Gerhard Leitner

Geschichte Australiens

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlagabbildung: Sydney Opera House

© David Eastley / Alamy Stock Photo

Uta Uta Tjangala, Yumari (1981) – estate of the artist licensed by Aboriginal Artists Agency Ltd

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2016

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960989-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011066-9

www.reclam.de

Inhalt

Perspektiven auf Australiens Geschichte

2 Die Ahnen der Aborigines

Erstbesiedlung

Das Entstehen von Gesellschaften

Die zweite Entdeckung der terra australis

4 Warum Australien?

5 Die frühe Phase der Kolonie bis 1810

6 Lachlan Macquarie gegen Thomas Bigge

7 Beginnender Wohlstand (1821–1850)

Die Erkundung des Kontinents

Expansion und Entwicklung

Victoria, Süd- und Westaustralien

Der Weg zur Selbstverwaltung

Demografische und ethnische Strukturen

Auswirkungen auf die Aborigines

Goldrausch, Reichtum, Reform und Krise

Gesellschaftliche Institutionen

Bergbau

Das Ende der Sträflingskolonie

Frühe Demokratiebewegung

Die Bevölkerungsvielfalt

Rassismus und »weißes« Australien

Boom und Krise

Die »letzte Meile« zum Commonwealth

Praktische Probleme

Staat und Nation: australische Identität

Politische Infrastruktur: Parteienlandschaft

10 Von der Unabhängigkeit zum Zweiten Weltkrieg

Frühe Unabhängigkeit

Australien im Krieg

Der Erste Weltkrieg und die Folgen

Der politische Umgang mit den Aborigines

Die Jahre zwischen den Kriegen

11 Der Zweite Weltkrieg

12 Wiederaufbau und Wohlstand (1945–1972)

Der Kalte Krieg

Schattierungen des australischen ›Weiß‹

Von der Segregation zur Staatsbürgerschaft

Die Baby Boomers

13 Gough Whitlams Dynamik (1972–1975)

14 Fraser, Hawke und Keating

Der Wandel im Innern

Geopolitische Neuorientierung

15 Das neue Jahrtausend

Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

Stolen Generations und das Sorry

Asylanten, die unerwünschten Menschen

Anmerkungen

Zeittafel

Liste der politischen Parteien und Premierminister

Literaturhinweise

Register

Dank

Zum Autor

1 Perspektiven auf Australiens Geschichte

»Australien ist ein Land der Vielfalt … Eine Geschichte der Kultur der Aborigines von über 40 000 Jahren wurde in den vergangenen 200 Jahren von den Kulturen Europas, Asiens, Nord- und Südamerikas und des Nahen Ostens überlagert. Die Träger dieser Kulturen haben … ihre Essgewohnheiten, ihre Feste und viele andere Traditionen und eine Vielzahl von Sprachen mitgebracht.«1 Australiens Vielfalt erscheint tief in seiner Geschichte verankert. Heute will die australische Gesellschaft nicht mehr nur ein Mosaik nebeneinander existierender ethnischer Gruppen sein, sondern strebt gemeinsame, für alle bindende Werte an. Die Zustimmung zu dieser Werteorientierung fordert der Staat von Zuwanderern mit der Unterschrift unter die Einbürgerung ein. Australien steht für eine offene, erfolgreiche Gesellschaft, die eher schwach nach Herkunft oder Alter differenziert und als Mittelmacht in der asiatisch-pazifischen Region ein wichtiger globaler Partner ist. Es steht aber auch für eine ausgrenzende, ja brutal zu nennende Asylpolitik, die die jetzige Regierung sogar der Europäischen Union als nachahmenswert empfiehlt. Offenheit, Rassismus und Asylpolitik existieren weiterhin nebeneinander.

Die Mehrheit der Leser dürfte diese Charakterisierung überraschen, wenn sie mit der heutigen Vielfalt vertraut und über die ›weiße‹ Geschichte informiert sind. Das Bild einer gewachsenen Vielfalt deutet aber genau auf den neuralgischen Punkt: Die heutige Geschichtsschreibung versucht bewusst, die auf Rasse und Ethnie basierende interne Trennung aufzuheben und eben die von Michael Clyne und Sandra Kipp erwähnte Vielfalt zu betonen. In der Geschichtsschreibung kann das eindringlich beobachtet werden, wenn man ältere Werke wie die 1963 zum ersten Mal erschienene Short History of Australia von Manning Clark mit der Cambridge History of Australia von 2013 vergleicht. Das Bild der Multikulturalität war nicht immer schon gegeben, es war und ist das Ergebnis einer Öffnung der Perspektive in jüngerer Zeit – und es ist immer umstritten, muss stets neu erkämpft werden.

Die heutige Geschichtsschreibung zeigt eine weitere Neuerung in der Nationalgeschichte: Sie bettet nationale oder geografisch beschränkte Entwicklungen ein in großregionale, ja globale Zusammenhänge. Marilyn Lake meint, die Geschichte Australiens sei traditionell so geschrieben worden, als wäre seine geografische Lage »am Rande von Asien und als Nachbar von Ozeanien weitgehend irrelevant für … die Bildung einer Nation«. Auch die Reduktion der australischen Geschichte auf die Achse zwischen Australien und Großbritannien ist eine – sehr beschränkte – Antwort auf die geografische Distanz. Geoffrey Blainey hat das in seiner Geschichte des Kontinents als tyranny of distance bezeichnet.2 Entfernung sei das prägende politische, wirtschaftliche und kulturelle Element. Bis in die 1970er Jahre galten Australien und Neuseeland als isolierte britische Außenposten. Das änderte erst die neuere Geschichtsschreibung, die den Kontinent in einem »transnationalen Kontext« verortet, also in einem Umfeld, in dem die Teile des Britischen Empire untereinander und mit der Welt agierten und sich wechselseitig beeinflussten. Eine solche Perspektive setzt sich in den Wissenschaften und der Publizistik durch. Stuart MacIntyre beschreibt die Vorgeschichte der Erstbesiedlung des Kontinents als Folge der Wanderungen in Asien, als eine frühe Völkerwanderung.3 Was die koloniale Zweitbesiedlung anbelangt, mag man es fast als Pech der Holländer bezeichnen, dass ihre Schiffe von Batavia, dem heutigen Jakarta, aus nicht nach Süden abgetrieben wurden. Sie verpassten den Kontinent ebenso wie Captain Cook auf seiner zweiten Reise 1772–75, als er viel zu weit südlich und selbst noch an Tasmanien vorbeisegelte. Die Sträflingsgeschichte Australiens wird heute eingebettet in die weltweiten kolonialen Zusammenhänge seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Diese Zusammenhänge verbanden Australien mit Amerika, Asien und selbst Afrika.4

Eine geschichtsphilosophische Debatte wäre hier fehl am Platz, wohl aber ist es für den Leser interessant zu wissen, weshalb so bekannte Schlagworte wie »White Australia« nur vor einem asiatischen Hintergrund zu verstehen sind. Die Wendung hin zu den Vereinigten Staaten wurde bis in den Zweiten Weltkrieg hinein als Illoyalität Großbritannien gegenüber verstanden. Ein besonderes Problem ist es, die Geschichte der Aborigines in die des weißen Australien zu integrieren. Ihre Geschichte vor der Okkupation durch die weißen Siedler kann unproblematisch in eigenständigen Kapiteln untergebracht werden. Aber die Phaseneinteilung nach der Okkupation läuft nicht parallel zur »weißen« Geschichte. Wenn man ihre Rolle in der geschichtlichen Entwicklung zum Maßstab nimmt, könnte man manches aus einer Perspektive der Aneignung von agency schreiben: Die Aborigines waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hauptsächlich Objekte der Handlungen anderer und sind erst allmählich, von den 1920er Jahren an, zu Handelnden geworden und agieren nun selbstbewusst als Träger alter Kulturen, die ihre wirtschaftlichen und politischen Aspirationen selbst und teils erfolgreich in die Hand nehmen und sich auf vielfältige Weise artikulieren. Das ist zwar eine Vereinfachung, aber sie ist durchaus gerechtfertigt, und auch die neuere Geschichtsschreibung, wie eben die Cambridge History of Australia, greift sie auf. Letzere erwähnt die gelegentlich gewalttätigen Reaktionen auf die Okkupation. Beispielhaft kann man auf die Black Wars seit Beginn des 19. Jahrhunderts verweisen. Sie zeigen, dass die Rolle der Aborigines als aktiv Handelnde durchaus eine längere Vorgeschichte hat, als es mit starrem Blick aufs 20. Jahrhundert erscheinen mag.5

Dieses Buch folgt solchen Entwicklungen. Es ist keine Nationalgeschichte, die Australiens Geschichte als Abnabelung vom britischen Mutterland versteht. Es betont den Kontakt und die Interaktion mit Asien und den Vereinigten Staaten. Es schreitet in größeren Phasen chronologisch voran, berücksichtigt und integriert übergreifende Entwicklungen thematisch gebündelt.

2 Die Ahnen der Aborigines

Die »Neue Welt« hatte einigen europäischen Ländern wie Spanien und Portugal enormen Reichtum beschert. Sie war von Anfang an ein profitables Ziel. Im Gegensatz dazu hatte es Australien schwer. Schon die frühen Entdecker hatten dort wenig gefunden, was zum Verbleib oder zur Wiederkehr eingeladen hätte. So blieb der Kontinent bis Ende des 18. Jahrhunderts von der Kolonisation verschont. Auch nachdem 1788 der Moment gekommen war, blieb Australien für das Mutterland ein Ort, um Probleme abzuladen. Aus der Rückschau kann der Fünfte Kontinent als der am meisten unterschätzte Kontinent bezeichnet werden. Den Reichtum an Bodenschätzen konnte man nicht erahnen. Er sollte Australien später zu einem der reichsten Länder der Welt machen.

Erstbesiedlung

Die Besiedlung des Kontinents wirft viele Fragen auf. In welchem Zeitraum kam es zur Besiedlung? Woher kamen die Menschen? Welche Wege nutzten sie? Welche Techniken standen ihnen zur Verfügung? Was waren ihre Motive? Auf welchen Wegen breiteten sie sich auf dem Kontinent aus? Wie entwickelten sich die materiellen und geistigen Kulturen? Das sind Fragen, die viele Wissenschaften beschäftigen. Das multi-disziplinäre Zusammenspiel verschiedener Disziplinen bietet faszinierende Einsichten.

Die Tiefseegrenze zwischen Asien und Australien, die sogenannte Wallacea-Linie, musste überwunden werden, ehe Australien besiedelt werden konnte.1 Sie stellte ein erhebliches Hindernis dar. Hypothesen über die Wege, die die Menschen genommen haben könnten, gehen auf den amerikanischen Anthropologen Joseph Birdsell zurück.2 Er vermutete eine nördliche Route, die in mehreren Etappen und über lange Zeiträume hinweg über Borneo, Sulawesi und Neuguinea nach Sahul führte. An den Zwischenstationen hätten sich adäquate Lebensbedingungen geboten. Dass dabei die Höhe des Meeresspiegels eine relativ geringe Rolle spielte, ist plausibel, denn die Inseln lagen nahe beieinander, so dass auch eine Rückmigration denkbar war. In Neuguinea hätten sich die Wege getrennt. Eine Gruppe wanderte nördlich des zentralen Gebirgsmassivs, eine andere südlich davon. Nur die zweite Gruppe hätte die Möglichkeit gehabt, die Region von Cape York zu erreichen. Birdsell dachte jedoch auch an eine zweite, südliche Route, die relativ geradlinig von den Inseln Timor oder Flores aus in die Kimberley-Region im Nordwesten des Kontinents verlaufen wäre. Sie stellte größere Anforderungen an seetüchtige Schiffe, da die Distanz auf offener See selbst bei niedrigem Meeresspiegel länger war. Sollten beide Routen befahren worden sein, müsste man von zwei Siedlungsphasen ausgehen, wofür es allerdings wenig Belege gibt. Welche der beiden Routen nach Australien tatsächlich eingeschlagen wurde, ist ungeklärt, aber die Evidenz und theoretische Berechnungen über die benötigte Zeit und die erforderliche Zahl von Siedlern, um die Fortpflanzung zu sichern, sprechen für die nördliche Route.

Die Distanz war nicht das alles Entscheidende: Nach Birdsell sei es auch auf Technologie und kognitive Fähigkeiten angekommen. Gingen die Menschen zielbewusst vor? War es Abenteuerlust, oder wurde der erste Kontakt zufällig, etwa von Schiffbrüchigen angeknüpft? Welche Rolle spielte die Planung? Warum fand danach keine Migration mehr statt? Die neuere Forschung verwirft ›minimalistische‹ Annahmen, die die Besiedlung auf einen bloßen Zufall zurückführen. Um eine überlebensfähige Population zu erreichen, mussten Folgemigrationen ausgelöst werden, um ein entferntes und unbekanntes Ziel zu besiedeln. Jüngere Forschungen meinen, dass sich mehrere Clans einig gewesen sein mussten, die Wanderung anzutreten.

Rätselhaft ist die Frage nach dem Ursprung der Menschen auf dem australischen Kontinent. Der homo erectus hat den Sprung nach Sahul nicht vollzogen. Erst der homo sapiens oder homo sapiens sapiens hat diese Leistung vollbracht. Die neuere genetische Forschung zeigt aber eine erstaunliche Vielfalt, die es unwahrscheinlich macht, dass es nur eine einzige Ausgangspopulation gegeben hat. Der homo sapiens hätte sich mit anderen Hominiden kreuzen können. Zur Klärung dieser Frage sind archäologische Untersuchungen entscheidend. Datierungen sind insgesamt unpräzise, aber einige Messmethoden wie die Radiokarbondatierung und DNA-Analysen stärken die Vermutung, dass die Besiedlung etwas näher an unsere Zeit heranrückt. Eine DNA-Untersuchung einer Haarlocke aus Westaustralien zeigte, dass die Vorfahren der Aborigines dort vor mindestens 24 000 Jahren eingewandert sein müssen.3 Eine andere Analyse deutete ein Alter von 50 000 Jahren an: Sicher sei nach Ansicht des Evolutionsbiologen Darren Curnoe von der Universität New South Wales, dass die »Australier indigener Abstammung zu einer der ältesten lebenden Gruppen von Menschen außerhalb Afrikas gehörten.«

In Malakunanja II, einer Höhle in Arnhem Land im Nordwesten des Kontinents, fand man 1973 Felsenmalereien und Anzeichen einer kontinuierlichen menschlichen Präsenz. Die Felsenmalereien und Holzkohle wurden auf ein Alter von mehr als 18 000 Jahren geschätzt, was relativ jung ist. Funde in einer Tiefe von über zwei Metern deuteten aber auf ein höheres Alter, dessen Präzisierung stark von der Messmethode abhängt. Archäologen gehen davon aus, dass manche Funde bis zu 60 000 Jahre alt sein könnten. Allerdings gibt es Stimmen, die die Datierung eher in die Nähe von 40 000 Jahren rücken. Dies hängt unter anderem mit der Frage zusammen, wie tief materielle Überreste ins Erdreich gedrückt worden sein könnten, als Menschen oder andere Lebewesen darüberliefen und das Absacken verursachten.

Wichtige Funde wurden am Lake Mungo im Westen von Neusüdwales gemacht, die mit Felsenmalereien in Lascaux oder dem Great Rift Valley, das sich von Syrien bis Mosambik erstreckt, verglichen werden können. Bis vor 20 000 Jahren war der Lake Mungo ein See. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung war er etwa 20 km lang, 10 km breit und bis zu 10 m tief und von einer üppigen Fauna und Flora umgeben. Es gibt Anzeichen menschlicher Nutzung über einen Zeitraum von 40 000 bis 10 000 v. Chr. Vor etwa 10 000 Jahren versandete er und hinterließ Spuren seines Umfangs, eine Sanddüne und das, was Wissenschaft und Öffentlichkeit heute fasziniert: je ein fast völlig erhaltenes weibliches und männliches Skelett, Mungo Man und Mungo Lady. Sie könnten ein Alter von etwa 50 000 bis 45 000 Jahren haben.4

Solche Funde lassen vermuten, dass der Wanderungsansporn hauptsächlich in dem Druck bestand, den das Anwachsen der Clans und der Mangel an Ressourcen ausgelöst haben muss. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen über Neuguinea kamen, wäre die Siedlungsrichtung im Wesentlichen von Nordost nach Westen und Süden gegangen, wobei Flüsse, Berge, Wüsten oder andere topografische Faktoren Richtungsänderungen herbeigeführt hätten. Eine Variante dieser These ist, dass sich dauerhaft bewohnte Siedlungszentren, sogenannte refuges, in der Nähe von Wasservorräten gebildet hätten. Eine weitere ist, dass Wüstenregionen wie die Nullabor im Südwesten oder die Halbwüsten im Zentrum spät und dünn besiedelt wurden. Angesichts der Siedlungstiefe war der Klimawandel ein entscheidender Faktor, der die Nutzbarkeit des Landes, aber auch die denkbaren Migrationen beeinflusste. Peter Sutton deutet auf ein anderes Phänomen hin, dass nämlich die Expansion nie »abgeschlossen« gewesen sei. So seien die Träger der Western-Desert-Sprache erst vor etwa 3000 Jahren ins Zentrum Australiens gewandert, und es gibt Belege dafür, dass diese Wanderungsbewegung zu Beginn der Kolonisation noch immer nicht abgeschlossen war.5

Richtung und Geschwindigkeit der Expansion wurden wesentlich von den zur Verfügung stehenden Lebensmittelressourcen beeinflusst. Zentral ist hier das Verschwinden der Megafauna, die in Australien über einen Zeitraum von über 2 Millionen Jahren bis vor etwa 10 000 Jahren lebte. Von ihr haben nur das rote Känguru, der Elefant, das Nashorn und das Nilpferd überlebt. Welche Rolle spielte dabei die zunehmende Trockenheit, welche der Mensch? Die These, der Mensch sei allein für diese Katastrophe verantwortlich, war immer auf Skepsis gestoßen, da die Tiere zu groß für ihre direkte Bejagung und die Clans der Menschen für die Großwildjagd zu klein waren. Wenn also die menschliche Nahrungsgewinnung als Ursache für das Aussterben der Tierarten fast auszuschließen ist, bleibt als menschlicher Einfluss die Brandrodung, die die Vorfahren der Aborigines praktizierten. Manches spricht dafür, dass das Zusammenspiel von Klimawandel und Jagdmethoden den Prozess beschleunigt haben könnte. Beweise für die Rolle der Trockenheit wurden von Forschern der Queensland University of Technology gefunden. Gilbert Price weist nach, dass die Kängurufossilien der dort gefundenen Megafauna im Pleistozän Anzeichen von Trockenheitsstress zum Todeszeitpunkt aufweisen: Er meint, das sei »der erste Beweis dafür, dass die Kängurus der Megafauna von einer Kette von katastrophalen Trockenheiten heimgesucht wurden. Und das galt auch für die Riesenwombats, die so groß wie ein Kraftfahrzeug wurden, Kängurus, die 2,5 m groß waren, oder Riesenemus und Riesengoannas.«6

So zeigt die Forschung ein durchaus noch unfertiges Bild der Ausbreitung des Menschen auf dem australischen Kontinent und seiner Interaktion mit der Topografie, dem Klima und der Fauna und Flora.

Das Entstehen von Gesellschaften

Während der Ausbreitung des Menschen auf dem Kontinent haben sich Kulturen und eine Religion entwickelt, die das materielle und geistige Leben prägten und die Welt erschlossen. Besonders wichtig wurde für die jüngere Zeit die Art und Weise, wie die Menschen Clans bildeten, die die interne Ordnung der Gesellschaft regelten und einen dauerhaften Anspruch auf Land – den Ursprung der späteren Landrechte – definierten. Landbesitz war den Aborigines zum Zeitpunkt der europäischen ›Besiedlung‹ oder, wie sie oft aus ihrer eigenen Perspektive heraus genannt wurde, der ›Invasion‹ aberkannt worden. Aborigines wurden als Halbnomaden ohne Anspruch auf Land definiert, da sie es nicht bebauten. Die sogenannte Terra-Nullius-Doktrin, der zufolge das Land ›besitzlos‹ und offen für die Besiedlung war, galt in Australien ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Frage, welche Art oder Arten von Gesellschaft Aborigines gebildet hatten, die nun dem Untergang geweiht wurden, war ein Randthema, das vor allem von Missionaren und Einzelpersonen, im Lauf des 19. Jahrhunderts zum Beispiel von Anthropologen, debattiert wurde und erst seit dem Landrechtsurteil im »Mabo«-Fall 1992 erhebliche Bedeutung erlangte.

Eine Frage, die unabhängig davon schon lange untersucht wurde, ist die nach dem Alter der materiellen Kultur. Die Archäologie entdeckte geschliffene Steinwerkzeuge, rituelle Farben wie Ocker oder die Felsenmalerei, die ein für die Steinzeit hohes Maß an Kunstfertigkeit andeuten, aber einem Vergleich mit Kulturen in anderen Weltregionen nicht standhalten können. Sesshafte Gesellschaften, die Landwirtschaft oder Viehzucht betrieben, entstanden nicht, auch wenn man Ansätze einer Landnutzung erkennen kann. So weiß man vom systematischen Sammeln von Früchten, von der Brandrodung zum Zweck des Jagens. Erklärt wird das Fehlen der Landwirtschaft damit, dass trotz des Migrationsdrucks immer ausreichend Nahrung vorhanden gewesen sei. Auch seien Landwirtschaft und Sesshaftigkeit wegen der wechselnden Trocken- und Nässeperioden schwierig gewesen. All das mag richtig sein. Warum aber entwickelte sich Sesshaftigkeit nicht in den Regenwäldern? Oder am Lake Mungo, wo über Jahrtausende Landwirtschaft möglich war? Um ein Beispiel zu nennen: In Papua-Neuguinea gab es schon um 9000 v. Chr. Sesshaftigkeit und Formen des Landbaus. Die Landnutzung muss möglich gewesen sein, und man vermutet, dass Aborigines diese Lebensform bewusst nicht wählten.

Die Literatur, die eine Erstbesiedlung von Südostasien aus annimmt, spricht von kleinen Gruppen in der Größe von zwanzig Menschen und etwas mehr. Die Forschung zu den Nachfahren der »Siedler« verwendet eine Vielzahl von Begriffen wie Stamm (tribe), Clan (clan), aber auch estate group, eine an einen Landstrich gebundene Gruppe. Die Klärung dieser Begriffe geht über das Thema einer Geschichte Australiens hinaus und wird u. a. in Suttons ethnografischer Studie zu den Grundlagen der Landrechtsdebatten, den native titles, eingehend behandelt.7 Wichtig erscheint, dass sich Gruppen nach matrilinearer oder patrilinearer Abstammung definierten. Intern waren und sind traditionelle Gruppen streng nach dem Geschlecht unterteilt, was sich auf die typische Tätigkeit, die Kinderaufzucht, die Wahl des Lebenspartners und die religiös bestimmte Rolle in der Gruppe auswirkt. Jeder ist nach der Art der Verwandtschaft und dem Verwandtschaftsgrad in seiner sozialen Rolle bestimmt, und die Sprachen hatten entsprechende Begriffe. Um einige Beispiele aus Gurrutu, einer Sprache aus Zentralaustralien, zu geben:8 Diese Sprache kennt mehrere Begriffe für Frauen, die eine Mutterbeziehung zu einem Kind haben können, also die Mutter selbst, dann die Schwester(n) der Mutter, also die Tante(n), und einige andere. Väterlicherseits ist die Situation ähnlich komplex. Da es feste Regeln gibt, wer mit wem sprechen kann, gibt es sogenannte »Vermeidungsgruppen« mit entsprechenden Bezeichnungen. Es ist nicht einfach, Sprachen zu vergleichen, aber vielleicht ist das Javanesische ein Beispiel von ähnlicher Komplexität. Solche Sprachen sind extrem gefährdet, wenn es aus irgendeinem Grund zu sozialem Wandel kommt. Das Javanesische wurde zum Beispiel nicht zur Nationalsprache Indonesiens, obgleich es eine sehr große Sprache ist. Sie ist aber sehr viel komplexer als Malaiisch. In Australien war es die Kolonisation und die Entwurzelung der Menschen, die die indigenen Sozialstrukturen vernichtete, so dass viele Sprachen ausstarben oder zu massivem Wandel gezwungen wurden.

Später kam es aber auch zum Einfluss auf das Englische, das entsprechende Begriffe prägen musste. Women’s business ist ein zentraler Begriff (im Unterschied zum Men’s Business) und bezeichnet Wissen über das Land, das (einigen wenigen) Frauen vorbehalten ist. Der Begriff stand im Mittelpunkt eines Streites, ob die Regierung von Südaustralien eine Brücke zwischen dem Festland und der Hindmarsh-Insel bauen dürfte. Die Insel wurde schon in den 1830er Jahren ein wichtiger Ausgangsort für den von Männern betriebenen Wal- und Robbenfang. Das Wissen über die Insel war eigentlich nur Frauen zugänglich. Und sie entschieden sich gegen den Brückenbau, der heilige Stätten entehren würde. Unter dem Druck der Ereignisse in den 1980er Jahren offenbarten die Frauen den Hintergrund in einem geheim zu haltenden Schreiben an den Transportminister, das aber durch eine Unvorsichtigkeit doch an die Öffentlichkeit gelangte. Letztlich wurde die Brücke gebaut. Eigentlich wurde derartiges Wissen weder innerhalb noch außerhalb einer Gruppe publik. Und wenn es sich in Geschichten oder bildlich in Malerei »verfestigte«, wurden große Teile der Interpretation nicht weitergegeben.

Die Gesellschaften der Aborigines, die mit dem Begriff »indigenous peoples« bezeichnet werden, um die Suggestion einer Gleichheit über den gesamten Kontinent hinweg zu vermeiden, sind dennoch durch eine Vielzahl materieller und geistiger Facetten ihrer Kulturen miteinander verbunden, was dazu verleiten mag, sie als ein Volk zu sehen. Als einigendes und zugleich differenzierendes Band ist ihre sogenannte geo-sophische oder Wissensreligion zu nennen. Auch wenn sie mündlich tradiert ist und sich in Riten manifestiert, basiert diese Religion auf Wissen und nicht auf dem Glauben oder der Verehrung eines oder mehrerer Götter, wie das in den großen Weltreligionen in heiligen Schriften niedergelegt ist. In der Forschung wird diese Religion denn auch oft als Philosophie oder als Normenkodex bezeichnet.

Die Religion der Aborigines ist umfassend und kennt in ihrer »klassischen« Form keine Trennung zwischen einem säkularen und einem religiösen Bereich. Sie offenbart sich im Dreaming, der Traumzeit, in der den Menschen als Individuen und als Gruppe ihre Bindung an das Land und das Wissen über seine Entstehung übermittelt wird. Wichtig sind Schöpfungsgeschichten, von denen jede Gruppe ihre eigene hat und die die Bindung an ihr Land und ihre Sprache erläutern.9 Da die Traumzeit sozusagen eine ›lokale‹ Komponente hat, bilden sich Ketten oder Traumzeitpfade und songlines, so dass jede Gruppe nur einen Teil der Schöpfung kennt. Die Menschen wanderten, um ihren Bezug zur Traumzeit zu erneuern, gelegentlich entlang dieser Pfade, was die Weißen als »taking a walk-about« bezeichneten, von Europäern aber regelmäßig als simple Unzuverlässigkeit missdeutet wurde. Die Region, die durch eine solche lokale songline umschrieben war und in der typischerweise eine Sprache gesprochen wurde, definierte das Recht der Gruppe auf dieses Land, ein Anspruch, der in der Zeit nach dem Mabo-Urteil 1992 enorm wichtig wurde. Sutton nutzt dafür den gängigen Begriff des estate oder Landgutes.10 Der Estate war kein individueller Besitz, sondern bestimmte die Region, in der die Gruppe nomadisierte. Dass es Überlappungen zwischen verschiedenen Estates gab, vor allem bei Flut oder extremer Trockenheit, versteht sich. Aber der Zutritt musste rituell erbeten werden. Ebenso war und ist es (im ›klassischen‹ Verständnis) nicht möglich, über den Estate einer anderen Gruppe zu reden, ohne das Recht dazu erhalten zu haben.

Die Geschichten »erzählen« das, was in der Traumzeit, der dreamtime oder der alcheringa, geschah. Eine Geschichte aus dem Zentrum Australiens erzählt, dass sich die Numbakulla-Brüder, die Schöpfungswesen, eines Tages aufmachten und auf ihrem Weg auf menschliche Urwesen, die Inapatual, stießen, die weder sehen noch hören noch sich bewegen konnten. Sie nahmen ihre Messer und schnitzten sie zu richtigen Menschen, den Vorfahren des Stammes der Aranda. Die Schöpfungswesen verließen das Land nie, ohne Spuren der Erinnerung in der Topografie des Landes zu hinterlassen.

Die Erzählungen aus einer fernen Vergangenheit beeinflussen das Leben des Einzelnen und der Clans im Jetzt. Sie verbinden Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Sie können verbal oder bildlich formuliert sein, sind aber generell nicht öffentlich. Kinder werden allmählich und, je nach ihrer Rolle im Clan, stückweise eingeführt. Fremde haben keinen Zugang, es sei denn, die Geschichten werden ›freigegeben‹, was heute in zunehmendem Maße geschieht. Das Land ist mit seinen Geschichten und seiner Sprache dem Menschen anvertraut, es ist unveräußerlich. Die Menschen leben auf dem ihnen ›zugehörigen‹ Land und stehen in Kontakt mit Nachbarstämmen, mit denen sie sich aufgrund der Herkunft, Religion, Ritualen, Verwandtschaftsbeziehungen und Sprache verbunden fühlen. Solche Verbindungen bildeten Netzwerke, die den Austausch von geistigem Wissen, dem dreaming, der Religion, von Erfahrungen etwa aus der Kolonisation, und von materiellen Gütern regelten. Die Entwurzelung vom Land zerstörte jedoch diesen Nexus und führte zu noch heute spürbaren Verlusten.

Zwischen benachbarten Gruppen konnten in einem exogamen System Ehen geschlossen werden. Auf diese Weise war jede Gruppe mehrsprachig, so dass die überregionale Kommunikation funktionierte. Hinzu kam, dass manche Gruppenmitglieder als Übersetzer für weitere Sprachen tätig sein konnten und dass es Zeichensprachen und andere Verständigungscodes gab.

Wann dieses System entstanden ist, ist unbekannt, aber es muss, wie Sutton und andere Experten schreiben, sehr alt sein. Das ist bei einer 50 000-jährigen Geschichte nicht sehr präzise gesprochen, und erst heute werden Untersuchungen durchgeführt, die den Referenzbezug von Schöpfungsgeschichten in den Blick nehmen und die Frage stellen, ob sie nicht doch einen bislang unbekannten Realitätskern haben. Man weiß von mehreren Perioden von Eiszeiten und der Erderwärmung. Die letzte Eiszeit dauerte von ca. 12 000 bis 8000 Jahren vor unserer Zeit; es gab aber Nachwirkungen bis etwa vor 1500 Jahren. Der Geologe Patrick Nunn und der Linguist Nick Reid11 untersuchen 21 Geschichten von steigenden Meeresspiegeln rund um den Kontinent. Das ist eine beachtliche Zahl im Vergleich mit anderen Weltregionen wie zum Beispiel dem östlichen Mittelmeerraum. Eine erzählt von einem Stamm, der sich teilte. Die elders gingen landeinwärts, die Jüngeren blieben im Feuchtland an der Küste. Als die elders wiederkamen, sahen sie, dass sich Botany Bay als Bucht gebildet hatte, die von zwei Flüssen, dem Georges River und dem Cooks River, versorgt wurde. Die Forscher vermuten, dass diese und andere Geschichten mindestens 7000 Jahre, vielleicht bis zu 9000 Jahre alt sind. Über Hunderte von Generationen wurden sie mündlich weitergegeben, wobei der historische Kern verblasste.12 Mithilfe dessen, was man von der Erdgeschichte und dem Anstieg des Meeresspiegels weiß, können sie die Geschichte eben auf das Alter von bis zu 9000 Jahren datieren. Ähnlich verfahren sie mit den anderen 20 Geschichten, wobei manche einen Meeresstand von bis zu 65 Metern weniger, manche von kaum zwei Metern weniger nahelegen. Manche der Geschichten sind also recht jung, manche sehr alt. Manche scheinen reine Erzählungen, manche sind mythologisiert und in die Traumzeit eingebettet. Die Ursache, also das Ansteigen des Meeresspiegels wird dann mythologischen Figuren zugeschrieben, die aus Rache für Verfehlungen einzelner Menschen handeln, etwa wenn jemand einen Stock fallen ließ; manche wie in Botany Bay scheinen als Naturereignisse gedeutet worden zu sein. Das würde immerhin einen Hinweis geben, wann solche Geschichten und der in ihnen enthaltene Normenkodex in den untersuchten Regionen entstanden sind. Diese Forschung, die die Erdgeschichte mit mythischen Erzählungen der oral history verknüpft, ist essentiell für die heutigen Landrechtsdebatten, können die Geschichten doch, sofern sie plausibel sind, eine kontinuierliche Bindung eines Stammes an ein bestimmtes Land untermauern. Nunn und Reid tun das nicht, aber eine ähnliche und ältere Forschungsrichtung in Kanada und den Vereinigten Staaten hat das getan und damit eine kontroverse Debatte über das Maß der methodischen Stringenz ausgelöst, die bis heute zu keinem Konsens geführt hat. Man wird sehen, wie sich die Forschung in Australien weiter entwickelt. Man nimmt jedenfalls an, dass es nach der letzten Eiszeit zu einer sprunghaften Fortentwicklung der materiellen und geistigen Kultur der Aborigines kam.

Der besondere Charakter des Wissens, das die Aborigines von Generation zu Generation weiterreichten, macht begreiflich, was die britische Invasion bewirkt hat: im Wortsinne die Entwurzelung der Menschen. Eine Repräsentantin der Aborigines, Lowitja O’Donaghue hat das westliche Konzept von Land von dem der Aborigines so abgegrenzt:

Für über 50 000 Jahre haben Aborigines und Torres Strait Islander diesen großen Kontinent als ihre Heimat bezeichnet. Damit nicht-indigene Menschen verstehen, was damit gemeint ist, muss man einige der kulturellen Vorurteile über Bord werfen. Man muss Konzepte wie Landbesitz, den Eigentumstitel und Urkunden beiseitelassen … Aus der Sicht der indigenen Bevölkerung gehört das Land nicht uns, sondern wir gehören dem Land.13

Man wird die Existenz einer Kontinuität über 50 000 Jahre angesichts der Analyse der Schöpfungsgeschichten wohl bezweifeln, aber gleichwohl eine lange Bildungsperiode annehmen. Manches, was in den Geschichten erzählt und mit der Vernichtung der Kulturen der Aborigines verloren ging, wird heute intensiv erforscht, wobei zunehmend die Geheimhaltung ihrer Bedeutung aufgegeben werden muss. Neben dem Prozess der Übertragung der klassischen Rechte auf Land in moderne Rechtstitel und den heutigen »Landrechtsprozessen«, die Sutton beschreibt,14 könnte man hier auch auf das Wissen über die Pflanzen, das der Nahrungsmittelerzeugung und medizinischen Zwecken diente, die Sternenkunde oder Astronomie und anderes verweisen.