Philip Pullman: Ans andere Ende der Welt

Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger

Lyra, die Heldin aus Philip Pullmans Erfolgsserie »His Dark Materials«, ist nun eine junge Studentin. Doch die Abenteuer ihrer Kindheit lassen sie nicht los. Ihr Dæmon, Pantalaimon, wird Zeuge eines brutalen Mordes, der Lyra an ihrer eigenen Vergangenheit zweifeln lässt und einen tiefen Zwist zwischen ihr und Pantalaimon auslöst. Allein macht Lyra sich auf die Suche nach einer Stadt, in der Dæmonen herumgeistern sollen, und einer Wüste, die angeblich die Wahrheit über den geheimnisvollen Staub birgt. Wird Lyra das Rätsel endlich lösen können?

Die epische Fortsetzung von »Das Bernstein-Teleskop«!

Alle Bände der unvergleichlichen Fantasy-Serie »His Dark Materials«:

Über den wilden Fluss (Band 0)

Der Goldene Kompass (Band 1)

Das Magische Messer (Band 2)

Das Bernstein-Teleskop (Band 3)

Ans andere Ende der Welt (Band 4)

Wohin soll es gehen?

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  Leseprobe

FÜR NICK MESSENGER,
EINEN GROSSARTIGEN POETEN UND
UNERSCHÜTTERLICHEN FREUND

ANMERKUNG DES AUTORS

Ans andere Ende der Welt ist der zweite Teil von The Book of Dust. Die Protagonistin, Lyra Listenreich, früher als Lyra Belacqua bekannt, war auch die Hauptfigur der vorherigen Trilogie His Dark Materials. Ihr Name bildete sogar den Anfang und den Schluss dieses Werkes. Sie war damals ungefähr elf oder zwölf Jahre alt.

Im ersten Teil von The Book of Dust, Über den wilden Fluss, war Lyra noch ein Baby. Auch wenn sie von zentraler Bedeutung für die Geschichte war, rankte sich die Handlung dieses Buches hauptsächlich um einen Jungen namens Malcolm Polstead, der ebenfalls etwa elf Jahre alt war.

In diesem Buch überspringen wir ungefähr zwanzig Jahre. Die Ereignisse von His Dark Materials liegen zehn Jahre in der Vergangenheit; inzwischen sind Malcolm und Lyra erwachsen. Die Handlung von Über den wilden Fluss liegt sogar noch weiter zurück.

Doch Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Manchmal kommen die Auswirkungen unserer Taten erst sehr viel später zum Tragen. Gleichzeitig dreht die Welt sich weiter: Macht und Einfluss verschieben sich, nehmen zu oder werden geringer, und die Probleme und Sorgen der Erwachsenen sind nicht zwangsläufig dieselben, die sie als Kinder oder Jugendliche hatten. Lyra und Malcolm sind, wie gesagt, keine Kinder mehr.

Philip Pullman

 

»Alles, was geglaubt werden kann, ist eine Vorstellung der Wahrheit.«

William Blake, Die Hochzeit von Himmel und Hölle, Platte 10

1

MONDSCHEIN UND BLUTVERGIESSEN

Pantalaimon, der Dæmon von Lyra Belacqua, die jetzt Lyra Listenreich hieß, lag ausgestreckt auf dem Fenstersims von Lyras kleinem Arbeits- und Schlafzimmer im St. Sophia College und versuchte, gewisse Gedanken so gut wie möglich zu verdrängen. Er nahm den kühlen Luftzug durch das schlecht schließende Schiebefenster wahr, das warme Naphthalicht auf dem Schreibtisch unter dem Fenster, das Kratzen von Lyras Stift und die Finsternis draußen. Im Augenblick waren ihm vor allem die Kälte und die Dunkelheit willkommen. Während er so dalag und sich immer wieder umdrehte, um die Kühle mal auf dem Rücken, mal auf der Stirn zu spüren, wurde sein Verlangen, in die Nacht draußen einzutauchen, noch stärker als seine Abneigung, mit Lyra zu sprechen.

»Öffne das Fenster«, sagte er schließlich. »Ich möchte hinaus.«

Lyra hörte auf zu schreiben, schob den Stuhl zurück und stand auf. Pantalaimon sah ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe vor dem nächtlichen Oxford. Er konnte sogar ihren Ausdruck rebellischer Unzufriedenheit erkennen.

»Ich weiß, was du gleich sagen wirst«, sagte er. »Natürlich werde ich vorsichtig sein, ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.«

»In mancher Hinsicht schon«, erwiderte sie.

Sie griff über ihn an das Fenster, schob es nach oben und stellte ein Buch darunter, damit das Fenster geöffnet blieb.

»Und ...«, stammelte er.

»... schließ das Fenster nicht. Ja, Pan, ich weiß – ich soll einfach dasitzen und frieren, bis du beschlossen hast, wieder heimzukommen. Ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen. Los, verzieh dich!«

Geschmeidig glitt er hinaus in die Efeuranken, die sich über die Mauern des College zogen. Einen Moment lang vernahm Lyra ein leises Rascheln. Pan mochte es nicht, wie sie miteinander sprachen oder vielmehr nicht sprachen, denn tatsächlich waren das die ersten Worte, die sie heute gewechselt hatten. Aber er wusste nicht, wie er das ändern konnte, und sie auch nicht.

Als er bis zur Mitte der Mauer gelangt war, fing er mit seinen nadelspitzen Zähnen eine Maus und erwog, sie aufzufressen, ließ sie dann aber überraschend los. Er kauerte sich in das dichte Efeu, atmete alle Düfte ein und genoss die unberechenbaren Windböen und die stockfinstere Nacht um sich herum.

Aber er würde vorsichtig sein, in zweierlei Hinsicht. Zum einen wegen des hellen cremefarbenen Fellflecks an seiner Kehle, der sich deutlich von seinem edlen rotbraunen Marderfell abhob. Dabei war es kein Problem für ihn, den Kopf gesenkt zu halten oder schnell zu laufen. Der andere Grund, vorsichtig zu sein, war weitaus gravierender. Auf den ersten Blick würde ihn niemand für einen Baummarder halten, obwohl er haargenau wie ein solcher aussah, denn er war ein Dæmon. Es war schwer zu sagen, worin der Unterschied lag, aber jedes menschliche Wesen in Lyras Umfeld würde es sofort erkennen, so sicher, wie es den Duft von Kaffee oder die Farbe Rot kannte.

Und ein Mensch ohne seinen Dæmon oder ein Dæmon ohne seinen Menschen in Sichtweite war etwas Verblüffendes, Unheimliches, ja Unmögliches. Kein normaler Mensch konnte sich so von seinem Dæmon trennen, nur Hexen konnten es angeblich. Diese Eigenschaft, die Lyra und Pan besaßen, war ihre ureigene und sie hatten sie vor acht Jahren im Reich der Toten um einen hohen Preis erworben. Als sie nach diesem höchst seltsamen Abenteuer nach Oxford zurückgekehrt waren, hatten sie mit niemandem darüber gesprochen und mit größter Sorgfalt darauf geachtet, es geheim zu halten. Aber manchmal, und in letzter Zeit häufiger, verspürten sie einfach das Bedürfnis, ohne den anderen zu sein.

Pan achtete darauf, im Schatten zu bleiben. Während er durch die Büsche und das lange Gras schlich, das die weitläufige, gepflegte Parklandschaft der University Parks säumte, nahm er die Nacht mit allen Sinnen in sich auf. Er bewegte sich lautlos und hielt den Kopf gesenkt. Vor ein paar Stunden hatte es geregnet und die Erde unter seinen Füßen war weich und feucht. Als er zu einer schlammigen Stelle gelangte, kauerte er sich nieder und drückte die Kehle und die Brust in den Morast, um den verdächtigen hellen cremefarbenen Fellfleck zu kaschieren.

Nachdem er den Park verlassen hatte, huschte er in einem Moment, in dem keine Fußgänger auf dem Bürgersteig waren und nur ein Auto in der Ferne zu sehen war, über die Banbury Road. Dann schlüpfte er in den Garten eines der großen Häuser auf der anderen raßenseite und setzte seinen Weg durch Hecken, über Mauern, unter Zäunen hindurch und über Rasenflächen fort. Sein Ziel waren Jericho und der Kanal, nur wenige Straßen entfernt.

Als er bei dem morastigen Treidelpfad angelangt war, fühlte er sich sicherer. Hier gab es Büsche und hohes Gras, in denen er sich verstecken, und Bäume, auf die er blitzschnell klettern konnte. Diese teilweise noch urwüchsige Gegend mochte er am liebsten. Er war in jedem der vielen Gewässer, die Oxford durchzogen, geschwommen – nicht nur im Kanal, sondern auch in der breiten Themse und ihrem Nebenfluss, dem Cherwell. Außerdem kannte er die zahllosen kleinen Bäche, die von den größeren Flüssen abgeleitet wurden, um eine Mühle oder einen Zierteich mit Wasser zu versorgen. Einige davon verliefen unterirdisch, dem Auge verborgen, bis sie unter der College-Mauer, hinter dem Friedhof oder der Brauerei wieder auftauchten.

An der Stelle, wo einer dieser Bäche parallel zum Kanal verlief, nur durch den Treidelpfad getrennt, überquerte Pan eine kleine Stahlbrücke und folgte dem Bach, bis er zu dem weitläufigen Gelände der Schrebergärten gelangte; nördlich davon lag der Oxpens-Viehmarkt und im Westen das Royal-Mail-Depot neben der Bahnstation.

Über ihm stand der Vollmond am Himmel und zwischen den dahinsausenden Wolkenfetzen funkelten ein paar Sterne. Der helle Mondschein bedeutete Gefahr für ihn, aber Pan liebte das kühle silberne Licht, während er durch die Gärten streifte, durch Rosenkohl- und Blumenkohlstauden oder Blätter von Zwiebeln und Spinat schlüpfte. Dabei war er so lautlos wie ein Schatten. Schließlich gelangte er zu einem Geräteschuppen, landete mit einem Sprung auf dem harten Dach aus Teerpappe und ließ den Blick über die weite Grasfläche bis zum Briefdepot schweifen.

Dies schien der einzige Platz in der Stadt zu sein, wo sich etwas rührte. Pan und Lyra waren schon des Öfteren gemeinsam hier gewesen und hatten dabei zugesehen, wie die Züge von Norden und von Süden her einfuhren und dampfend neben dem Bahnsteig zum Halt kamen, während Bahnangestellte Säcke mit Briefen und Paketen in große Rollkörbe verluden und zu dem Metallschuppen fuhren, wo die Post nach London und für den Kontinent rechtzeitig für den Morgenzeppelin sortiert wurde. Das Luftschiff war ganz in der Nähe am Bug und am Heck festgebunden und schaukelte im Wind, während seine Halteleinen gegen den Mast schepperten. Auf dem Bahnsteig, am Ankerturm und über den Türen des Royal-Mail-Gebäudes brannten Lichter, Güterwagen ratterten auf einem Nebengleis und irgendwo wurde krachend eine Metalltür zugeschlagen.

Plötzlich bemerkte Pan zwischen den Gärten zu seiner Rechten eine Bewegung. Ganz vorsichtig wandte er den Kopf, um nachzuschauen. Eine Katze kroch an einem Beet mit Kopfsalat oder Brokkoli entlang, einer Maus hinterher. Doch bevor die Katze sich auf die Maus stürzen konnte, stieß ein lautloser weißer Schatten, größer als Pan selbst, vom Himmel herab und packte die Maus. Dann erhob er sich wieder in die Lüfte, außer Reichweite der Katzenkrallen. Der Flügelschlag der Eule war völlig lautlos, als sie auf einen der Bäume hinter dem Paradise Square zurückflog. Die Katze legte sich auf alle viere, schien über die Angelegenheit nachzudenken und setzte dann ihre Jagd durch die Gemüsebeete fort.

Der Mond stand jetzt hoch an einem fast wolkenlosen Himmel und Pan konnte von seinem Aussichtspunkt auf dem Schuppen jede Einzelheit in den Gärten und auf dem Viehmarkt erkennen. Gewächshäuser, Vogelscheuchen, Viehgehege, Regentonnen, verrottete morsche Gatter und gerade stehende, hübsch gestrichene Zäune, daneben Erbsenstangen, die wie Tipis zusammengesteckt waren. All das breitete sich still im Mondlicht aus und erinnerte an das Bühnenbild für ein Geisterspiel.

»Lyra, was ist mit uns geschehen?«, flüsterte Pan.

Keine Antwort.

Der Postzug war entladen worden und setzte sich nach einem kurzen Pfiff in Bewegung. Er fuhr nicht auf der Bahnstrecke, die im Süden, direkt hinter den Gärten, über den Fluss führte, sondern langsam ein Stück vorwärts und dann auf ein Nebengleis zurück, wobei die Waggons laut schepperten. Rauchwolken stiegen von der Lokomotive in den Himmel und wurden vom kalten Wind davongeweht.

Auf der anderen Flussseite, hinter den Bäumen, fuhr ein weiterer Zug ein. Es war kein Postzug, er hielt nicht am Depot, sondern fuhr etwa dreihundert Meter weiter direkt zum Bahnhof. Das war der langsame Nahverkehrszug aus Reading, vermutete Pan. Er hörte, wie der Zug sich mit zischendem Dampf und leichtem Räderknirschen dem Bahnsteig näherte.

Noch etwas anderes bewegte sich.

Auf Pans linker Seite, dort, wo eine Stahlbrücke sich über den Fluss spannte, ging ein Mann – oder genauer gesagt, er eilte, wobei er den Eindruck heimlicher Hast erweckte – am Flussufer entlang, wo das Schilfgras sehr dicht war.

Pan ließ sich vom Schuppendach gleiten und bewegte sich lautlos durch Zwiebelbeete und Kopfsalatreihen auf ihn zu. Er zwängte sich unter Zäunen und einem rostigen Wasserbehälter hindurch, bis er das Ende der Schrebergärten erreicht hatte. Durch ein zerbrochenes Zaungatter ließ er den Blick über die üppige Grasfläche dahinter schweifen.

Der Mann steuerte das Royal-Mail-Depot an, ging mit jedem Schritt vorsichtiger, bis er vor einer Weide am Ufer stehen blieb, etwa hundert Meter vom Tor des Depots entfernt, fast gegenüber der Stelle, wo Pan unter dem Zaun kauerte. Selbst Pans scharfe Augen konnten ihn im Schatten kaum erkennen. Würde er auch nur einen Moment lang wegschauen, hätte er den Mann sicher aus dem Blick verloren.

Dann war nichts mehr zu sehen. Der Mann hätte auch völlig verschwunden sein können. Eine Minute verstrich, dann noch eine. In der Stadt begannen in der Ferne Glocken zu läuten, jede zweimal: Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht.

Pan richtete den Blick auf die Bäume am Fluss. Ein wenig links von der Weide stand eine alte Eiche, die jetzt im Winter kahl und ohne Laub war. Rechts ...

Rechts kletterte eine einzelne Gestalt über das Tor des Royal-Mail-Depots. Der Neuankömmling sprang herunter und eilte am Flussufer entlang zu der Weide, wo der erste Mann wartete.

Einen kurzen Augenblick lang schob sich eine Wolke vor den Mond, in deren Schatten Pan unter dem Zaun hindurchschlüpfte und so schnell er konnte über das feuchte Gras flitzte. Er hielt sich geduckt eingedenk der Eule und des versteckten Mannes und steuerte die Eiche an. Sobald er sie erreicht hatte, sprang er hoch, schlug seine Krallen in die Rinde und hievte sich auf einen hohen Ast, von dem aus er die Weide gut überblicken konnte, zumal sich der Mond von Neuem zeigte.

Der Mann vom Mail-Depot eilte auf die Weide zu. Als er sie fast erreicht hatte, wurde er langsamer und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Da trat der erste Mann lautlos hervor und sagte leise etwas zu ihm. Der zweite Mann antwortete genauso leise. Dann zogen sich beide in die Finsternis zurück. Sie waren zu weit von Pan entfernt, als dass er verstehen konnte, was sie sagten, doch es klang komplizenhaft. Sie hatten geplant, sich hier zu treffen.

Ihre Dæmonen waren beide Hunde: eine Art Dogge und ein kurzbeiniger Hund. Die Tiere konnten nicht auf den Baum klettern, aber sie konnten Pan wittern. Pan drückte sich noch enger an den breiten Ast, auf dem er lag. Er hörte das leise Flüstern der Männer, konnte aber nach wie vor keines ihrer Worte verstehen.

Zwischen dem hohen Maschendrahtzaun des Mail-Depots und dem Fluss führte ein Pfad von der weitläufigen Grasfläche neben den Schrebergärten zum Bahnhof. Es war der direkteste Weg dorthin von der Gemeinde St. Ebbe’s und von den engen Straßen und Häusern aus, die den Fluss bis zum Gaswerk säumten. Vom Ast der Eiche konnte Pan weiter sehen als die Männer unten, und er entdeckte noch vor ihnen jemanden, der sich vom Bahnhof her näherte: Es war ein einzelner Mann, er hatte den Kragen wegen der Kälte hochgeschlagen.

Dann hörte man unter dem Baum ein »Pst!«. Die Männer hatten den Neuankömmling ebenfalls entdeckt.

Etwas früher an diesem Tag waren zwei Männer in einem eleganten Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert in der Nähe der Kathedrale St. Peter in Genf ins Gespräch vertieft. Sie befanden sich im zweiten Stock in einem Raum voller Bücher, dessen Fenster auf eine ruhige Straße hinausgingen, die von der fahlen Winternachmittagssonne beschienen wurde. Ein langer Mahagonitisch war schwer beladen mit Schreibunterlagen, Notizblöcken, Füllern und Bleistiften, Gläsern und Wasserkaraffen. Die beiden Männer hatten es sich in Lehnstühlen links und rechts von einem Holzfeuer bequem gemacht.

Der Gastgeber war Marcel Delamare, der Generalsekretär einer Organisation, die informell nach dem Namen des Gebäudes benannt wurde, in dem dieses Treffen gerade stattfand – La Maison Juste. Delamare war Anfang vierzig, Brillenträger und sehr gepflegt. Sein tadellos sitzender Anzug hatte die gleiche Farbe wie sein dunkelgraues Haar. Sein Dæmon war eine Schneeeule, die sich auf der Rückenlehne seines Sessels niedergelassen hatte. Ihre gelben Augen waren auf den Dæmon in den Händen des anderen Mannes fixiert – eine purpurrote Schlange, die sich ständig um seine Finger wand. Der Besucher hieß Pierre Binaud. Er war in den Sechzigern und wirkte mit seinem klerikalen Kollar sehr streng. Er war der Oberste Richter des Geistlichen Disziplinargerichts, der obersten Instanz für die Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit.

»Und?«, fragte Binaud.

»Ein weiteres Mitglied des Wissenschaftsteams an der Lop-Nor-Station ist verschwunden«, sagte Delamare.

»Warum? Was berichtet Ihr Agent darüber?«

»Offiziell heißt es, dass der vermisste Mann und sein Begleiter in den Wasserläufen verschollen seien, da sie immer wieder unvermittelt ihren Lauf ändern. Es ist dort sehr gefährlich, und jeder, der die Station verlässt, muss sich einen Führer nehmen. Aber unser Agent berichtete mir, dass sie Gerüchten zufolge in das Ödland gegangen seien, das sich jenseits des Sees erstreckt. Es gibt Legenden der Einheimischen über Gold ...«

»Der Teufel hole die Legenden. Bei diesen Leuten handelte es sich um Experimentaltheologen, Botaniker, kurzum Wissenschaftler. Sie waren auf der Suche nach Rosen, nicht nach Gold. Aber Sie sagen, dass nur einer von ihnen verschollen ist? Was ist mit dem anderen?«

»Er kehrte zur Station zurück und brach sofort nach Europa auf. Er heißt Hassall. Ich habe Ihnen letzte Woche von ihm berichtet, aber vielleicht waren Sie zu beschäftigt, um mir zuzuhören. Mein Agent meint, dass er eine Auswahl von Rosen und einige Unterlagen mit sich führt.«

»Haben wir ihn bereits geschnappt?«

Delamare versuchte sichtlich, sich zusammenzunehmen. »Wenn Sie sich erinnern, Pierre«, sagte er nach einer Weile, »wollte ich ihn in Venedig festnehmen lassen, aber das wurde von Ihren Leuten abgelehnt. Die Anordnung lautete: Wir lassen ihn bis Brytannien reisen und folgen ihm dann, um seinen Zielort zu erfahren. Er ist inzwischen dort angelangt und wird heute Nacht abgefangen.«

»Lassen Sie es mich wissen, sobald Sie die Rosen und die Unterlagen haben. Nun zu der anderen Angelegenheit – der jungen Frau. Was wissen Sie über sie?«

»Das Alethiometer ...«

»Nein, nein, nein. Altmodisch, zu vage, zu viel Spekulation. Liefern Sie mir Fakten, Marcel.«

»Wir haben eine neue Lesemethode.«

»Oh ja, ich habe davon gehört. Eine neue Methode. Besser als die alte?«

»Die Zeiten ändern sich, und auch unsere Erkenntnisse müssen sich ändern.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass wir einiges über das Mädchen herausgefunden haben, was zuvor noch unklar war. Sie scheint eine gewisse Protektion zu genießen, seitens der Gerichtsbarkeit und außerdem noch von anderer Seite. Ich würde zunächst gern das Verteidigungsnetzwerk um sie herum einreißen, unauffällig, lautlos, ja man könnte auch sagen, unsichtbar. Und wenn sie dann angreifbar ist, ist die Zeit gekommen, zu handeln. Bis dahin ...«

»Vorsichtig«, sagte Binaud und erhob sich. »Zu vorsichtig, Marcel. Das ist ein großer Fehler. Sie müssen entschlussfreudig sein, Maßnahmen ergreifen, das Mädchen finden und hierherbringen. Handeln Sie, wie es Ihnen beliebt, dieses Mal werde ich Sie nicht aufhalten.«

Delamare stand auf, schüttelte seinem Besucher die Hand und geleitete ihn hinaus. Als sie allein waren, flog ihm sein Dæmon auf die Schulter, und sie standen am Fenster und beobachteten, wie der Oberste Richter davoneilte. Ein Begleiter trug seine Aktenmappe, ein anderer hielt einen Schirm über ihn, da es wieder angefangen hatte zu schneien.

»Ich hasse es, unterbrochen zu werden«, sagte Delamare.

»Ich glaube nicht, dass er es bemerkt hat«, sagte sein Dæmon.

»Oh, eines Tages wird er es merken.«

Der Mann, der sich von der Bahnstation näherte, bewegte sich sehr schnell. In knapp einer Minute hatte er den Baum erreicht. Kaum war er dort angelangt, schlugen die anderen Männer zu. Einer trat hervor und schwang einen schweren Stock, mit dem er auf die Knie des Mannes schlug. Der Mann knickte ein und stöhnte schockiert. Und dann war auch schon der andere Mann über ihm und drosch mit einem kurzen Schlagstock auf ihn ein, auf seinen Kopf, seine Schultern und seine Arme.

Es fiel kein Wort. Der Dæmon des Opfers, ein kleiner Falke, erhob sich in die Lüfte, schrie, flatterte heftig mit den Flügeln und stürzte immer wieder herab, während der Mann unter den Schlägen immer schwächer wurde.

Doch dann bemerkte Pan, wie das Mondlicht auf einer Messerklinge aufblitzte. Der Mann vom Mail-Depot schrie auf und brach zusammen. Doch der andere Angreifer hörte nicht auf, zuzuschlagen, bis das Opfer endgültig verstummte. Pan entging kein einziger Schlag.

Der Mann war tot. Der zweite Mann rappelte sich hoch und betrachtete seinen Gefährten.

»Hast du was abbekommen?«, fragte er.

»Er hat mir meine verdammten Kniesehnen durchgeschnitten, dieser Bastard. Schau, ich blute wie ein Schwein.«

Der Dæmon des Mannes, die Doggenkreuzung, winselte und wand sich am Boden neben ihm.

»Kannst du aufstehen?« Die Stimme des Mörders klang belegt und gedämpft, als wäre er erkältet. Seinem Akzent nach schien er aus Liverpool zu stammen.

»Was glaubst du?«

Ihre Stimmen waren nicht viel mehr als ein Flüstern.

»Kannst du dich überhaupt bewegen?«

Der erste Mann versuchte sich aufzurichten und stöhnte vor Schmerz auf. Der zweite Mann reichte ihm die Hand, und dem ersten gelang es schließlich, auf die Beine zu kommen, doch er konnte offenbar nur ein Bein bewegen.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er.

Der Mondschein ließ ihre Umrisse deutlich hervortreten – den Mörder, den Mann, der nicht gehen konnte, und den toten Mann. Pans Herz hämmerte so wild, dass er befürchtete, sie könnten ihn hören.

»Du Schwachkopf! Hast du denn nicht gesehen, dass er ein Messer hatte?«, knurrte der Mörder.

»Er war zu schnell ...«

»Du solltest darin eigentlich besser sein. Geh mir aus dem Weg.«

Der erste Mann humpelte ein paar Schritte zurück. Der Mörder bückte sich, packte den Toten an den Fußgelenken und zerrte ihn rückwärts ins Schilf.

Dann tauchte der Mörder wieder auf und gab dem anderen Mann ungeduldig zu verstehen, dass er weitergehen solle.

»Stütz dich auf mich«, sagte er. »Ich hätte echt Lust, dich hier zurückzulassen. Bist ein echter Klotz am Bein. Jetzt muss ich noch mal zurückkommen und mich allein um ihn kümmern, und der verdammte Mond wird immer heller. Wo ist sein Beutel? Hatte er nicht ’nen Beutel dabei?«

»Er hatte keinen Beutel. Er hatte nichts dabei.«

»Er muss einen haben. Verflucht noch mal!«

»Barry wird mit dir zurückgehen und dir suchen helfen.«

»Der ist zu laut, zu nervös. Gib mir deinen Arm, los, beeil dich!«

»Oh mein Gott – sei vorsichtig ... aaah, das tut weh ...«

»Halt’s Maul und beweg dich, so schnell du kannst. Ist mir egal, wenns wehtut. Halt einfach dein verdammtes Maul.«

Der erste Mann legte den Arm um die Schultern des Mörders und hinkte neben ihm her, während sie sich am Flussufer entlang auf den Rückweg machten. Pan, der von seinem Ast hinuntersah, entdeckte einen Blutfleck im Gras. Er leuchtete rot im Mondlicht.

Er wartete, bis die Männer außer Sicht waren, und wollte gerade hinunterspringen, als sich plötzlich etwas im Schilf bewegte, dort, wo der tote Mann lag. Etwas Helles, so groß wie ein Vogel, flatterte auf, fiel und flog wieder hoch. Mit einem letzten Aufbäumen schoss es auf Pan zu.

Pan war viel zu verängstigt, um sich zu bewegen. Wenn der Mann tot war ... Aber dieser Dæmon sah auch schon tot aus – was also konnte er ihm antun? Pan wollte kämpfen, fliehen oder ohnmächtig werden. Doch dann saß die Falkendame plötzlich neben ihm auf dem Ast, bemühte sich, oben zu bleiben, und schwankte so sehr, dass er sie halten musste. Sie fühlte sich eiskalt an, aber zumindest lebendig. Der Mann war noch nicht tot.

»Hilfe«, flüsterte der Dæmon heiser, »hilf uns ...«

»Ja«, sagte er, »ja ...«

»Schnell!«

Der Dæmon fiel vom Ast und stürzte in das Schilfgras. Im Nu glitt Pan den Stamm der Eiche hinunter und eilte zu der Stelle, wo er verschwunden war. Er stieß auf den sterbenden Mann im Schilf. Dieser atmete schwer und sein Dæmon schmiegte sich an seine Wange.

Pan hörte, wie er sagte: »Dæmon ... getrennt ...«

Der Mann drehte leicht den Kopf und stöhnte. Pan vernahm, wie Knochen gegen gebrochene Knochen rieben.

»Getrennt?«, murmelte der Mann.

»Ja ... wir haben es gelernt ...«

»Mein Glückstag. In meiner Innentasche. Hier.« Er hob mit äußerster Anstrengung die Hand und berührte die rechte Seite seines Jacketts. »Hol es heraus«, flüsterte er.

Pan versuchte, ihm nicht wehzutun, und kämpfte gegen das große Tabu an, den Körper einer anderen Person zu berühren. Er drehte das Jackett mit der Nase um und fand in der Innentasche eine lederne Geldbörse.

»Genau. Nimm sie an dich, damit sie sie nicht in die Finger bekommen. Jetzt liegt es ganz an dir und ... deinem ...«

Pan zog, bekam die Geldbörse aber nicht zu fassen, da das Jackett unter dem Körper des Mannes eingeklemmt war, der sich nicht rühren konnte. Aber nach einigem Bemühen schaffte es Pan, in den Besitz der Geldbörse zu gelangen. Er legte sie auf den Boden.

»Bring sie weg ... bevor sie zurückkommen.«

Der farblose Falkendæmon war inzwischen mehr tot als lebendig, er war nur noch ein durchsichtiger weißer Schatten, der flatterte und sich an den Mann schmiegte. Pan hasste es, Menschen sterben zu sehen, da er wusste, welches Schicksal ihre Dæmonen erwartete: Sie erloschen wie eine Flamme. Er wollte dieses arme Geschöpf trösten, das sich genau bewusst war, dass es auch bald sterben würde. Es wollte nur noch einmal den warmen Körper seines Besitzers fühlen, mit dem es ein ganzes Leben verbracht hatte. Der Mann atmete flach und rasselnd. Dann schied die hübsche Falkendame aus diesem Leben.

Pan musste nun die Geldbörse den ganzen Weg zurück zum St. Sophia College und an Lyras Bett befördern.

Er klemmte sie zwischen die Zähne und bahnte sich einen Weg bis zum Rand des Schilfgrases. Die Börse war nicht schwer, aber unhandlich, und was noch schlimmer war – sie verströmte den Geruch einer anderen Person: Schweiß, Toilettenwasser, Rauch.

Er schaffte es bis zu dem Zaun, der die Schrebergärten umgab, und hielt dann inne, um Atem zu schöpfen. Nun, er musste sich einfach Zeit lassen, die Nacht war noch lang.

Lyra befand sich im Tiefschlaf, als sie auf einmal hochschreckte. Es war wie ein plötzlicher Sturz, etwas Physisches, aber was? Sie griff nach Pan, erinnerte sich aber, dass er ja nicht da war. War ihm etwas zugestoßen? Es war bei Weitem nicht die erste Nacht, in der sie ohne ihn hatte einschlafen müssen, und sie hasste es. Was für ein Wahnsinn, dass er allein durch die Nacht streifte, aber er wollte ja nicht hören, wollte sich nicht davon abhalten lassen, und eines Tages würden sie es beide büßen müssen.

Einen Moment lang lag sie wach da, doch der Schlaf übermannte sie erneut, und bald schloss sie wieder die Augen und ließ sich fallen.

Die Glocken von Oxford schlugen zwei Uhr, als Pan durch das Fenster kletterte. Er legte die Geldbörse auf den Tisch und verzog den Mund nach links und nach rechts, um seinen schmerzenden Kiefer zu entspannen, bevor er das Buch entfernte, mit dem sie das Fenster für ihn offen gehalten hatte. Er wusste, dass es sich um einen Roman handelte, dessen Titel Die Hyperchorasmianer lautete. Pan fand, dass Lyra dieser Lektüre viel zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Er ließ das Buch auf den Boden fallen und putzte sich dann sorgfältig, bevor er die Geldbörse im Bücherregal versteckte.

Dann sprang er leichtfüßig auf ihr Kissen. Im Strahl des Mondscheins, der sich durch eine Ritze der Vorhänge stahl, kauerte er sich zusammen und betrachtete ihr schlafendes Gesicht.

Ihre Wangen waren gerötet, ihr dunkelblondes Haar war feucht. Ihre Lippen, die ihm so oft etwas zugeflüstert und ihn, aber auch Will, geküsst hatten, waren zusammengepresst. Ihre Stirn war leicht gerunzelt und glättete sich dann wieder, wie Wolken an einem gewittrigen Himmel – all das zeugte von Dingen, die nicht in Ordnung waren, von einer Person, die immer unerreichbarer für ihn wurde, genau wie er für sie.

Und er hatte keine Vorstellung, was er daran ändern konnte. Er konnte sich nur eng an sie schmiegen und ihren warmen Körper genießen. Immerhin waren sie noch am Leben.

2

IHRE KLEIDER DUFTETEN NACH ROSEN

Lyra wachte auf, als die College-Uhr acht schlug. In den ersten Minuten des schlaftrunkenen Erwachens, bevor ihr Denken wieder einsetzte, war ihr ganz wohlig zumute, auch weil sich das Fell ihres Dæmons an ihrem Hals so herrlich warm anfühlte. Solange sie zurückdenken konnte, hatte dieses sinnliche gegenseitige Bekunden von Wertschätzung zu ihrem Leben gehört.

Sie lag da und versuchte, die Gedanken auszuschalten, doch das Denken verhielt sich wie eine anrollende Flut. Kleine Bruchteile des Bewusstseins – ein Aufsatz, der zu Ende gebracht, ihre Kleider, die gewaschen werden mussten, die Gewissheit, dass sie kein Frühstück mehr bekommen würde, wenn sie nicht bis neun Uhr im Speisesaal war –, sie strömten aus allen Richtungen auf sie zu und vertrieben ihre Schläfrigkeit. Und dann kam die große Flutwelle: Pan und ihre Entfremdung. Etwas stand zwischen ihnen, und keiner von ihnen wusste genau, was es war, dabei war das einzige Wesen, dem sie sich anvertrauen konnten, der jeweils andere, und das war ihnen jetzt nicht mehr möglich.

Sie schob die Decke zur Seite und stieg fröstelnd aus dem Bett, weil das St. Sophia an Heizkosten sparte. Sie machte Katzenwäsche in dem kleinen Waschbecken, während das heiße Wasser gurgelnd aus der Leitung sprudelte und dann im Abfluss verschwand. Dann schlüpfte sie in einen Schottenrock und einen hellgrauen Pullover, ihre einzigen sauberen Kleidungsstücke.

Währenddessen lag Pan auf dem Kopfkissen und gab vor, zu schlafen. Als sie noch jünger waren, war eine derartige Situation undenkbar gewesen.

»Pan«, sagte sie müde.

Er musste jetzt zu ihr kommen, und sie wusste, dass er es tun würde. Er erhob sich, rekelte sich und ließ sich von ihr auf die Schulter setzen. Dann ging sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.

»Lyra, lass uns so tun, als würden wir miteinander reden«, flüsterte er.

»Ich weiß nicht, ob es eine gute Umgangsform ist, sich zu verstellen.«

»Immerhin besser als gar nichts. Ich will dir erzählen, was ich gestern Abend gesehen habe, es ist wichtig.«

»Warum hast du es mir nicht erzählt, als du zurückgekommen bist?«

»Du hast geschlafen.«

»Habe ich nicht, nicht mehr als du eben.«

»Warum hast du dann nicht gespürt, dass ich dir etwas Wichtiges zu berichten hatte?«

»Habe ich, ich habe gespürt, dass etwas passiert war. Aber ich wusste, dass ich dich überreden müsste, mir davon zu erzählen, und ehrlich gesagt ...«

Er sagte nichts mehr. Als Lyra am Ende der Treppe angelangt war, trat sie hinaus in die nasskalte Morgenkühle. Ein paar Mädchen waren unterwegs zum Speisesaal, andere kamen vom Frühstück und strebten entschlossen ihren morgendlichen Pflichten zu, der Bibliothek, einer Vorlesung oder einem Seminar.

»Oh, ich weiß nicht«, beendete sie die Unterhaltung. »Ich bin es leid. Erzähle es mir nach dem Frühstück.«

Sie stieg die Stufen zum Speisesaal hoch, füllte eine Schale mit Haferbrei, nahm sie mit zu einem freien Platz an einem der langen Tische und setzte sich. Um sie herum nahmen Mädchen ihres Alters ihr Frühstück ein: Rühreier, Haferbrei oder Toast. Einige unterhielten sich lebhaft, andere blickten lustlos, müde oder kummervoll drein, manche lasen Briefe oder widmeten sich nur ihrem Frühstück. Sie kannte viele der Mädchen namentlich, manche nur vom Sehen. Mit einigen war sie befreundet, mochte sie wegen ihrer Freundlichkeit oder Schlagfertigkeit. Andere waren lediglich Bekannte und eine kleine Anzahl nicht gerade Feindinnen, aber junge Frauen, die sie nie mögen würde, weil sie snobistisch, arrogant oder gefühlskalt waren. Sie fühlte sich in dieser Schulgemeinschaft, unter diesen intelligenten, eifrig lernenden oder geschwätzigen Gleichaltrigen genauso zu Hause wie überall sonst. Eigentlich hätte sie glücklich sein sollen.

Als Lyra etwas Milch in ihren Haferbrei rührte, wurde sie auf das hübsche Mädchen ihr gegenüber aufmerksam. Sie hieß Miriam Jacobs, hatte dunkles Haar, eine schnelle Auffassungsgabe und brauchte für die Schule nur das Minimum aufzuwenden. Sie war etwas eingebildet, ertrug aber gutmütig jegliche Neckerei darüber. Ihr Eichhörnchendæmon Syriax hatte sich an ihrem Haar festgeklammert und blickte betreten drein. Miriam überflog gerade einen Brief, eine Hand auf den Mund gepresst. Sie war aschfahl.

Niemand sonst hatte es bemerkt. Als Miriam den Brief beiseitelegte, beugte sich Lyra über den Tisch und fragte: »Miriam, was ist los?«

Miriam blinzelte, seufzte, als würde sie gerade wach, und ließ den Brief in ihren Schoß gleiten. »Es geht um zu Hause«, erwiderte sie. »Eine dumme Geschichte.« Ihr Dæmon kroch auf ihren Schoß, wo der Brief lag, während Miriam sich nach Kräften bemühte, sorglos zu wirken, was jedoch überflüssig war, denn ihre Tischnachbarinnen schenkten ihr sowieso keine Aufmerksamkeit.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Lyra.

Unter dem Tisch hatte Pan Syriax’ Nähe gesucht. Beide Mädchen konnten spüren, dass ihre Dæmonen sich miteinander unterhielten und dass Lyra bald wissen würde, was Syriax Pan erzählte. Miriam blickte Lyra hilflos an. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Lyra erhob sich und forderte sie auf: »Komm mit!«

Das andere Mädchen befand sich in einem Zustand, in dem man jegliche Initiative, egal von wem, wie einen Rettungsring in tosender See dankbar ergreift. Zusammen mit Lyra verließ sie den Speisesaal, drückte ihren Dæmon an die Brust und fragte nicht, wohin sie gingen, sondern folgte Lyra wie ein Lämmchen.

»Mir hängen Haferbrei, kalter Toast und trockene Rühreier zum Hals heraus«, sagte Lyra. »In so einem Fall gibt es nur eine Lösung.«

»Und die wäre?«, fragte Miriam.

»Das George’s.«

»Aber ich habe eine Vorlesung ...«

»Nein. Der Dozent hat eine Vorlesung, wir beide nicht. Und ich möchte jetzt Spiegeleier und Schinken. Komm weiter. Warst du mal bei den Pfadfindern?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Ich weiß nicht, warum ich das gefragt habe.«

»Ich muss einen Aufsatz schreiben ...«

»Kennst du jemanden, der das nicht muss? Es gibt Tausende von Leuten, die mit ihren Aufsätzen im Verzug sind. Es wäre ja ausgesprochen schlechter Stil, wenn dem nicht so wäre. Und das George’s wartet auf uns. Das Cadena’s hat noch nicht offen, sonst könnten wir auch dorthin gehen. Los, es ist kalt. Willst du deinen Mantel holen?«

»Ja ... ganz schnell ...«

Sie rannten hoch, um ihre Mäntel zu holen. Lyras grüner Mantel war abgetragen und etwas zu eng. Miriam hatte einen marineblauen Kaschmirmantel, der wie angegossen saß.

»Und wenn dich irgendjemand fragt, warum du nicht in der Vorlesung, dem Seminar oder sonst wo warst, antwortest du, dass du traurig warst und die liebe Lyra dich zu einem Spaziergang mitgenommen hat«, sagte Lyra, als sie an der Pförtnerloge vorbei ins Freie traten.

»Ich bin noch nie im George’s gewesen«, sagte Miriam.

»Wirklich? Das solltest du aber!«

»Ich weiß, wo es ist, aber ... Ich weiß nicht, ich dachte einfach, das sei nichts für uns.«

Das George’s war ein Café im Covered Market, dessen Stammkunden vor allem Markthändler und Arbeiter aus der Umgebung waren.

»Ich bin schon, als ich noch ein Kind war, ins George’s gegangen«, sagte Lyra. »Ich hing immer vor dem Café herum, bis sie mir ein Brötchen gaben, damit ich mich verzog.«

»Tatsächlich?«

»Ein Brötchen oder eins hinter die Ohren. Ich habe dort sogar ein bisschen mitgeholfen, Geschirr gewaschen, Tee oder Kaffee gemacht. Ich glaube, ich war damals ungefähr neun.«

»Haben das deine Eltern ...? Oh Gott, entschuldige, tut mir leid.«

Das Einzige, was Lyras Freunde über ihre Vergangenheit wussten, war, dass ihre Eltern aus angesehenen Familien stammten und starben, als sie noch klein war. Verständlicherweise war das eine Quelle großen Kummers für Lyra, und weil sie nie darüber sprach, kursierten natürlich wilde Spekulationen. Miriam war beschämt.

»Nein, damals war ich in der Obhut des Jordan College«, erklärte Lyra heiter. »Wenn sie eine Ahnung gehabt hätten, ich meine, wenn die Jordan-Leute es gewusst hätten, wären sie sicher überrascht gewesen, aber dann hätten sie es wieder vergessen und ich wäre sowieso weiter dorthin gegangen. Ich habe mehr oder weniger getan, was ich wollte.«

»Wusste denn niemand, was du so treibst?«

»Doch, die Haushälterin Mrs Lonsdale. Sie war ziemlich böse und hat mich immer ausgeschimpft. Aber sie wusste, dass es nichts nutzte. Wenn es nötig war, konnte ich auch recht artig sein.«

»Wie lange warst du ... ich meine, wie alt warst du, als ...? Entschuldige, ich will nicht neugierig sein.«

»Das Früheste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich zum Jordan gebracht wurde. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich da war – vermutlich noch ein Baby. Ich wurde von einem großen Mann getragen. Es war Mitternacht und ein Gewitter tobte mit Blitz und Donner und strömendem Regen. Er saß auf einem Pferd und ich war in seinen Umhang gehüllt. Dann hämmerte er mit einer Pistole gegen eine Tür. Die Tür wurde geöffnet und drinnen war es hell und warm. Er reichte mich an jemanden weiter, und ich glaube, er küsste mich, stieg wieder auf sein Pferd und ritt davon. Vermutlich war er mein Vater.«

Miriam war sehr beeindruckt. In Wahrheit wusste Lyra nicht genau, ob die Geschichte mit dem Pferd stimmte, doch sie gefiel ihr.

»Das ist so romantisch«, sagte Miriam. »Und das ist das Erste, an das du dich erinnerst?«

»Das Allererste. Danach habe ich einfach ... im Jordan gewohnt. Und tue es seitdem. Was ist das Erste, an das du dich erinnerst?«

»An den Duft von Rosen«, sagte Miriam unvermittelt.

»War irgendwo ein Garten?«

»Nein. Nur die Fabrik meines Vaters, wo Seife und so was hergestellt wird. Ich saß auf seinen Schultern und wir befanden uns in der Abfüllanlage. Es war ein so betäubender süßer Duft ... Die Kleider der Männer rochen danach und ihre Frauen mussten sie waschen, um den Duft zu vertreiben.«

Lyra wusste, dass Miriams Familie reich war und ihren Wohlstand Seifen, Parfüms und Kosmetika verdankte. Miriam besaß eine beachtliche Sammlung von Düften, wohlriechenden Cremes und Shampoos, und es gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen ihrer Freundinnen, die neuesten auszuprobieren.

Plötzlich bemerkte Lyra, dass das Mädchen weinte. Sie blieb stehen und griff nach Miriams Arm. »Miriam, was ist los? Liegt es an dem Brief?«

»Daddy ist pleite«, sagte Miriam unter Schluchzen. »Es ist alles vorbei. So, nun weißt du es.«

»Oh, Miriam, das ist ja grauenhaft.«

»Und wir werden nicht ... sie können nicht ... Sie verkaufen das Haus und ich muss das College verlassen, denn sie können es nicht mehr bezahlen.«

Sie war nicht fähig, weiterzusprechen. Lyra breitete die Arme aus und Miriam schmiegte sich an sie und weinte. Lyra atmete den Duft ihres Shampoos ein und überlegte, ob es ebenfalls Rosenessenzen enthielt.

»Ruhig«, sagte sie. »Du weißt, dass es Stipendien und Fördermittel gibt, und ... Und du wirst bestimmt nicht vom College abgehen müssen.«

»Aber alles wird sich ändern! Sie müssen alles verkaufen und wegziehen ... ich weiß nicht, wohin ... Und Danny muss Cambridge aufgeben und ... es ist alles so schrecklich.«

»Es klingt bestimmt schlimmer, als es ist«, sagte Lyra. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Pan mit Syriax flüsterte, und sie wusste, dass er genau das Gleiche sagte wie sie. »Natürlich war es ein Schock für dich, beim Frühstück durch einen Brief davon zu erfahren. Aber ehrlich, man überlebt so etwas, und manchmal entwickelt sich danach alles viel besser, als man vermutet hat. Ich wette, dass du das College nicht verlassen musst.«

»Aber alle werden erfahren ...«

»Na und? Du brauchst dich deswegen doch nicht zu schämen. So etwas kommt immer wieder in Familien vor und es ist nicht ihre Schuld. Wenn du gut damit fertigwirst, wird man dich dafür bewundern.«

»Schließlich ist es nicht Daddys Schuld.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Lyra, die keine Ahnung hatte. »Es ist die Konjunktur, wie man uns in Wirtschaftsgeschichte immer beibringt. Dinge, die zu mächtig sind, als dass man etwas dagegen tun könnte.«

»Es ist einfach passiert und niemand hat es kommen sehen.« Miriam kramte in ihrer Tasche, zog den zerknitterten Brief heraus und las: »Die Lieferanten sind uneinsichtig. Und obwohl Daddy immer wieder nach Latakia gefahren ist, konnte er nirgendwo eine gute Quelle auftreiben – offensichtlich kaufen die großen Firmen alles für den medizinischen Bedarf auf – man kann absolut nichts dagegen tun – es ist einfach grauenhaft.«

»Lieferanten wovon?«, fragte Lyra. »Von Rosen?«

»Ja. Sie kaufen sie von den dortigen Gärten und destillieren sie. Öl. Rosenöl oder so was.«

»Kann man nicht englische Rosen nehmen?«

»Ich glaube nicht. Es müssen Rosen aus diesen Gärten sein.«

»Oder Lavendel, davon gibt es jede Menge.«

»Sie ... ich weiß nicht.«

»Ich nehme an, die Männer werden ihren Job verlieren«, sagte Lyra, als sie in die Broad Street, gegenüber von Bodleys Bibliothek, einbogen. »Die Männer, deren Kleidung nach Rosenduft roch.«

»Vermutlich. Oh, es ist alles so schrecklich!«

»Das ist es. Aber du kannst damit fertigwerden. Wenn wir beim George’s sind, entwerfen wir einen Plan, was du tun kannst, und überlegen alle Möglichkeiten, alle Optionen, dann fühlst du dich gleich besser. Du wirst sehen.«

Im Café bestellte Lyra Spiegeleier mit Schinken und ein großes Glas Tee. Miriam wollte nur einen Kaffee, aber Lyra bestellte bei George noch ein Rosinenbrötchen für sie.

»Wenn sie es nicht isst, nehme ich es«, sagte sie.

»Bekommt ihr im College nicht genug zu essen?«, erkundigte sich George. Noch nie hatte Lyra einen Mann mit derart flinken Händen gesehen. Er schnitt ein Stück Brot ab, bestrich es mit Butter, schenkte ein, streute Salz über etwas und schlug Eier auf. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie ihn wegen seiner Geschicklichkeit sehr bewundert. Er konnte mit einer Hand drei Eier auf einmal in die Bratpfanne schlagen, ohne Eiweiß zu verspritzen, das Eigelb zu zerstören oder ein Stück Schale hineinzubröckeln. Einmal hatte sie das Gleiche mit zwei Dutzend Eiern hintereinander versucht, was ihr eine Ohrfeige eingebracht hatte. Sie musste zugeben, dass sie die verdient hatte. Sie beherrschte den Eiertrick bis heute nicht.

Lyra lieh sich von George ein Blatt Papier und einen Stift und malte drei Spalten auf das Papier. Die erste Spalte trug die Überschrift Dinge, die erledigt werden müssen, die zweite Dinge, die herauszufinden sind, und die dritte Dinge, über die man sich keine Sorgen mehr machen muss. Dann füllten sie und Miriam gemeinsam mit ihren beiden Dæmonen das Blatt mit Vorschlägen und Ideen aus, während sie ihr Frühstück aßen. Miriam verzehrte das Rosinenbrötchen, und als sie das Blatt Papier vollgeschrieben hatten, war ihre Stimmung fast heiter.

»Siehst du«, sagte Lyra. »Es ist immer eine gute Idee, zu George zu gehen. Das Frühstück im St. Sophia ist sehr spartanisch. Was das Jordan angeht ...«

»Ich wette, dort ist es nicht so karg wie bei uns.«

»Beeindruckendes Silbergeschirr mit Kedgeree, pikanten Hammelnierchen oder Räucherheringen. Eben dem Stil angepasst, an den die jungen Herren gewöhnt sind. Ganz hübsch, aber ich würde es nicht jeden Tag haben wollen.«

»Danke, Lyra«, sagte Miriam. »Ich fühle mich schon viel besser. Du hattest völlig recht.«

»Was wirst du jetzt tun?«

»Frau Dr. Bell aufsuchen und dann nach Hause schreiben.«

Frau Dr. Bell war Miriams moralische Unterstützung, eine Art seelsorgerische Ratgeberin und Mentorin. Sie war eine grobschlächtige, aber freundliche Frau; sie würde wissen, was das College tun konnte, um ihr zu helfen.

»Gut«, erwiderte Lyra. »Und halt mich auf dem Laufenden.«

»Das werde ich«, versprach Miriam.

Nachdem Miriam gegangen war, blieb Lyra noch einen Moment lang sitzen und unterhielt sich mit George. Mit Bedauern lehnte sie sein Angebot ab, während der Weihnachtsferien für ihn zu arbeiten, und trank ihren Becher Tee zu Ende. Doch schließlich kam der Augenblick, da sie und Pan wieder allein waren.

»Was hat er dir erzählt?«, fragte sie Pan und meinte damit Miriams Dæmon.

»Am meisten macht sie sich Sorgen wegen ihres Freunds. Sie weiß nicht, wie sie es ihm beibringen soll, denn sie glaubt, dass er sie nicht mehr mögen wird, wenn sie nicht mehr reich ist. Er ist auf dem Cardinal’s. Irgendein Adliger.«

»Obwohl wir so lange miteinander geredet und uns solche Mühe gegeben haben, hat sie mir nicht erzählt, was sie am meisten beunruhigt? Das finde ich nicht gut«, sagte Lyra und griff nach ihrem abgetragenen Mantel. »Aber wenn er tatsächlich so empfindet, dann taugt er sowieso nichts. Pan, entschuldige bitte«, fügte sie hinzu und war selbst genauso überrascht wie er, »du wolltest mir vorhin erzählen, was du letzte Nacht gesehen hast, und ich hatte keine Zeit, darauf einzugehen.« Sie winkte George zu, als sie das Café verließen.

»Ich habe gesehen, wie jemand ermordet wurde«, sagte er.