Sabine Thomas
UND KONNTEN ES EINFACH
NICHT FASSEN
Ullstein
Sabine Thomas
UND KONNTEN ES EINFACH
NICHT FASSEN
Ullstein
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Erich Kästner, Sachliche Romanze, aus: Lärm im Spiegel, 1929
© Atrium Verlag AG, Zürich und Thomas Kästner
Das Zitat aus dem Kapitel »Kriegskunst« stammt aus »Die Fiedelgrille und der Maulwurf«, aus: Janosch’s Tierparade, Beltz & Gelberg,
Weinheim Basel 2011
Das Zitat aus dem Kapitel »Ein friedlicher Sommerabend« stammt aus dem Song »Walter«,
aus dem Album »Bleib tapfer / Für’n Arsch«
[Hulk Rächorz (Edel), 1994] von Wizo.
Zum Schutz von Personen wurden Namen und
Orte verändert und Handlungen modifiziert.
ISBN: 978-3-8437-0629-2
© 2013 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
ERICH KÄSTNER
Die Liebende
Das fremde Kind
Abwesend
Kriegskunst
Ein friedlicher Sommerabend
Der Wolf und die kleinen Frauen
Zahltag
Kinder
Kleine Füßchen
Jedes Wort ist wahr
Alte Liebe
Erbarmen
Wir setzen uns mit Tränen nieder
Das andere Geschlecht
Brautschau
Sprünge
Katja fuhr beschwingt nach Hause. Sie ließ alle Fenster ihres Kleinwagens herunter, drehte das Radio auf und sang aus voller Kehle sämtliche Popsongs mit. Das Leben war schön, fand sie. Es war Freitagnachmittag, hinter ihr lag eine erfüllte Woche mit ihren reizenden, wissbegierigen Schülern, die sie verehrten, vor ihr ein Schwatz mit Stefan, ihrem Mann, ebenfalls Lehrer. Am nächsten Tag würden sie Gäste haben zum Grillen. Das Wetter würde auch mitspielen, versicherte ihr der Wettermann gerade.
Katja und Stefan kannten sich schon aus der gemeinsamen Schulzeit, seit sie zehn oder elf Jahre alt waren. Jahrelang waren sie gute Freunde gewesen. Mindestens einer von ihnen war immer gerade gebunden, und so stellte sich die Frage einer Liebesbeziehung zwischen ihnen nicht. Eine Affäre kam schon gar nicht in Frage. Sie fanden einander nicht anziehend, und ihnen beiden war in Liebesdingen Treue wichtig, seelische und körperliche.
Sie studierten schon beide, als sie irgendwann einmal gleichzeitig Liebeskummer hatten. Zusammen rauchten, tranken und redeten sie die Nächte durch, hörten einander zu, trösteten sich gegenseitig. Und dann, von einem Moment zum anderen, war alles anders.
Merkwürdig, sich in den vertrautesten Menschen zu verlieben. Eine ganz neue Art von Glück, das kannten sie vorher nicht. Und es übertraf auch alles, was sie vorher gekannt hatten. Da war dieses Wissen um den anderen von Anfang an, eine blinde Vertrautheit. Alle Erzählungen über Gewohnheiten, Meinungen und Vorlieben, das Austauschen der Autobiographien, alles das konnten sie überspringen. Nur ihre Körper kannten sie noch nicht, jedenfalls nicht so. Und das änderten sie, eifrig. Dass ihre Körper einander fremd waren, steigerte ihr Verlangen, steigerte den Genuss.
AUS KATJAS TAGEBUCH:
Etwas hat mein armes warmes Leben / irgendeinem in die Hand gegeben, / der nicht weiß was ich noch gestern war. Das ist Rilke, drei Zeilen aus seinem wunderbaren Gedicht Die Liebende.
Ja, es ist geschehen! Es ist geschehen! Ich bin verliebt! In Stefan! Stefan! So vertraut ist er mir, so nah waren wir einander in all den Jahren, und plötzlich bin ich verliebt. Wie ist es nur möglich, dass ich dummes Schaf nicht sehen konnte, was direkt vor meiner Nase war?
Dass Freddy mich verlassen hat, ist plötzlich so weit weg, so unbedeutend. Soll er doch sehen, wo er bleibt. Er hat mich nicht mehr, tja, das Pech ist wohl bei ihm, obwohl er es war, der wegwollte.
Aber wir, Stefan und ich, haben einander. Und jetzt, wo wir verliebt sind, muss noch mehr Nähe her, und eine andere dazu. Nun vertrauen wir uns alles an, ohne Rückhalt, auch Dinge, die uns ganz im Inneren bewegen. Alles, was wir sogar Freunden nicht verraten. Verrückte Träume, Unzulänglichkeiten, Albernheiten und auch Peinlichkeiten. Alles können wir nun vertrauensvoll erzählen und ausbreiten, das ist eine ganz neue Form von Intimität, so kannte ich das bislang nicht. Und das Tollste: Es ändert nichts an unserem Respekt voreinander. Wir wissen, dass jeder noch sein letztes Geheimnis wahrt und wahren kann und wahren darf. Das gehört ja auch zum gegenseitigen Respekt. Ich fühle mich sehr sicher in dieser respektvollen Intimität.
Und ich lese wieder Rilke. Die ergreifenden Liebesgedichte natürlich – was auch sonst? Vor allem das Liebeslied:
Wie soll ich meine Seele halten, daß / sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie / hinheben über dich zu andern Dingen?
Ich muss fast weinen, wenn ich das lese. Na ja, ich glaube, damit könnte ich Stefan bei aller Liebe nicht kommen. Emotionaler Overkill, nicht gerade das, was er zu schätzen weiß. Aber ich:
O süßes Lied.
Sie heirateten und zogen in Stefans Elternhaus, das kannte Katja schon gut aus ihrer Schülerzeit, sie hatte ihn oft dort besucht. Stefans Vater war gestorben, und seine Mutter, Helga, lebte im Erdgeschoss. Katja mochte Helga. Sie fand, dass Helga eine herzliche und bodenständige Frau war. Helga begrüßte die Entscheidung ihres Sohnes für Katja sehr. Sie hatte sich immer jemanden wie Katja als Schwiegertochter gewünscht. Zum Glück für alle Beteiligten war sie vernünftig genug, die jungen Leute schalten und walten zu lassen, wie es ihnen beliebte. Im Grunde sahen Katja und Stefan sie nur, wenn sie sie einluden. Wie am Tag der Grillparty. Da wollten sie mit Freunden feiern, dass sie ein Jahr verheiratet waren.
AUS KATJAS TAGEBUCH:
Katja und Stefan – wie schön das klingt, und wie richtig!
Kindisch, irgendwie, aber als ich heute nach der Schule die Treppen zur Wohnung hochgestiegen bin, kam ich wirklich wie ein Kind ins Hüpfen und habe das bei jeder Stufe vor mich hin gesungen. Katja – Stefan – Katja – Stefan. Stefan war schon da. Er stand in der Küche und bereitete Barbecue-Saucen vor, das hat mich richtig gerührt. Er kocht ja sonst nicht gern, aber die selbstgemachten Saucen sind sein ganzer Stolz, nie lässt er es sich nehmen, die selbst zu machen. Ach, und dann: auf ihn zuzutreten und ihn von hinten zu umarmen, mein Gesicht an seinem Rücken, einen seligen Moment lang seine Wärme und seinen Geruch zu genießen – und dann drehte er sich um, schloss mich in seine Arme und legte sein Gesicht auf meinen Scheitel. So soll es bleiben, dachte ich, in Stefan, in unserer Liebe habe ich das Allerwichtigste im Leben. Und – ich muss es wohl zugeben – ich dachte sogar: Jetzt sterben, in diesem vollkommenen Augenblick, das wär’s. Na ja, statt zu sterben machte ich mich doch lieber erst mal an die Salatvorbereitungen, und wir tauschten Schulklatsch und -tratsch aus. Wie ich das liebe! Und morgen feiern wir Hochzeitstag mit allen, die uns nahestehen. Das Leben ist so schön!
Katja war eine Schönheit auf den zweiten Blick. Sie hatte das etwas zu längliche, blasse Gesicht, wie man es auf mittelalterlichen Porträts englischer Edelfräulein findet, mit einem herzförmigen, vollen Mund und aufmerksam blickenden Augen, deren Blaugrün an die Lagunen der englischen Südküste erinnerte. Ihr Gesicht war umrahmt von kinnlangem, welligem Haar in der Farbe von Haselnussschalen, fransig ins Gesicht gezogen. Auch ihre gemessenen Bewegungen und die aufrechte Haltung waren die eines Edelfräuleins. Sie hatte das Talent, glücklich zu sein, ihre Ausstrahlung war nahezu immer positiv, ihre Lebenshaltung sowieso, und sie ging unbefangen auf alle Menschen zu und fand an jedem etwas Gutes. Es gab Leute, die sie deswegen für oberflächlich hielten.
Stefan war der Typ hagerer Intellektueller, hohe Stirn, stetig höher werdend, Haar von undefinierbarer Farbe, schmale Lippen, Brille. Wie Katja lachte er gern, aber sein Humor hatte immer etwas Bissiges, zuweilen Abwertendes. Ironie lag ihm mehr als der gutmütige Humor, mit dem Katja das Leben nahm. Ging es um ein rasches Urteil, war Lästern eher seine Sache als ihre. Wenn er aber etwas ernsthaft beurteilen wollte, wägte er erst einmal sorgfältig ab und sagte bis dahin nicht viel. Was er anschließend verkündete, war dann auch meistens seine endgültige Meinung und wirkte immer wohldurchdacht. Die Leute hielten ihn für hochgebildet und differenziert.
In Wirklichkeit war Katja weitaus gebildeter und differenzierter als Stefan. Sie hatte Philosophie, Geschichte und Latein studiert, und das sehr gründlich. Sie konnte die Wesensart aller Menschen, denen sie begegnete, sehr rasch erfassen. Sie war allerdings nicht bereit, das andauernd nach außen zu kehren. Jede Art von Show lag ihr nicht. Vor allem wollte sie nicht, dass ihr Wissen und ihr ausgeprägtes Urteilsvermögen irgendetwas an ihrer aufgeschlossenen Haltung oder an ihrem wohlwollenden Menschen- und Weltbild änderten.
Stefan war Naturwissenschaftler, Mathematik und Geographie, ein brillanter Geist, der sich aber am liebsten in abstrakte Theoriegebäude verstieg und sich nicht sonderlich für Menschen interessierte. Gemeinsam war ihnen die Leidenschaft für Literatur, ihr Herangehen allerdings denkbar unterschiedlich. Stefan las analytisch. Für ihn war Literatur ein Mittel, die Welt geistig zu durchdringen und zu enträtseln. Katja ließ sich in einen Text hineinziehen, ging völlig darin auf, lebte förmlich darin.
Hätte man Stefan gefragt, warum er Katja liebte, er hätte zuerst ihre eigenartige Schönheit genannt und dann ihre Bildung – gute Impulse für die gemeinsamen Gespräche gingen davon aus. Und ihren frischen, optimistischen Zugriff auf ihr eigenes und das gemeinsame Leben samt aller Widrigkeiten und schließlich ihren herzlichen, unvoreingenommenen Umgang mit allen, denen sie begegnete. Stefan konnte in ihrem Fahrwasser die spannendsten Kontakte knüpfen, das verdankte er ihrer Leichtigkeit. Und, ach ja, sie hatte eine geradezu treuherzige Art, sich auf einen Menschen zu verlassen, auch auf ihn.
AUS KATJAS TAGEBUCH:
Er ist so gradlinig und treu. Auch sich selbst gegenüber. Und was mich betrifft sowieso. Ich langweile mich nie mit ihm. Seine ironischen Bemerkungen zu diesem und jenem sind so amüsant! Aber das Beste: Ich kenne keinen Menschen, der so fest in seinen Überzeugungen ist, so treu in seinen Zu- und Abneigungen und so verlässlich wie er. Er fühlt sich durch mich inspiriert, ich fühle mich durch ihn geerdet. Das ist es, was wir aneinander haben, das eigentliche Band zwischen uns. Das wird nie reißen, undenkbar.
Alle, die zum Grillfest kamen, freuten sich an der Herzlichkeit, mit der Katja und Stefan sie empfingen, und an der heiteren Atmosphäre ihres Hauses, die das Glück seiner Bewohner widerspiegelte.
Grillen war, genau wie das Zubereiten der Barbecue-Saucen, Männersache. Ehrensache!, wie Katja anmerkte. Der Grill wollte nicht so, wie Stefan wollte, selbst dann nicht, als er – vorsichtig – mit einer Kelle Spiritus dazugoss. Helga, seine Mutter, warnte ihn noch: Hinter dem Grill stand das Gartenhäuschen, aus altem, trockenem Holz, Stefans Vater hatte es vor vielen Jahren gebaut. Fett troff in die Glut. Der Grill entzündete sich und stand in Flammen. Katja, beherzt wie immer, sprang hinzu, um Lara, das vierjährige Kind ihrer besten Freundin Antje, vom Grill wegzuziehen. Helga, in Panik, schüttete Mineralwasser in den Grill. Die Verpuffung trieb das Feuer fauchend, im Bruchteil einer Sekunde, unten in die Breite und jagte eine meterhohe Feuersäule nach oben. Das Feuer verbrannte Lara. Es verbrannte Katjas Gesicht und Oberkörper. Und die Hand, mit der sie nach Lara gegriffen hatte. Antjes wilder Aufschrei übertönte den von Katja. Deren Klagelaut geriet nur zu einem heiseren Röcheln aus versengter Kehle, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Der Schmerz war unmenschlich, ein wütendes, giftiges, bissiges, alle anderen Empfindungen zerschmetterndes Ungeheuer, nur mit Morphium einigermaßen im Zaum zu halten. Man hatte Katja tagelang im künstlichen Koma gehalten. Man hatte Eigenhaut von anderen Stellen ihres Körpers transplantiert. Man hatte alle Spiegel aus ihrer Nähe entfernt. Was sie gesehen hätte, wenn man sie gelassen hätte, wäre ein groteskes Zerrbild ihrer früheren Erscheinung gewesen.
Die Nase war zur Hälfte verkohlt, das Gewebe war abgestorben. Was erhalten geblieben war, ähnelte einer Mopsnase. Auch die Lider des rechten Auges waren verkürzt, kullerrund schaute das Auge dazwischen hervor, was Katjas Blick den Anschein erstaunter Aufmerksamkeit verlieh, jedenfalls auf der rechten Seite. In Wirklichkeit konnte sie nur noch verschwommen sehen, die Hornhaut war beschädigt. Die Flammen hatten die rechte Hälfte ihrer Lippen teilweise verzehrt, so dass es aussah, als bleckte sie mit schiefem Mund die Zähne. Die Haare waren auf der rechten Kopfseite vollständig verbrannt, mitsamt der Kopfhaut. Die Haut über Gesicht, Brustkorb und rechtem Unterarm war fleckig, dunkelrot-weißlich. Verschorft. Die rechte Hand war zusammengeschmort, eine nutzlose, gekrümmte Kralle. Und ununterbrochen hielt der Schmerz, ihr Ungeheuer, sie gepackt und riss an ihr, riss große Brocken Fleisch aus ihr heraus, fraß von ihr wie vorher das Feuer.
Ihre Eltern, die sofort an ihr Bett geeilt waren, weinten stumme Tränen, als sie sie das erste Mal ohne Verband sahen. Ohne dass sie es sich und einander einzugestehen vermochten, stieg aus dem dunkelsten Grund ihrer Seele, unversehens und bevor sie ihn unterdrücken konnten, der Gedanke nach oben, dass ihre Tochter, ihre so schöne, edle Tochter, besser das Schicksal von Lara geteilt hätte, die es nicht geschafft hatte. Nachdem sie jedoch ihr panisches Entsetzen niedergekämpft hatten oder zumindest mit sich allein abzumachen in der Lage waren, wurden sie unentbehrliche Helfer für Katja, für das Krankenhauspersonal und, ja, auch für Stefan. Sie nahmen, um ihrer Tochter nahe zu sein, den Pflegern jede erdenkliche Handreichung ab und versorgten Katja mit derselben selbstlosen, liebevollen Hingabe wie neunundzwanzig Jahre zuvor den Säugling Katja, Katinka. Sie riefen, wenn Katja wimmerte, nach Schmerzmitteln, sie wuschen sie, betteten sie und fütterten sie, sobald sie wieder schlucken konnte.
Katja, zwischen Dämmerzustand und Schmerz existierend, war zu sehr mit sich beschäftigt, um es ihnen zu danken. Das hier war elementare Versorgung, die Grundlage für alles, für ihr Weiterleben. Und sie wurde so selbstverständlich damit beschenkt wie damals mit der Geborgenheit ihrer Kindheit, die sie nun erneut umfing, ohne dass sie es als etwas Besonderes wahrnahm.
Sie sehnte sich, wenn das Morphium das Ungeheuer halbwegs gebändigt hatte, nach Stefan. Jede Stunde. Jede Minute. Stefan!
Und Stefan war da. Natürlich war er da, verlässlich und treu, wie er es seit jeher gewesen war. Froh, dass sie überlebt hatte. Diszipliniert sein immer neues Erschrecken unter Kontrolle zwingend. Voller Schuldgefühle. Seinen Schwiegereltern dankbar, die bei Katja ausharrten, während er unterrichtete, und mit denen er sich abwechseln konnte. Bald fanden sie eine Arbeitsteilung, denn Pflege war seine Sache nicht. Er hatte ja noch nie einen Säugling und auch noch nie einen Kranken versorgt. Das überließ er seinen Schwiegereltern, kam lieber mit Literatur und las Katja vor. Prosa aller Art wurde rasch verworfen, selbst Kurzgeschichten. Handlungsstränge zu verfolgen, strengte Katja an und machte sie unruhig. Lyrik schien das Richtige für sie, die Regelmäßigkeit des Sprachrhythmus, wie ein schlagendes Herz, der Wohlklang der Silben, jeden Schmerz fühlbar machend und zugleich eindämmend, das schien ihr eine Art Frieden zu schenken, zumindest auf Zeit.
Rilke, den sie so liebte, vor allen anderen Dichtern, war ein solches Geschenk: Die Liebende, danach war sie süchtig.
Ja, ich sehne mich nach dir. Ich gleite / mich verlierend selbst mir aus der Hand, …
Ja, sie sehnte sich nach Stefan, sehnte sich nach ihm, selbst wenn er bei ihr war.
Helga hielt sich fern, aber nicht freiwillig. Stefan und Katjas Eltern hatten ihr jeden Kontakt zu Katja verboten. Auch ihnen selbst, den Eltern, durfte Helga nicht unter die Augen treten. Stefan lebte weiterhin in ihrem Haus, in einer bizarren, lähmenden Atmosphäre des Schweigens und einander Ausweichens. Er blieb nur, weil er nicht ohne Katjas Zustimmung ihr Zuhause auflösen und eine andere Wohnung anmieten wollte. Er wollte sie mit derlei Überlegungen nicht auch noch belasten.
Niemand traute sich, die Frage anzusprechen, was geschehen sollte, sobald Katja nach Hause durfte. Nach Hause – wo war das? Da, wo Helga in ihrer Erdgeschosswohnung unter Katjas und Stefans Wohnung saß?
Vorerst jedoch war an eine Entlassung nicht zu denken. Die Ärzte erklärten Katja und Stefan, dass Katjas Zustand und ihr Aussehen mit einer Reihe von Operationen verbessert werden könnten. Man könne Nasen- und Lippenplastiken formen, die Lippen würden allerdings weitgehend gefühllos sein, so dass der Mund immer ein wenig schief bleiben würde, vernarbt sowieso. Man könne die Lider etwas verlängern. Die Funktion des rechten Auges würde sich im Laufe der Zeit verbessern, die Verletzungen seien oberflächlich. Eine gewisse Heiserkeit werde bleiben, auch wenn die Stimmbänder vernarbt seien, aber zum Glück habe sie die Flammen nicht richtig eingeatmet, so dass keine allzu schweren inneren Verbrennungen entstanden seien. In ein paar Jahren könne man an eine Haartransplantation denken, bis dahin müsse Katja sich mit dem Gedanken an eine Perücke vertraut machen, sobald und falls die vernarbte Kopfhaut eine vertrage.
Katja verlangte nach einem Spiegel. Niemand fand, dass man ihr das auf Dauer verwehren dürfe. Ihre Eltern und Stefan und ein Arzt waren bei ihr, als ihr der gewünschte Spiegel gereicht wurde. Sie schaute hinein. Sie sah ein verschwommenes Monster. Stumm gab sie den Spiegel zurück. Stumm drehte sie sich weg. Stumm ihrem Verlust nachspürend. Stumm in der Erwartung künftiger Verluste, zu schwer, um denkbar zu sein. Stumm und elend schaute sie gegen die Wand.
Man musste ihr auch beibringen, dass Lara nicht durchgekommen war, so dass ihr Opfer vergeblich gewesen war. Was aber niemand hinzufügte. Und was sie selbst auch nicht so sah. Hätte das Kind nicht zwischen ihr und den Flammen gestanden, wären ihr auch Bauch und Beine verbrannt. So sah sie es. Lara war ihr Patenkind gewesen, und Antje war ihre beste Freundin. Sie fragte auch nach Antje. Antje trauerte, das war ja wohl klar. Aber sie waren auch die vertrautesten Freundinnen. Wo also blieb Antje, damit sie, wie immer, miteinander ihren Kummer teilen und ihn dadurch lindern konnten?
Antje versuchte, ihren unbändigen Schmerz zu stillen, indem sie ihm eine Richtung gab. Sie wollte nicht duldsam das Schicksal, das ihr zugeteilt war, hinnehmen. Sie wollte jemanden beschuldigen. Zorn sollte ihr helfen, das Leiden zu ertragen. Helga hatte das Wasser in die Flammen gegossen, so viel war klar. Aber irgendwie wollte Antje es unbedingt so sehen, dass Katja mit den Geschehnissen zu tun und Laras Tod zu verantworten hatte. Ihre Grillparty. Ihre Schwiegermutter. Ihr Feuer. Ihr Klammergriff um Lara. Sie wollte nichts mit Katja zu tun haben. Ihr Schicksal war Antje gleichgültig, Katjas Elend ließ sich nicht messen an ihrem eigenen.
Katja wurde, sobald ihr Zustand es erlaubte, in eine Rehaklinik verlegt. Dort sollte sie auf ein möglichst eigenständiges Leben mit ihren Einschränkungen und Behinderungen vorbereitet werden. Erstmals seit Monaten war sie auf sich gestellt, denn weder ihre Eltern noch Stefan waren in den ersten Tagen zugelassen. Später sollten sie sie besuchen dürfen.
Nun kümmerte sich eine Traumatherapeutin um sie. »Was mich am meisten beschäftigt«, vertraute Katja ihr in ihrer neuen, verwaschenen und heiseren Sprechweise an, »ist das Gefühl, ich hätte nicht das Recht, zu meinem Mann nach Hause zu kommen. Ich meine, ich komme mir wie ein Eindringling vor. Ich bin ein Monster, niemand hat dieses Monster ins Haus gebeten. Ich dränge mich an die Seite meines Mannes und in sein Haus und weiß gar nicht, ob er mit der Frau, die ich jetzt bin, sein Zuhause teilen will.«
»Sind Sie nicht dieselbe Frau wie vorher? Ist es nicht auch Ihr Zuhause?«
»Ich bin nicht sicher. Ich war es immer, also sicher in dem Sinne, dass ich das Haus meines Mannes selbstverständlich als mein Zuhause hingenommen habe. Aber jetzt fällt mir auf: Eigentlich habe ich mein Leben nach dem meines Mannes ausgerichtet. Ich hatte gar kein Gespür mehr für meine eigenen Bedürfnisse. Irre, nicht? Da, wo du hingehst, da will auch ich hingehen – so was in der Art. Und jetzt stehe ich da und weiß nicht, ob ich das überhaupt noch darf. Ob ich willkommen bin im Haus und im Leben meines Mannes.«
»Sie könnten ihn fragen.«
»Natürlich. Aber kann ich denn darauf vertrauen, dass er mir ehrlich antwortet? Und dass er selbst die Antwort kennt?«
»Nur wenn Sie es versuchen, können Sie es herausfinden.«
Aber zunächst trat Helga auf den Plan. Helga, die ihre Schuldgefühle und ihren Wunsch nach Verzeihung und Versöhnung nicht länger unterdrücken konnte. Sie hatte Stefan doch noch dazu gebracht, ihr zu verraten, wo Katja sich jetzt aufhielt, und schrieb ihr:
Liebe Katja,
es gibt Situationen im Leben, da gehen einem die Worte aus. Es gibt die Worte auch nicht, die ausdrücken könnten, wie sehr ich bedauere und bereue, was ich getan habe. Ich wusste nicht, welche Folgen es haben würde. Es verging seither keine Minute, in der ich nicht an Dich gedacht hätte. Du bist meine von Herzen geliebte Schwiegertochter, und ich habe Dir Unaussprechliches angetan. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, das rückgängig zu machen. Ich wünschte, ich könnte mit Dir tauschen, mit Freuden würde ich es tun. Es tut mir alles so unendlich leid, dass ich manchmal glaube, ich zerbreche noch daran. Ich fühle mich schuldig, schuldig, schuldig und verfluche mich jeden Tag. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, eines Tages. Wenn ich irgendetwas für Dich tun kann, was Dir Deine Situation erleichtern kann, lass es mich bitte wissen.
Deine Dich liebende Schwiegermutter Helga
Wie merkwürdig, dachte Katja, hätte sie beim Schreiben nur an mich und nicht an sich gedacht, hätte sie sich kürzer gefasst, besonders den Teil über ihre Zerknirschung. So sehr sind ihr die Worte gar nicht ausgegangen. Und eigentlich hätten der zweite und der letzte Satz vollkommen gereicht, wenn es ihr nur um mich gegangen wäre. Sie notierte auf einem Zettel, ungelenk mit links: Liebe Helga, ich bin sehr mit mir beschäftigt, wie sich leicht denken lässt. Da kann ich mich nicht auch noch um Deine Schuldgefühle kümmern. Deine Katja, und bewahrte ihn einstweilen mit Helgas Brief in ihrer Nachttischschublade auf. Sie wollte beides später Stefan zeigen. Ach, Stefan!
Und Stefan kam und brachte den Duft von Zigarettenrauch und Schwung und die Ahnung von einem Leben in Freiheit mit, und Lyrik. Rilke, immer wieder Rilke, sie konnte nicht genug davon bekommen, ihn das Liebeslied rezitieren zu hören. Aus seinem Mund hörte sie nun dieselben Worte, die sie vor einer Ewigkeit in ihr Tagebuch eingetragen hatte:
»Wie soll ich meine Seele halten, daß / sie nicht an deine rührt? …«
Es gab Mitpatienten, die es merkwürdig fanden, dass er sich gleich nach der Begrüßung zu ihr setzte, einen Gedichtband aufschlug und ihr vorlas. Sie nicht. Sie liebte es. Und doch würde der Tag kommen, an dem sie besprechen mussten, was nach der Klinik sein würde. Noch ein Weilchen vorlesen, ein Weilchen nur …
Katja kam mit ihrem Vater zu mir. Zahlreiche Operationen hatten für ein besseres Erscheinungsbild ihres Gesichts gesorgt, das nun zwar fleckig und schief wirkte und an unerwarteten Stellen Riefen und Furchen und Flächen zog, wenn sie sprach oder es bewegte, aber immerhin nicht monströs aussah. Schön auch nicht, alles andere als das. Da ich ihre Geschichte nicht kannte, dachte ich wegen der unwillkürlich wirkenden Gesichtsverzerrungen erst, sie stünde unter Medikamenteneinfluss oder sei behindert, aber dann setzte sie zu sprechen an, in gewählten Worten und mit einer geschult klingenden, leicht rauen und sehr kultivierten Stimme. Ausgesprochen erotisch, wie ich fand. Während sie begann, mir ihr Anliegen zu unterbreiten, fing ihr Vater plötzlich zu schluchzen an, holte ein Foto aus seiner Brieftasche und legte es vor mich hin. »So sah meine Tochter vor drei Jahren aus«, schluchzte er, »und heute – schauen Sie doch bloß mal, wie ihr Gesicht jetzt aussieht!« Ich erstarrte. Katja dagegen nahm den Ausbruch ihres Vaters gelassen, offenbar war sie daran gewöhnt, den Gefühlen anderer ausgesetzt zu werden, ohne Rücksicht auf ihre eigenen.
»Und jetzt, nach allem, was war, will dieser Mistkerl sich auch noch von ihr scheiden lassen. Ich will, dass Sie den fertigmachen. Bluten soll der. Die ganz knallharte Tour. Ich bezahle alles.« Katja bat ihn, sich für eine Weile wieder ins Wartezimmer zu setzen, sie wolle doch lieber erst einmal ohne seinen Beistand mit mir sprechen. Ich sorgte dafür, dass er sich in einer abgeschiedenen Ecke erholen konnte und von meiner Sekretärin ein Glas Wasser bekam.
Katja war nach der Reha in das Haus von Helga und Stefan zurückgekehrt, keinem fiel eine bessere Lösung für den Anfang ein. Sie versuchte, die Unglücksstelle zu ignorieren, über die man einige immergrüne Büsche gepflanzt hatte. Sie versuchte, die Spiegel im Haus zu ignorieren. Das war weitaus schwieriger, denn jedes Mal, wenn sie sich auch nur zufällig in einer Glasscheibe erblickte, schrak sie zusammen. Nie war sie auf das gefasst, was sie sah, und nie gewöhnte sie sich daran. Sie schaute ja mit demselben Bewusstsein derselben schönen jungen Frau aus sich heraus, die sie vor dem Unfall gewesen war. Sie versuchte auch, das Zusammenzucken von Stefan zu ignorieren, jedes Mal, wenn sein Blick unvorbereitet auf sie fiel.
Etwas hat mein armes warmes Leben / irgendeinem in die Hand gegeben …
Wie ein Fremdkörper lag sie neben ihm im Bett. Sex – undenkbar, auf lange, lange Zeit hinaus, wahrscheinlich für immer. Sie war kahlköpfig, schiefgesichtig, hatte keine richtige Nase und nur noch einen halben Mund und ein unversehrtes Auge, das immer auf der Flucht schien. Keine Augen, in die man hätte versinken, sich darin verlieren mögen. Die Fremdheit ihrer Körper hatte ihre Sexualität seinerzeit angestachelt, aber dieses Maß Fremdheit, zumal eine, die mit Schaudern, mit Grauen einherging, bewirkte natürlich nicht dasselbe, im Gegenteil. Wie ein Stein lag Stefan neben ihr, kalt und ohne sie zu berühren.
Das gemeinsame Lachen starb auch.
Ja, ich sehne mich nach dir …
Am Abend fragte ich meinen Mann: »Angenommen, mir würde ein Feuer das Gesicht verbrennen, Nase, Augenlider, Lippen, alles eben – würdest du mich weiter lieben können?«
»Dir verbrennt kein Feuer das Gesicht«, entgegnete er und schaute mich an, als habe ich den Verstand verloren. »Wie kommst du nur darauf?«
Ich sagte es ihm, soweit meine Schweigepflicht es erlaubte. »Ich meine, es kann doch jederzeit jedem geschehen, dass er entstellt wird, ein Unfall, eine Krankheit … Was wird dann aus der Liebe? Ist sie immer auch an das vertraute Bild des anderen gebunden? Oder gibt es Bindungen, die aus sich heraus bestehen, die unerschütterlich sind, nicht zu zerstören durch so eine Katastrophe? Und wenn: Haben wir so eine?«
»Das weiß man wohl frühestens, wenn der Fall eintritt, wenn es eine Belastungsprobe gibt. Wer von uns kann schon wissen, ob er sie besteht? Wer kann sich seiner schon so sicher sein?«
Ich hatte es schon auf der Zunge, das »Ich! Ich bin mir sicher«. Es blieb ungesagt.
Wer kann sich schon sicher sein, wer?