehr war, eine Geschichte oder Biographie zuzugestehen.

2

Vorläufiges Porträt. – Ein hagerer Mann, unscheinbar und ohne besondere Ausstrahlung. Es ist jemand, bei dem man sich nicht erinnern kann, ob er im Raum gewesen ist oder nicht, wenn die Versammlung darin mehr als zehn Menschen umfaßte. Ein Winkelhocker, ein Wandmensch. Die Stirn nervös, man ahnt eine ungute Gründlichkeit. Er kann nicht stillhalten. Unter der Haut liegt eine kaum kontrollierte Spannung. Unruhe durchzieht ihn wie ein Pfeifton, eine Übersteuerung. Einmal stand er vor Kephas, dem Felsen, wie sie Petrus auch nannten, und wollte etwas sagen. Er öffnete den Mund, weit und sehr bewußt, und es gelang ihm doch kein Wort. Die Zunge lag zwischen den Zähnen wie ein Brett. Den Kiefer abwärts, den Hals hinab bis in den Thorax lief ein Krampfen. Alle wußten, was er sagen wollte, und das war das Verstörende der Situation. Alle wußten es, auch Petrus, aber Paulus stand und zitterte und schrieb später dann auf: »Als aber Kephas nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht« (Galater 2,11) Das war die Wahrheit, und der Krampf war klarer als jedes Wort. In der Lähmung, im stummen Kampf seiner Zunge brachte Paulus nach außen, was er erlebt hatte: den Einbruch des Christus. Deutlicher konnte er sich nicht von Petrus distanzieren, als der mit klarer Autorität auf der Gültigkeit des jüdischen Gesetzes über das Christusereignis hinaus beharrte. Paulus stotterte, sprachlos im Offenen, und sein Stummsein gerann erst in der Niederschrift zum polemischen Satz: »Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes …« (Galater 3,13)

3

In Ephesos. – Hartes Licht Ioniens. Eine helle Skulptur, welche die Geradlinigkeit einer Säule und die Schönheit eines menschlichen Körpers in sich vereint. Das ferne Gesicht einer Gottheit – ein Wesen, das sich dem Stein und dem Staub entzieht, indem es sie wie eine Maske trägt, verwitterter Marmor. Eine heilkräftige Form, ganz symmetrisch. Achtundzwanzig Brüste wölben sich aus dem Oberkörper. Vom Becken abwärts verjüngt sich die Figur in klarer Statik. Die Gestalt ist überladen mit Schmuck. Auf dem Kopf trägt sie eine Mauerkrone.

Tausende schrien ihren Namen: »Groß ist die Artemis der Epheser!« Zwei Stunden schrien sie immer dieselben Worte: »Groß ist die Artemis der Epheser!« So wird es erzählt in der Apostelgeschichte (19,23-40).3 Bürger der Stadt Ephesos zogen dichtgedrängt zum Theater, sie bewegten sich aufgeregt auf engstem Raum: War es ein Tanz? War es der rituelle Auftakt zu einem Mord? Gern hätten sie einen vor sich hergetrieben, einen vor ihnen allen als den Anführer des Tanzes, den Aufrührer. Denn Artemis, die üppige Göttin, die Heilerin der Unfruchtbarkeit und des Kindstods, die Lebendige … Ihr Bild ist »vom Himmel gefallen«! (Apostelgeschichte 19,35) Und der durch die Gassen gehetzt werden müßte, hierher in die Mitte des Theaters, hatte das bestritten.

Aber die Bühne vor dem steilen Halbrund der Ränge blieb leer, und im offenen Gemäuer hallte das immer lautere Geschrei, das sich rhythmisch formierte: »Groß ist die Artemis der Epheser!« Ihr Bild ist nicht von Menschen gemacht! Seht: Was die Handwerker, die Gießer und Steinmetze tun, ist die Wiedergabe einer Offenbarung, ein Dienst mit Hammer, Meißel oder Schmelztiegel an einem Gefäß des Unfaßbaren! Die Heilstätten, die Devotionalien und die vielen Figuren der Göttin, die Tempel, das weltberühmte Artemision … Ephesos hat einen festen und unverzichtbaren Grund: Das Bild der Artemis ist »vom Himmel gefallen«! Und wie ließe sich denn ohne die mütterliche, die fruchtbare Göttin eine Ordnung der Welt beschreiben, in der auch das Wunder Platz hätte, die Heilung und die Liebe des ganzen Kosmos zur einzelnen Kreatur? Als ein Grund, zu leben und zu hoffen? Spur des göttlichen Mysteriums: Artemis! Auf dem Kopf trägt sie die Mauern der Stadt.

Innerhalb dieser Mauern, in der kleinasiatischen Metropole Ephesos, hielt sich Paulus etwa drei Jahre auf und schrieb vermutlich im Frühling 54 den ersten der beiden überlieferten Briefe an die Korinther.4 Die Gewalt der Masse und deren Erregung im Zusammenprall verschiedener religiöser Weltzugänge sollten ihn kurz darauf in Todesgefahr bringen. Denn der allein in der Mitte des tausendstimmigen Chores stehen sollte, war Paulus. Er wäre zwangsläufig stumm geblieben, niedergebrüllt, in der uralten Rolle des Einzelnen gegenüber den vielen – ähnlich dem Bock im inneren Tempelbezirk, dessen Opferblut die Wahrheit der Artemis bezeugen und die Absurdität des Unglaubens, dieser für alle bedrohlichen Verblendung, bloßstellen sollte. Blanke Knochen: erbarmungslose, erbarmende Mutter. Körperteile, Genitalien brannten schon in einer Schale. Das sollte das Voropfer der Tiere im Namen der Göttin sein.

Paulus ließ nicht gelten, was die Stadt befestigte, er stellte ihren sanktionierten Kult in Frage. Genauer: Er widersprach der bildtheologischen Grundlage dieses Kultes. Ein Ding als Anwesenheitsform einer Gottheit? Realpräsenz in Marmor oder Bronze? Diese für Paulus absurde Vorstellung bewies ihm, daß da etwas nicht stimmte, daß Kalkül und Illusion im Spiel waren. Wenn es für den Juden Paulus ein Bild Gottes gab, dann den Menschen als dessen windiges, als dessen beatmetes Geschöpf: Ecce homo! (Heute könnte man vielleicht mit Paulus sagen: Neben den naiven Betrachtern verdiente allein der Künstler am Tempel der Artemis Achtung – in seinem Scheitern, das Unsichtbare abzubilden. Als einer, der nicht weiß, was er tut. Ein Mensch: defizitäre Erscheinung und Schatten.)

Folgt man dem Bericht der Apostelgeschichte, rettete das mutige Eintreten eines Synagogenvorstehers und eines hohen Stadtbeamten die Situation. Zwei Gefährten des Paulus, Gajus und Aristarch, die man schon ergriffen und ins Theater geschleift hatte, wurden freigelassen. Die Menge lief auseinander. Paulus selbst wurde die ganze Zeit in einem Haus zurückgehalten. Wenig später beendete er seinen Aufenthalt in Ephesos und reiste nach Mazedonien weiter.

Blicken wir noch einmal auf die leere Bühne im Theater: Paulus fehlt. Er ist versteckt in einem Haus. In allem Aufruhr um seine Person bleibt er unsichtbar. Doch ihn umgibt eine dichte Atmosphäre der Erwartung. Die Apostelgeschichte hält eine wesentliche Eigenschaft des Paulus in Erinnerung: seine Fötusgestalt … als ein Schillern zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen der Zugehörigkeit zu sich selbst und zu einem anderen. War er da, dann doch im Grunde ganz verletzlich und noch nicht er selbst geworden, ein ungewisses Wesen, unstet, eine »unzeitige Geburt« (1 Korinther 15,8). Sein Lebensraum war die früheste Frühe, im Verweis auf das, was kommen wird. Paulus wirkt in der Bibel wie ein Entwurf: als der erstmals gründlich reflektierte Versuch eines Menschen, im Horizont des Christus zu leben.

4

Sosthenes. – »Paulus, berufen zum Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, und Sosthenes, unser Bruder«: Wir wissen nicht, wer Sosthenes war und warum Paulus ihn erwähnt. Der griechische Name ist so häufig, daß sich nichts daraus ableiten läßt. Die Geschichte und die Absicht, die hinter der Nennung stehen mögen, bleiben dunkel. Klarer aber wird darüber etwas anderes: Dieser Text, der in den meisten Bibelausgaben sekundäre Überschriften wie »Der erste Brief des Paulus an die Korinther« trägt, ist ein wirklicher Brief, bezogen auf eine bestimmte flüchtige Situation und auf Menschen, die vor langer Zeit lebten. In allen wissenschaftlichen Diskussionen um die literarische Integrität und die Einordnung des Textes in die antiken Konventionen5 bleibt unbestritten, daß wir keinen Aufsatz lesen, sondern den Teil eines Briefwechsels, eines durchaus auch privaten Briefwechsels, dessen andere Hälfte verloren ist. Das ist wichtig für das Verständnis. Der Brief ist eine Ausdrucksform, die heute selten geworden ist. Die eher als mündlich empfundene E-Mail, die irgendwann gelöscht wird, oder das schnelle Telefonat treten an seine Stelle. Was ist die Eigenart dieser verschwindenden Gattung? Ein Brief ist eine Mischung aus Anrede und Monolog, seine innere Kraft entfaltet er, wo er sich von dem Gegenüber löst, der eigenen Stimme folgt, aber zugleich nicht in einen anonymen Raum spricht. Der Reiz, einen Briefwechsel zu lesen, besteht in der eigentümlichen Verbindung von persönlichen Bezügen und den Momenten, in denen das Gegenüber mehr Anlaß als Gesprächspartner ist und die Gedanken eigene Wege gehen. Dann wird in Briefen mehr als in anderen literarischen Ausdrucksformen spürbar, was den Schreiber wirklich antreibt. Briefe haben zwei Naturen. Sie sind Geburten des Augenblickes, sie gehören in eine bestimmte Zeit, und sie sind doch nicht ganz in ihr zu Hause. Sie treten in Abstand zu ihren Anlässen, greifen aus und können so die Wesenszüge einer Zeit abbilden. Die Zufälligkeiten einer Situation, das Flüchtige werden mit der Herausgehobenheit von Schrift verbunden (die in der Antike auch noch viel stärker als heute empfunden wurde). Indem Paulus einen Brief schreibt, beläßt er das Gesagte ganz in seiner Zeit. Sie ist für ihn ein Gefäß, das es auszuschöpfen gilt – mit Worten. Sie ist Zeit als Rest: Denn der geschichtliche Augenblick verbindet sich in seinen Briefen mit Inhalten, die das Geschichtliche hinter sich lassen – in der Erkenntnis vom Ende der Zeit. Es ist kein Zufall, daß das Neue Testament zu einem wesentlichen Teil aus Briefen besteht. Diese Briefe führen vor Augen, was es heißt, ganz und bejahend in der Welt zu leben, ohne in ihr letztlich beheimatet zu sein. Sie sind die zentrale literarische Form für das christliche Selbstverständnis zwischen diesseitiger Zeitgenossenschaft und dem Wissen, nicht der Zeit und dieser Welt anzugehören. Der Brief im biblischen Kanon bringt das zur Abbildung: zeitlose Zeitlichkeit eines Dokuments.

Sosthenes – der Träger des Namens ist in die Vergessenheit versunken. Ein Korinther? Vielleicht eine korinthische Autorität? Doch merkwürdig lebendig werden die konkreten (wenngleich nur bruchstückhaft rekonstruierbaren) Umstände der Briefentstehung. Und das nimmt mich als Leser gefangen: Ich höre eine menschliche Stimme über den »garstigen Graben« von 2000 Jahren. Sie spricht eine fremde Sprache. Aber ich kann doch etwas verstehen. Ich kann jemanden hören. Bilder und Assoziationen werden wach. Allein der Versuch zu verstehen birgt das Verstehen in sich: Ich habe einen Brief in der Hand.

Wie intensiv, ja geradezu körperlich Paulus in seiner Sprache den korinthischen Lesern gegenübertritt, ist noch über den weiten zeitlichen und kulturellen Abstand zu spüren. Sicher lassen sich die Konzepte moderner Subjektivität und Autorenschaft nicht einfach auf Paulus übertragen, aber in seinen Briefen bemerke ich doch ein andauerndes Ringen um Sprache, sie ist geprägt von Sprachnot. Unbeholfen, mal sprudelnd, mal stammelnd, ist sein Griechisch. Es spiegelt ein Denken und Wahrnehmen im Entstehen. Man ist versucht, nicht nur nach antiker Rhetorik, sondern im modernen Sinn nach einer Poetik des Paulus zu fragen. Nicht nur, daß seine Briefe reich sind an Binnenreimen und Alliterationen. Nicht nur, daß er den semantischen Reim, den Parallelismus der semitischen Dichtung, beherrscht. Paulus ist sprachschöpferisch. Indem er schreibt, verändern sich die Worte, die er verwendet. Sie bekommen einen anderen Sinn und klingen anders, sie geraten in ganz neue Beziehungen. Hier spricht jemand von Herzen, überstürzt und wie ins unreine, er korrigiert sich und treibt dann alles wieder ins unreine weiter. Paulus vergreift sich immer wieder auch stilistisch. Bilder geraten in Schräglage, rhetorische Ketten enden im Nirgendwo. Aber dadurch verstärkt sich eher die poetische Kraft seiner Briefe. Hier sucht jemand nach Worten für etwas, das er um des Lebens selbst willen nicht verschweigen kann. Und so ist Paulus anwesend in den Zeilen, als atmete er in ihnen, ein Körper, längst vergangen, doch zu lesen entlang einer drängenden sprachlichen Spur.

5

Apostolos. – Paulus schreibt einen antiken Brief, der nach bestimmten Regeln beginnt. Zunächst wird der Absender mit seinem Titel genannt (die superscriptio oder auch intitulatio): »Paulus, berufen zum Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, und Sosthenes, unser Bruder«. Es folgt die Adresse (adscriptio): »an die Gemeinde Gottes in Korinth, an die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen samt allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort, bei ihnen und bei uns«. Schließlich der Briefgruß (salutatio): »Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!«

Paulus trägt ein Wort wie ein römisches Feldzeichen voran: apostolos, und darin liegt das innere Motiv, der Impuls für alles Folgende verborgen. Es ist dies die wesentliche Bezeichnung, die Paulus annimmt, um sich selbst zu verstehen, vorzustellen, sich zu behaupten: »Paulus, Apostel des Christus Jesus«.

Was ist das – ein Apostel? Paulus nimmt einen Titel für sich in Anspruch, dessen Wurzel in der Sprache seiner Zeit nicht ausgebreitet liegt, sondern sich wie ein Pfahl schnell in die Tiefe bohrte. Das Wort Apostel ist in der Weise, wie es Paulus versteht, genuin christlich. Das heißt: neu, fremdartig. In den Ohren der Griechen klang apostolos, auf jemanden wie Paulus angewendet, sehr merkwürdig – so sehr, daß die Lateiner es später nicht übersetzten, sondern als Fremdwort stehenließen: apostolus. Für Griechen hieß apostolos: etwas Ausgesandtes. Etwas – eine Sache, eine Flotte oder auch ein Heer. Es konnte dies ein Schriftstück, beispielsweise ein Lieferschein oder ein Reisepaß, sein – aber nie eine Person, ein Gesandter. Das Wort stand für Dinge, zumindest für Passivität, als Bezeichnung für einen dahinhetzenden Reisenden wie Paulus schien es ganz unbrauchbar.

Die Juden kannten den shalīach, den rabbinischen Gesandten. Dieses hebräische Wort könnte der Ausgangspunkt für eine semantische Verschiebung gewesen sein, die Vorlage einer griechischen Übersetzung apostolos. In der Sache ist es dem, was Paulus meint, recht nah. Und doch hat das hebräi­sche Wort bei näherem Hinsehen einen anderen Bedeu­tungsraum als der »Apostel«, als der Paulus sich sieht. Wer so genannt wurde, shalīach, war autorisiert, für einen Auftraggeber unterwegs zu sein, zeitlich begrenzt und an konkrete Aufgaben gebunden. Er übermittelte Vorschriften oder griff im Sinne des ihn sendenden Lehrers, seines Rabbis, in religiöse Rechtsstreitigkeiten ein. Das Wort hatte einen eher juristischen, formalen Klang. Verbunden mit einem wie Paulus, mußte es eher dissonant wirken. Denn Paulus war ja von keiner religiösen Instanz beauftragt, auch von keinem Menschen geschickt. Jesus von Nazareth ist er nie begegnet. Die Frage nach einer hinter ihm stehenden Autorität lief ins Leere. Paulus berief sich allein auf ein ganz unfaßliches Ereignis, das sein Wesen von Grund auf verwandelte: »Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.« (Galater 2,20) Das ist keine Aufgabe für einen shalīach, das ist eine neue Identität.

Paulus stellt sich also unter eine Bezeichnung, die Anknüpfungen schwer zuläßt. Apostel – das heißt zunächst: Ich bin nichts, was ihr kennt. Kein Prophet, kein Philosoph, kein Weiser, kein Lehrer, kein Jünger, keine Amtsperson und kein Funktionär, kein Repräsentant, kein Delegierter, kein Würdenträger. Paulus ist »berufener Apostel Christi Jesu«. Dissonanz zu einem wie auch immer gearteten Vorverständnis und sprachliche Unsicherheit werden in diesem Titel aufgerichtet zum Zeichen. Was das Wort Apostel hier bedeutet, läßt sich eben nur aus dem Ereignis herleiten, das ihm vorausgeht. Dieses Ereignis stürzte Paulus in den Selbstverlust – Apostel. Das Wort ist zunächst ein semantisches Loch, wie der blinde Fleck im Auge. Es gleicht einer verlorenen Erinnerung, von der man noch weiß, daß es sie gegeben und wie man sie gefühlt hat, aber dann ist da nur noch eine Lücke, ein bewegendes Nichts, vielleicht umgeben von einer vagen Landschaft, Bäumen, von den Resten eines Gesichtes. So auch hier: Auf dem Weg in die Stadt Damaskus … Wer war da gewesen? Paulus schreibt: »Ich lebe, doch nun nicht ich …«

Anderseits ist die Bezeichnung, die diesen Leerraum umschreibt, nicht beliebig. Paulus sieht in der Sprache eine Gabe, die ihn befähigt, sich dem Unsagbaren zu nähern – indem er antwortet, sich bewegen läßt und die Wirklichkeit nach Spuren absucht. Eine solche Antwort kann Sinn bergen, weil ihr das, was sie sagt, aus der Fremde entgegenkommt. Apostel – das Wort ist, wie das ihm zugrunde liegende Geschehen selbst, unverständlich, eine Setzung. Dem Ereignis vor Damaskus, als der Pharisäer und Christenverfolger Saulus dem Christus begegnete (wovon Paulus nie zusammenhängend erzählt, wovon wir von ihm so gut wie nichts ­Erzählbares wissen),6 wäre kein sprachlicher Ausdruck angemessen, der eine Kontinuität zu religiösen Institutionen, Mythen oder philosophischen Weltbeschreibungen suggerierte. Apostel – das heißt, so mein erster Übersetzungsversuch: der Entlassene. Jemand ist aus einer Gottesbegegnung entlassen.

In den Evangelien wird das Wort später auf den engeren Jüngerkreis beschränkt. Apostel sind dort diejenigen, die Jesus aussandte, unter den Juden zu predigen, zu heilen und Dämonen auszutreiben. Auch hier: ein sprachlicher Reflex auf einen Ruf, der einer ganz anderen Sphäre des Wirklichen entstammt, der unerklärlichen Doppelnatur des Jesus von Nazareth als »wahrer Gott« und »wahrer Mensch«7. Nach Ostern ist es der Auferstandene, der die Apostel in ihr Dasein ruft – als Zeugen der neuen Schöpfung und als Kristallisa­tionskerne einer Gemeinschaft, die nur vorbehaltlich noch in der Kontinuität der Geschichte existiert. Der Begriff hat dann in den Evangelien und vollends in der Apostelgeschichte die Tendenz, in ein Amtsverständnis zu führen. Die Zwölfzahl ist dafür ein hartes Indiz: zwölf, wie die Zahl der Stämme Israels, zwölf Repräsentanten eines neuen Gottesvolkes.

Bei Paulus begegnet uns das Wort in seiner Frühe, in seiner klaren Verwandlungskraft. Indem Paulus sagt, daß er Apostel sei (was auch für Christusgläubige damals durchaus irritierend und schon bald im Sinne einer behaupteten Amtsautorität umstritten war8), führt er einen Namen zurück auf den Moment des ersten Benennens. Etwas erscheint, was vorher noch nicht da war. Apostel: Jemand ist aus einer Gottesbegegnung entlassen (und sagt sofort noch: in dem Christus).

Zwei Modelle der Beschreibungen dieser Begegnung bieten sich an: Jemand ist in sich versunken, gefallen in einen Abgrund, über den sich das Selbst spannte und dem es nun nichts mehr entgegenhalten kann, eine zerrissene Membran. Das ist das Bild der mystischen Innerlichkeit. Oder man könnte sagen: Jemand ist getroffen worden, senkrecht aus der Höhe, wie von einem Blitz, einem Lichtstrahl, einem Geschoß. Das ist das Bild der Offenbarungstheologie. Beides kommt in der Folge auf dasselbe hinaus: auf die Wunde.

Was Paulus über seine Berufung zu sagen hat, könnte man »subjektiv« nennen9 – eine Setzung des Inneren, das sich ­isoliert und eine Tiefe erfährt, welche die Reflexionskraft übersteigt. So schreibt Paulus in seinem zweiten Brief an die Korinther von einem Licht, das aufschien wie am ersten Schöpfungstag: »Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben …« (2 Korinther 4,6) War da ein Leuchten im Inneren, ein Glutkern? Oder eine Strahlung von außen? Paulus ist etwas widerfahren – woher auch immer. Angesichts des Ereignisses wird die Unterscheidung von außen und innen schal, und das Wortpaar subjektiv/objektiv verliert seine allgemeine Deutungskraft. Ihm ist etwas widerfahren … Und auch das ist wieder nur eine vage Annäherung, denn weder »ihm« (Wer war das vorher? Wer ist es nachher?) noch »etwas« (Was sollte es sein, das man nicht darlegen kann?) geben wieder, worin das Erschrecken bestand. Eine Verschmelzung, in der eins im anderen verlischt? Ein Sterben? Ein Auferstehen? »Und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts«, heißt es in der Apostelgeschichte. »Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus« (Apostelgeschichte 9,8). Gnade, Dasein aus dem Nichts. Paulus wird sich seiner bewußt als einer »unzeitigen Geburt« (1 Korinther 15,8).

6

Spur. – Erinnert sei an Mose. Unterhalb des Berges Sinai auf der weiten Ebene der Vorbereitung10 warteten die Israeliten auf seine Rückkehr. Mose war auf den Berg gestiegen, um Gott zu begegnen, und das Massiv lag den Flüchtlingen aus Ägypten fern und abstrakt vor Augen. Gestein, Geröll, das Volk wartete, und warte zu lange. Ein gegossenes Stierbild trat für das ein, was dort ins Ungewisse entzogen war. Eine Sehnsuchtsfigur, goldenes Zeichen: Er wird wiederkommen, er wird uns den Gott mitbringen.

Gott, der eine und unsagbare, sprach in seinem Zorn über das Götzenbild, das ihn in den Horizont des Menschen holen sollte, eine unheimliche Möglichkeit aus. Mit ihr würde das Rad der Zeit bis an den Rand der Dunkelheit vor der Schöpfung zurückgedreht: Gott könnte das ganze Volk töten und sich ein neues schaffen, dessen Stammvater dann Mose hieße (Exodus 32,10). Ein neues Gottesvolk – dieser Gedanke lebte als untergründige Irritation in Israel fort, als Grenzaussage über den souveränen, wandernden Gott aus der Wüste: »Wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« (Exodus 33,19) Dieser Satz ist der stets mitgedachte Gegenpol zur Erwählungsgewißheit im Judentum, ein dunkler Schatten der Thora: Alles könnte ganz anders sein.

Mose aber bittet, fleht für das Volk. Er bittet um die Wahrheit des Vergangenen und den Sinn der Verheißung, um die Wirklichkeit des brennenden Dornbuschs wie des Aufbruchs aus Ägypten, er bittet um Kontinuität – um eine Möglichkeit, die er als Gnade benennt: Geschichte.

Seine Fürbitte wird erhört, und eine Ungeheuerlichkeit folgt: »Laß mich deine Herrlichkeit sehen!« (Exodus 33,18) Was ist das für ein Wunsch, den Mose da ausspricht? Eben war deutlich geworden, daß nichts Menschliches hineinreicht in diesen Gott, der sich »Ich werde sein, der ich sein werde« (Exodus 3,14) nannte, daß selbst die Gestalt der Geschichte und jede menschliche Identität in ihm widerrufbar seien, daß Schöpfung und Zerstörung schweigend verschwimmen können, geschehen und verschwimmen in dem unendlichen, dem ewigen Gott. Und jetzt diese Bitte? »Laß mich deine Herrlichkeit sehen«?

Der Sinn dieser scheinbaren Verwechslung der Ebenen, die so bedrohlich wirkt, wird durch Gottes Antwort freigelegt. Gott, der Verborgene, dessen Angesicht zu sehen kein Lebender ertragen würde, stellt Mose in eine Felskluft im Gebirge und hält, wie es im Buch Exodus heißt, seine Hand über ihn. Dann erst will er vorüberziehen, und Mose darf ihm hinterhersehen (Exodus 33,22-23).

Das also ist der Kern der Bitte: die Spur. Gott als Spur – sichtbare Spur des Unsichtbaren, sagbare Spur des Unsagbaren. Gott sollte nicht selbst erscheinen, wie wäre das auch denkbar? In einem solchen Ansinnen würde offensichtlich der Tod atmen. Nein, Mose bittet um etwas anderes: Gott möge gnädig seine Spur hinterlassen, religio, das Gesetz, den Bund, die Heilsgeschichte … Er solle jene Kontinuität bestätigen, deren Widerruf eben als Möglichkeit am Horizont erschienen war. Gott möge eine Spur legen, die ihn identifizierbar und annehmbar mache. Mose bringt auf diese Weise seine vorherige Fürbitte auf den Punkt: Laß uns deine Spur erkennen!

Apostel: Jemand ist aus einer Gottesbegegnung entlassen. Paulus wird, anders als Mose, von allem völlig überrascht. Keine Bitte, keine Frage, keine Sehnsucht, kein Verlangen hätten vorbereiten können, was mit ihm auf dem Weg nach Damaskus geschah. Wie eine Spur dazu in eine Beziehung treten könnte, ist ganz offen. Paulus steht wie Mose vor Gott. Und eine Kontinuität? Noch ist nichts davon zu sehen – nur ein Mensch, der verloschen und zugleich ins Leben gerufen ist: »Paulus, berufen zum Apostel Christi Jesu«.

Wie Mose beginnt Paulus angesichts des Ungeheuerlichen zu beten. Bitte und Fürbitte sollen Jahre währen: »Paulus, berufener Apostel Christi Jesu«. Diese Worte sagen im Grunde nichts aus, sondern bitten darum, daß etwas ausgesagt, daß etwas sagbar werde. Apostel – ein Gebet: Sei Spur, mein Gott! Ein Stoßgebet, verdichtet in einer Benennung, in einem Atemzug: »Apostel Christi Jesu«. Der Versuch, nach dem Damaskusereignis wieder eine Sprache zu finden, gründet im Gebet. Die sprachliche Entfaltung der paulinischen Theologie ist weniger eine Verständnisleistung als eine Fürbitte: Sei Spur, erwähle Volk, mein Gott!

Die Fürbitte des Paulus ragt ins Offene. Der Beter hat keine Vorstellung mehr von einem Adressaten. Auch der ist erst Gegenstand der Bitte. Nicht ein Hauch von Magie, von Zugriff in die Sphäre des Heiligen ist übriggeblieben. Alles ist offen, und in diese Offenheit hinein betet Paulus: »berufener Apostel Christi Jesu«. In solchem Gebet, in der Behauptung seiner Person als Betender in »unzeitiger Geburt«, stellt sich Paulus am Anfang seines Briefes den Korinthern vor und fügt folgerichtig an: »durch den Willen Gottes«. Dieser Zusatz steht im Grunde vor jeder weiteren Aussage des Briefes. Deutlich wird das später in der Auseinandersetzung um das Zungenreden und dessen Deutung. Das Beten in Zungen ist für Paulus eine Urform theologischen Sprechens, denn sein Sinn ist allein geglaubt, allein geschenkt – eine Sprache in der Vertikalen, sinnlose Laute als Manifestationen eines Geheimnisses, »durch den Willen Gottes«.

7

Schnell weiter. – Nicht eine Minute ohne Gebet, nicht eine Minute, ohne auszurufen, was fiebrig den Worten voraus ist und sie unterhöhlt. »Apostel Christi Jesu« – mit diesem ersten Genitiv hangelt Paulus über einen Kraterrand, er steigt in den Raum der Religionsgeschichte. Christus ist das griechische Äquivalent des hebräischen Wortes Messias. Paulus spricht in den beiden Worten »Christus Jesus« das früheste christliche Bekenntnis nach: Jesus ist der Messias. Also: Jesus ist der kommende Erlöser, wörtlich: der Gesalbte, gesalbter König der Endzeit. Damit hat Paulus, der Entlassene aus der Gottesbegegnung, einen ersten befestigten Grund erreicht – nicht mehr als eine unsichere Scholle, aber sie trägt Spuren. Denen kann er folgen. Mit wenigen Worten markiert er den Raum, in den er sich nun fortbewegen wird: »Gemeinde Gottes in Korinth … berufene Heilige …« In einem tranceartigen Vorgriff, kaum geschützt durch die Übernahme einer Konvention, holt Paulus weit aus, benennt die Energien seiner Unruhe und wirft dies doch nur bruchstückhaft hin: »Gnade mit euch und Friede …« Schnell weiter, »die Zeit ist kurz« (1 Korinther 7,29) – das ist die Gnade, das Leben im Bewußtsein der Frist und in der Wirklichkeit eines »anderen Glanzes« (1 Korinther 15,41): blaue Stunde, die Stille, wenn die Dinge aus der Nacht tauchen und sichtbar werden. Und Friede: jene bejahende Entsprechung der theologischen Negation, eins in einem, eins … »Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß. Wenn jemand den Herrn nicht liebhat, der sei verflucht. Maranata!« (1 Korinther 16,21-22)

Zwischen den ersten Worten und diesen letzten, einem wohl in großen unsicheren Majuskeln gezeichneten Schriftzug am Ende des Briefes, spannt sich ein Bogen – er ist nicht ebenmäßig, nicht formschön, er ist hart gespannt. Sein innerer Halt ist ein andauerndes Ringen um Sprache. Paulus, der Stotterer im Geist, sucht nach Worten …

8

Maranata. – Weil selbst ein Satz wie »Ich weiß nicht, wer ich eigentlich bin« die Unsicherheit kaum wiedergibt, die mir die Zeit und mein Bewußtsein darin bedeuten: Bin ich in den fragilen Konstruktionen meiner selbst denn anderes als ein Bittender? Wie der Fluß und sein unsichtbarer Raum in der Tiefe unter den Auen, Sand und Kies durchströmend, oder der Flug der Mäusebussarde über den Elbwiesen Bitten sind? Darum, daß etwas geschähe, das wahr und beständig macht?

Ich lese wieder und wieder in dem Brief an die Korinther, lese ihn, als sei er auch an mich adressiert – je öfter, um so mehr wächst die Bereitschaft zu verstehen, um so genauer frage ich nach Wortbedeutungen und Wirkungsgeschichten, folge Assoziationen, und selbst Abschweifungen haben plötzlich ihren eigenen Sinn. Ich schaue auf, und deutlicher erscheint mir der Brief dann auf einmal wirklich als Offenbarung, die an mir, dem Leser, geschieht – eine, die keine Informationen aus einem Jenseits vermittelt, keine Kunde vom anderen Ufer, vielmehr eröffnet sie erst die Vorstellung, daß es ein anderes Ufer geben könnte, noch verborgen im dichten Nebel über dem Fluß, als Ahnung der Strömungsform meines Lebens zwischen Ufern. Eine Verschiebung des Blicks: Die Augen werden aufgetan, sie sehen nichts anderes als bisher, nur sehen sie es anders. Und so lese ich und schreibe das Lesen auf, lese den ersten der beiden Briefe des Paulus an die Korinther. Die Zeile, der fließende Text sucht seine Mündung: »Maranata!« Diese früheste liturgische Formel, ein aramäischer Gebetsruf bedeutet: Unser Herr, komm!

τῇ ἐκκλησίᾳ του̑ θεου̑ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ, ἡγιασμένοις

ἐν Χριστῷ Ἰησου̑, κλητοῖς ἁγίοις, σὺν πᾶσιν τοῖς

ἐπικαλουμένοις τὸ ὄνομα του̑ κυρίου ἡμῶν Ἰησου̑ Χριστου̑

ἐν παντὶ τόπῳ, αὐτῶν καὶ ἡμῶν·

χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεου̑ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου

Ἰησου̑ Χριστου̑.

Εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου πάντοτε περὶ ὑμῶν ἐπὶ τῇ χάριτι του̑

θεου̑ τῇ δοθείσῃ ὑμῖν ἐν Χριστῷ Ἰησου̑,

ὅτι ἐν παντὶ ἐπλουτίσθητε ἐν αὐτῷ, ἐν παντὶ λόγῳ καὶ πάσῃ

γνώσει,

καθὼς τὸ μαρτύριον του̑ Χριστου̑ ἐβεβαιώθη ἐν ὑμῖν,

ὥστε ὑμᾶς μὴ ὑστερεῖσθαι ἐν μηδενὶ χαρίσματι

ἀπεκδεχομένους τὴν ἀποκάλυψιν του̑ κυρίου ἡμῶν Ἰησου̑

Χριστου̑·

ὃς καὶ βεβαιώσει ὑμᾶς ἕως τέλους ἀνεγκλήτους ἐν τῇ ἡμέρᾳ

του̑ κυρίου ἡμῶν Ἰησου̑ Χριστου̑.

πιστὸς ὁ θεός, δι’ οὗ ἐκλήθητε εἰς κοινωνίαν του̑ υἱου̑ αὐτου̑

Ἰησου̑ Χριστου̑ του̑ κυρίου ἡμῶν.