Aus dem Englischen von Annette von der Weppen
Natalies Selbstbewusstsein ist ohnehin nicht gerade robust – und jetzt wird auch noch aus ihren besten (und einzigen) Freunden Zach und Lucy ein Paar! Natalie braucht dringend ein eigenes Sozialleben. Und am besten auch einen eigenen Freund. Da kommen ihr Zachs Bruder Alex und dessen Freund Owen gerade recht. Auf ihrer ersten Party ohne Zach und Lucy schließt sich Natalie sicherheitshalber sofort im Bad ein – mit Klopapier-Knäueln unter den Armen, gegen das Stressschwitzen. Die Sache mit dem Smalltalk muss sie eindeutig noch üben …
»Ich habe dieses wundervolle, witzige und warmherzige Buch geliebt!« Melissa Keil, Autorin von »Zusammen sind wir unendlich«
»In meinem Kopf klangs irgendwie besser« ist der erste Roman von Nina Kenwood.
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Für Dan
Es ist Weihnachten, wir sind gerade mit unserem alljährlichen Scrabble-Spiel nach dem Mittagessen fertig (mit Bonuspunkten für Worte, die irgendwie mit Weihnachten zu tun haben), als Dad sagt, wir müssten reden. Er nimmt dafür seine Schlechte-Neuigkeiten-Stimme, deshalb rechne ich mit einer weiteren Ermahnung, endlich meinen Führerschein zu machen, oder der Ankündigung, dass er seinen Twitter-Account reaktiviert hat.
»Natalie, es fällt mir wirklich schwer, dir das zu sagen, aber wir, äh, wir wollen uns trennen«, sagt er.
»Wer ist ›wir‹?«
»Deine Mutter und ich.«
»Trennen?« Das Wort liegt mir schwer und fremd auf der Zunge.
»Schluss machen«, sagt Dad, der natürlich immer noch eins draufsetzen muss.
Mum kommt ins Zimmer und kaut an einem Apfel. Sie hat sich geschworen, dieses Jahr Weihnachten nur Obst zum Nachtisch zu essen, weil sie bis Januar zwei Kilo abnehmen will, was mir jetzt, wo ich weiß, dass sie sich auf ihr Singledasein vorbereitet, schon eher einleuchtet.
»Ihr wollt euch trennen?« Mein Ton ist freundlich, damit ihnen Raum bleibt, um »Nur Spaß!« zu sagen. Vielleicht ist das Ganze ja auch bloß ein raffinierter Scherz, auch wenn unser Haushalt sonst nicht zu Scherzen neigt, schon gar nicht wenn sie so unlustig und verstörend sind wie dieser.
Mum scheint von meiner Frage überrascht und kaut sehr lange auf ihrem Apfelbissen herum, bevor sie antwortet.
Nein, sie wollen sich nicht trennen, Modalverb im Präsens, sondern sie HABEN sich bereits getrennt, vollendete Gegenwart und Großbuchstaben. Die Entscheidung ist nicht neu. Also, für mich schon, aber sie selbst wissen das schon ewig. Seit zehn Monaten, um genau zu sein.
»Was soll das heißen, seit zehn Monaten?« Entrüstet klappe ich meinen Laptop zu. Ich würde ja gern behaupten, in den letzten Minuten vor diesem schicksalhaften Gespräch mit irgendwas Tiefschürfendem beschäftigt gewesen zu sein, aber in Wahrheit habe ich mir gerade ein Video angesehen, wo sich eine Katze vor ihrem eigenen Spiegelbild erschreckt.
Mum wirkt leicht überrumpelt. Ihre Idee war das nicht, sagt sie, mir das ausgerechnet hier und heute mitzuteilen. Natürlich nicht. Schließlich ist Weihnachten.
»Erinnerst du dich noch, wie dein Vater Anfang letzten Jahres so lange in Europa war?«, fragt sie mich.
»Flüchtig.« Ich will endlich zu dem Teil der Geschichte kommen, wo sie mir erklären, warum sie mich fast ein ganzes Jahr lang belogen haben. Oder wann genau sie aufgehört haben, sich zu lieben, und warum mir das offenbar völlig entgangen ist.
»Flüchtig? Ich war einen ganzen Monat lang weg, Natalie!« Dad macht ein gekränktes Gesicht. Er sitzt auf unserem uralten Sitzsack, dessen Füllung schon lange nichts mehr füllt, sodass Dad sich total eng zusammenfalten muss, die Knie fast unterm Kinn.
»Ja, doch, ich erinnere mich.« Er war nach London geflogen und hatte mir so ein hässliches T-Shirt mit einem etwas unscharfen Porträtfoto von Prinz Harry vorne drauf mitgebracht, weil es in unserer Familie so üblich ist, von jeder Reise möglichst geschmacklose Souvenirs mitzubringen. Dieses T-Shirt ist jetzt mein zweitliebstes Schlafanzug-Oberteil, gleich nach meinem grünen Slytherin-Pyjama.
»Jedenfalls haben wir diese Zeit dazu genutzt, über unsere Beziehung nachzudenken, und als dein Vater zurückkam, haben wir – einvernehmlich – beschlossen, dass wir nicht mehr als Paar zusammenleben wollen.« Mums Augen glänzen gefühlvoll, aber sie ruiniert diesen Eindruck, indem sie wieder mit einem lauten, fröhlichen Krachen in ihren Apfel beißt.
Das ist alles so widerlich beherrscht und souverän. Unerträglich. Ich will Tränen, Geschrei, dramatische Szenen. Ich will, dass auch andere das Gefühl haben, ihnen säße ein fetter Riese auf der Brust.
»Hier muss sich niemand einen Vorwurf machen«, sagt Dad – genau der Satz, den jemand sagen würde, der sich einen Vorwurf machen sollte.
»Und diese Entscheidung habt ihr im Februar getroffen?« Ich hoffe immer noch, dass ich da was missverstanden habe.
»Ja«, sagt Dad.
»Vor. Zehn. Monaten.« Ich kann das noch so laut und langsam sagen, dadurch wird es für mich nicht begreiflicher.
»Richtig.« Dad nickt ermutigend, als würde ich mich mit einer kniffeligen Matheaufgabe herumschlagen.
»Aber das ganze letzte Jahr habt ihr doch noch zusammengelebt.«
»Mit getrennten Schlafzimmern«, sagt Mum.
»Weil Dad so schnarcht, hast du gesagt.«
»Na ja, deshalb auch. Und wegen unserer Trennung.«
»Aber … ich hab euch doch gerade erst zwei Küchenschürzen im Partnerlook geschenkt, und ihr habt gesagt, solche hättet ihr euch schon immer gewünscht.«
»Die können wir doch trotzdem noch tragen, Liebes.«
»Könnt ihr nicht!«
Es gibt so viele Gründe, warum das überhaupt nicht geht.
Wir mögen ja nur eine Kleinfamilie sein, aber ansonsten sind wir großartig. Beneidenswert. Heute zum Beispiel: So ein gemütliches Drei-Personen-Weihnachten kriegt sonst keiner so gut hin. Wir haben Weihnachtsstrümpfe mit unseren Namen drauf, gucken Stirb langsam und spielen Scrabble, essen Dads selbst gebackene Mince Pies und packen mit großem Tamtam unsere Geschenke aus, eins nach dem anderen. Wir hören Weihnachtslieder, tragen Nikolausmützen und machen alberne Fotos. Und jetzt gehen sie einfach hin und kippen Essig in unsere zuckrige Idylle.
Zehn Monate. So lange machen sie mir jetzt schon was vor. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich darüber nachdenke.
»Dein Vater und ich sind immer noch Freunde, Natalie. Gute Freunde. Wir werden weiterhin in Kontakt bleiben. Wir wollen einfach nur nicht mehr miteinander verheiratet sein.«
Mum ist offenbar der irrigen Annahme, ihre Freundschaft wäre mir irgendwie ein Trost.
»Aber das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn. Und warum erfahre ich erst jetzt davon?« Ich wäre gern hysterisch und in Tränen aufgelöst, aber ihre Ruhe erstickt meine Wut wie eine nasse Decke. Gehört wahrscheinlich zur Strategie. Lass sie bloß keine Szene machen. Wenn wir Ruhe bewahren, bleibt ihr auch nichts anderes übrig. Die Dinge sind immer nur so wichtig, wie man sie nimmt. Der letzte Satz ist einer von Mums Lieblingssprüchen, insbesondere wenn sie mich an einem Bad Skin Day vor die Tür kriegen will.
Und jetzt setzt sie doch tatsächlich an in ihren Apfel zu beißen, aber ich schnappe ihn ihr weg.
»Kannst du vielleicht mal kurz mit dem Essen aufhören?!« Jetzt bin ich doch beinahe laut geworden.
Mum setzt sich neben mich aufs Sofa. Nimmt mich in den Arm und streicht mir übers Haar, als wäre ich ein Tier, das man beruhigen muss. Am liebsten würde ich die Zähne fletschen, mich aus ihrem Griff befreien und brüllend die Straße runterrennen.
»Wir wollten warten, bis du mit der Schule fertig bist. Du solltest in diesem wichtigen letzten Jahr möglichst ungestört lernen können.«
»Wir haben dich lieb, meine Süße«, sagt Dad und rutscht mit seinem Sitzsack näher heran, was ein unschönes Furzgeräusch auf dem Dielenboden erzeugt, das wir alle geflissentlich überhören.
»Ihr habt mich also das ganze letzte Jahr belogen.«
»Nicht belogen. Nur ein bisschen getäuscht. Ein paar Details ausgelassen.«
»Das Unvermeidliche vermieden«, sagt Dad.
»Dein Vater und ich haben uns auseinandergelebt.«
»Aber bevor wir’s dir sagen, wollten wir uns erst ganz sicher sein.«
»So was kommt nun mal vor.«
»Aber es hat ganz schön an uns genagt, das so lange vor dir geheim zu halten.«
Ich könnte schwören, dass sie sich diese Sätze vorher zurechtgelegt haben. Vielleicht sogar aufgeschrieben und vorm Spiegel geprobt. Von einem Zettel abgelesen wie für eine Rolle. Sehe ich auch traurig genug aus?, höre ich Mum in meiner Vorstellung fragen. Wenn du etwas schneller redest, klingt es natürlicher, hat Dad dann vielleicht geantwortet. Und vergiss nicht, ihr zu sagen, dass wir Freunde bleiben.
»Hier muss sich niemand einen Vorwurf machen.«
Wenn er will, dass ich ihm das glaube, sollte er es nicht ständig wiederholen.
»Wir haben dich lieb«, sagt jetzt auch Mum.
Aber das tröstet mich nicht. Ich bin schließlich ihr einziges Kind. Sie müssen mich lieb haben.
»Und bei wem soll ich dann wohnen?«, frage ich. Subtext: Gibt es wenigstens um mich noch Streit?
»Bei wem du möchtest«, sagt Dad in einem Tonfall, als würde er mir ein Geschenk überreichen.
Das war aber nicht der Plan. Laut Plan sollte ich weiterhin zu Hause wohnen, in diesem Haus, mit beiden zusammen, wenn ich nächstes Jahr mein Studium anfange. Bis auf Weiteres sollte ich hier wohnen bleiben. Für dieses Arrangement gab es kein Ablaufdatum. Das war unser Plan. Von Anfang an.
»Ich will aber nicht umziehen.« Meine Stimme zittert ein bisschen und klingt eher quengelig als energisch.
»Ganz egal, was passiert, mein Schatz, du wirst immer ein Zuhause haben«, sagt Mum mit dieser schwammigen Formulierung, die tröstlich wirken soll, letztlich aber nur noch mehr Fragen aufwirft. Ganz egal, was passiert? Was soll denn noch alles passieren?
»Sogar zwei Zuhause«, sagt Dad mit betonter Munterkeit.
Ich will aber keine zwei Zuhause. Wer will das schon? Das Wort »Zuhause« ergibt nur in der Einzahl Sinn.
Ich schaue in ihre Gesichter, die beide dasselbe künstliche »Bitte finde dich schnell mit unserer Hiobsbotschaft ab«-Lächeln zur Schau tragen, und eine düstere Vorahnung erfasst mich.
Mein Leben wird nie wieder sein, wie es war.
Ich war ein hübsches Kind. Das sage ich nicht, um anzugeben, sondern weil es stimmt. Meine Mutter wurde sogar schon mal von einer Frau darauf angesprochen, ob sie sich vorstellen könnte, mich als Kindermodel casten zu lassen.
»Ihre Tochter wäre perfekt für unseren Katalog geeignet. Sie hat genau den richtigen Look.«
Der Katalog war ein Werbeprospekt für eine Billig-Drogeriemarkt-Kette und der »richtige Look« hieß wahrscheinlich einfach ganz normal zahnlückig und sympathisch, also ohne jeden Glamour, aber es geht mir ja auch nur darum, dass mein Gesicht damals offenbar für fotogen gehalten wurde. Ich hatte glänzende dunkle Haare. Runde, makellose Wangen. Funkelnde braune Augen. (Okay, keine Ahnung, ob die je gefunkelt haben, aber mit der richtigen Beleuchtung wäre das durchaus denkbar.) Meine Lieblingsklamotten waren ein Paar lila Glitzerschuhe und ein T-Shirt mit Einhorn drauf. Selbst mein Name passte perfekt zu einem hübschen Mädchen: Natalie.
Und dann kam: die Pubertät.
Erwachsene tun meist so, als wäre die Pubertät nur ein großer Witz. Jede Erwähnung dieses Wortes ist unweigerlich von launigen Sprüchen und wissendem Lächeln begleitet. Man redet über Stimmbruch und Haarwuchs. Wenn ich vorher überhaupt mal einen Gedanken daran verschwendet hatte, beschränkte sich das auf die Vorstellung, irgendwann einen BH zu brauchen und herausfinden zu müssen, wie man einen Tampon benutzt. Leider erwies sich die Pubertät dann aber, zumindest bei mir, eher als ein Akt der Körperverletzung. Alles an mir veränderte sich so schnell und radikal, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte.
Innerhalb kürzester Zeit wurde ich von einem Strich in der Landschaft zu einer ausufernden Masse aus Bauch, Busen, Hüften, Oberschenkeln und Dehnungsstreifen. Von Dehnungsstreifen hatte ich vorher noch nie gehört, ich wusste nicht mal, dass es so was gibt, bis ich sie dann an mir selbst entdeckte. Als ich danach googelte, richteten sich alle Informationen nur an schwangere Frauen. Ich kam mir vor wie ein Ungeheuer, mit diesen dunkelroten Linien am Hintern, an den Hüften und der Innenseite meiner Oberschenkel, wie ein hässliches Graffito.
Als ein Mädchen aus meiner Klasse diese Streifen beim Umziehen vor dem Sportunterricht zufällig mal gesehen und mich danach gefragt hat, habe ich behauptet, da hätte mich meine Katze gekratzt. Das Mädchen hat zwar entsetzt die Augen aufgerissen, aber geglaubt hat sie mir trotzdem, denn genau so sahen meine Dehnungsstreifen aus: wie die brutalen Kratzspuren einer Monsterkatze.
Die Streifen waren allerdings noch harmlos im Vergleich zu meinen Pickeln. Erst nur ein paar vereinzelte, dann immer mehr, bis sie, fast über Nacht, zu einer ausgeprägten zystischen Akne wurden: Dicke, tief unter meiner Haut sitzende entzündete Knoten, auf dem Rücken, den Schultern, im Nacken und im Gesicht. Und das ist jetzt weder eine coole Geschichte noch eine tragische, wie alle sie immer gern hören, sondern einfach nur abstoßend. Ich war abstoßend. Lange Zeit war das beim Aufstehen mein erster Gedanke.
Auch meine Regel war stark und schmerzhaft, und sie durchzustehen kam mir jedes Mal vor wie ein Vollzeitjob. Fast schon zwanghaft kontrollierte ich meinen Schulrock, meine Bettwäsche, meine Unterhosen, meine Jeans, das Sofa, die Sitze in der Bahn oder im Auto – alles, wo sich vielleicht ein Hinweis auf meine Heimsuchung zeigen konnte. Ich betrachtete mich in jeder nur verfügbaren Spiegelfläche von hinten und war völlig paranoid, irgendwo eine verräterische Spur zu hinterlassen. Manchmal platzten die Pickel auf meinen Schultern auf und verursachten Flecken auf meinen T-Shirts. Ich fühlte mich schmutzig, undicht, außer Kontrolle.
Mein Körper war eine einzige schmachvolle Katastrophe geworden. Ich ging nur noch im Notfall vor die Tür, so sehr schämte ich mich für ihn. Nein, noch schlimmer: für meine ganze Existenz. Ich zog die Schultern ein, um möglichst wenig von mir zu zeigen. Ich hasste den Raum, den ich einnahm, denn ich war natürlich auch größer geworden. Ich fühlte mich riesig und ungeschlacht und auf unangenehme Weise sichtbar. Bis heute kann ich es, selbst an meinen Very Best Skin Days, nicht haben, wenn mir die Leute ins Gesicht schauen. Bei Blickkontakt fühle ich mich immer noch schutzlos ausgeliefert.
Mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn war jeder Schultag eine Qual. Erst freitagabends konnte ich wieder erleichtert aufatmen, mich aufs Bett legen und mir immer wieder versichern, dass ich jetzt zwei volle Tage lang nicht mehr vor die Tür gehen und mit niemandem außer meinen Eltern reden musste. In der Welt da draußen war ich immer angespannt, rechnete ständig mit dummen Kommentaren oder entsetzten Blicken wegen meiner unreinen Haut. Ich hatte stets ein Buch dabei, als Vorwand dafür, dass ich die ganze Zeit nach unten schaute, und im Unterricht meldete ich mich nur ganz selten, um bloß keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich hatte mir die Haare lang wachsen lassen, damit sie möglichst viel von meinem Gesicht verdeckten, und zog den Scheitel mal links, mal rechts, je nachdem, welche Hälfte gerade schlimmer aussah. Ich mied die hellen Bereiche eines Raumes und sah mir Hunderte von Stunden lang Make-up-Tutorials auf YouTube an.
In der Schultoilette sah ich nie in den Spiegel, um bloß nicht dem Blick von jemand anderem darin zu begegnen, hatte aber immer einen kleinen Taschenspiegel dabei, mit dem ich mich auf dem Klo einschließen und mein Gesicht eingehend und ohne Scham untersuchen konnte. Außerdem schmuggelte ich Tönungscreme und einen Abdeckstift mit rein, um beides über den Tag hinweg regelmäßig zu erneuern.
Akne tut auch weh. Darüber redet bloß keiner. Über alles andere natürlich auch nicht. Mir tat jedenfalls immer alles weh, Gesicht, Schultern, Rücken. Wenn mich jemand anrempelte, zuckte ich ängstlich zurück, und wenn ich aus Versehen einen Pickel in meinem Gesicht berührte, schossen mir die Tränen in die Augen. Überall musste ich aufpassen und mich vorsichtig durchschlängeln, um ja nicht gesehen, berührt oder sonst wie bemerkt zu werden.
Ungefähr mit dreizehn tauchte dann, zusammen mit den Pickeln, auch eine neue Persönlichkeit auf. Die verschlossene Natalie. Die ängstliche. Die verbitterte. Die zwanghafte. Vorher war ich das alles nicht gewesen, und eigentlich war ich das auch immer noch nicht, nicht wirklich, aber so nahmen mich die Leute eben wahr.
Selbst jetzt, mit achtzehn, möchte ich manchmal noch aufspringen und rufen: So bin ich eigentlich gar nicht!
Mit all diesen umständlichen Erklärungen will ich eigentlich nur deutlich machen, dass ich in den ersten Jahren auf der Highschool eine Außenseiterin war. Also, ein bisschen bin ich das auch jetzt noch, aber damals war das fast schon krankhaft.
Und bis dann mein Gesicht so halbwegs in Ordnung kam und ich Zach und Lucy kennenlernte und ein bisschen selbstsicherer wurde, waren meine Eltern alles, was ich hatte.
Am Tag nach dem weihnachtlichen Paukenschlag fahre ich rüber zu Zach und trete, ohne anzuklopfen, durch die Hintertür ins Haus. Wir sind jetzt schon seit Jahren befreundet, aber insgeheim gibt es mir immer noch einen kleinen Kick, dass ich einfach so unangekündigt bei ihm aufkreuzen darf. Als hätte ich damit das höchste Freundschaftslevel geknackt.
»Hallo?«, rufe ich.
»Natalie.« Lucy erscheint am Ende des Flurs. Lucy und Zach sind seit neun Monaten offiziell ein Paar, in unserem Alter eine sehr lange Zeit, fast schon verheiratet, aber irgendwie habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt. Früher waren wir einfach nur drei befreundete Individuen – die drei gleichberechtigten, einander eng, aber rein platonisch verbundenen Punkte eines Dreiecks. Jetzt hingegen bestehen wir aus einem schwer verliebten Paar (die beiden) und einer Person, die samstagabends nichts Besseres zu tun hat, als ihren Hinterkopf im Spiegel zu fotografieren, weil sie immer schon mal wissen wollte, wie der von hinten aussieht (ich).
Außerdem muss ich jetzt immer alles hinterfragen. Gucken wir heute Abend wie immer einen Film, oder wollen sie vielleicht allein sein? Wenn ich einem von beiden ein Geheimnis anvertraue, weiß es dann am nächsten Tag auch gleich der andere? Muss ich mich, wenn die beiden sich streiten, sofort für eine Seite entscheiden, und falls ja, kann ich die zwischendurch auch noch mal wechseln? Wie oft reden sie wohl über mich, in genauen Zahlen, wenn ich nicht dabei bin? (Einerseits eine schreckliche Vorstellung, aber wenn sie es nicht täten, fände ich das genauso schrecklich. Ich wäre schon gern eins ihrer drei wichtigsten Gesprächsthemen, aber nur, wenn sie dabei hauptsächlich meine schillernde Persönlichkeit bewundern.)
Zach taucht hinter Lucy auf und schlüpft in seine Socken. Zach ist das Maß, an dem ich alle anderen Typen messe. Seine Eigenheiten, seine Gesten, seine Stimme, seine Größe, seine schlaksige Haltung – er ist alles, was ein Junge sein muss, einfach deshalb, weil er der einzige ist, den ich näher kenne, und zudem auch noch der netteste.
Lucy kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm.
»Echt blöd«, sagt sie. Gestern Abend habe ich ihr von meinen Eltern erzählt.
Lucy kann gut umarmen. Sie ist mein Lieblingsmensch auf dieser Welt, deshalb brauche ich sie nur anzusehen, und schon gehts mir besser.
»Mir tut’s auch leid«, sagt Zack.
»Danke«, antworte ich. Ich würde ja gern behaupten, dass ich kein Mitleid brauche, aber um ehrlich zu sein, genieße ich die Anteilnahme meiner Freunde immer sehr, erst recht in dieser Sache. Zum einen zeigt es mir, dass ich Freunde habe, die sich wirklich für mich interessieren – was, wenn man weiß, wie es sich anfühlt, überhaupt keine Freunde zu haben, schon mal viel wert ist. Und zum anderen ist die Trennung der Eltern ein erfrischend normales und anerkanntes Problem und weit weniger peinlich als meine üblichen »Ich hab so einen fetten Eiterpickel im Gesicht, dass ich gerade in eine Depression abrutsche und heute im Bett bleiben muss«-Krisen.
Während ich Zach und Lucy den Flur hinunter folge, kommt Mariella, Zachs Mutter, aus der Küche gerauscht und drückt mich an sich.
»Wie gehts dir, Süße? Zach hat mir von deinen Eltern erzählt. Keine Sorge, das wird sich alles finden. Und du darfst auch niemandem einen Vorwurf machen, Beziehungen sind nun mal nicht einfach. Sal und ich hätten uns im Laufe der Jahre auch schon ein paarmal fast getrennt. Eigentlich ein Wunder, dass wir noch zusammen sind.«
Mariella ist manchmal etwas überkommunikativ.
»Mum, bitte!« Zach streckt seinen Arm zwischen uns, als könnte er die Worte seiner Mutter damit aufhalten. »Schnell weg, Natalie«, sagt Anthony, Zachs jüngerer Bruder, der gerade vorbeikommt und in einem fast überschwappenden Kakaoglas rührt. Zach hat noch drei Brüder, und seit meinem ersten Besuch in diesem Haus ist mir endgültig klar, warum es Jumbo-Packungen gibt.
Ich lache und schiebe Zach beiseite, um Mariella noch einmal zu drücken. Ich habe so die Vermutung, dass ich ihr Liebling bin (bei der Wahl zwischen Lucy und mir), und der Gedanke schmeichelt mir mehr, als ich mir eingestehen will. Wenn ich schon nicht Zachs Nummer eins bin, dann wenigstens die seiner Mutter.
Erwachsenenlob war allzu lange meine Lieblingsdroge.
Das Haus von Zachs Eltern ist viel größer und schöner als unseres. Sie haben mit Sicherheit mehr Geld als meine und Lucys Eltern, auch wenn keiner von uns das je thematisieren würde. Es ist trotzdem mehr als offensichtlich, sickert sozusagen aus allen Ritzen und Fugen, angefangen bei diesem Haus, bis hin zu der Tatsache, dass Zachs Eltern alle vier Kinder auf eine Privatschule schicken können und dass Zach alle Kinofilme immer in 3-D sehen will, sogar die schlechten, in die wir nur so aus Jux reingehen.
Deshalb gibt es bei Zach zu Hause auch noch ein Extrazimmer, das von allen nur »die Höhle« genannt wird – keine Ahnung, wieso. In der stehen ein riesiger Fernseher, mehrere Spielkonsolen, zwei große alte Ledersofas und sonst nicht viel mehr. Die Höhle ist der offizielle Aufenthaltsraum für sämtliche Söhne und deren Freunde, weil Mariella nicht möchte, dass die alle im guten Wohnzimmer abhängen.
»Wenn sich zu viele pubertierende Teenager zu lange in einem Raum aufhalten, nimmt der einen Geruch an, den man nie wieder loswird«, sagt sie. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber es klingt jedenfalls einleuchtend, und wer sollte so etwas wissen, wenn nicht die Mutter von vier Söhnen? Und die Höhle riecht in der Tat ein bisschen streng, so eine Mischung aus Deo, Schweiß und Essen.
Dort machen wir’s uns jetzt jedenfalls gemütlich. Lucy setzt sich neben mich aufs Sofa, Zach nimmt auf dem anderen Sofa Platz. Das machen sie bestimmt mit Absicht, um ihr Paar-Sein angesichts der Trennung meiner Eltern nicht noch zu betonen. Früher war es immer so, dass Lucy und ich die beiden Unzertrennlichen waren und Zach ein bisschen mehr außen vor. Diese Nähe konnte er nie so richtig aufbrechen. Na ja, jetzt hat er wohl doch einen Weg gefunden.
Lucy lehnt den Kopf an meine Schulter. Ihre Haare kitzeln mich an der Wange.
»Wie gehts denn jetzt weiter mit deinen Eltern?«
»Dad zieht aus.«
»Wow, das war ja schnell«, sagt Zach.
»Na ja, immerhin sind sie schon seit fast einem Jahr getrennt. Insofern war es eher ziemlich langsam.«
»Und wo zieht er hin?«, fragt Lucy.
»Er hat ein Apartment gemietet, in Port Melbourne.«
Ich kann ihn mir überhaupt nicht in einem Apartment vorstellen. Das ist doch eher was für junge Leute, nicht für 47-Jährige, die gern Schach spielen, Paella kochen und im Chor singen. Andererseits sind Apartments natürlich genau für solche Leute wie Dad gemacht, schließlich ist er jetzt ja wieder Single. Als Nächstes wird er sich beim Online-Dating anmelden und ich muss ständig irgendwelche quälenden Kennenlerntreffen mit freundlich desinteressierten Frauen über mich ergehen lassen. Wahrscheinlich muss ich auch noch das Foto für seine Profilseite von ihm machen, also möglichst eins, auf dem er nicht wie ein Serienmörder aussieht (keine leichte Aufgabe, weil er auf Fotos nie lächelt), und seinen Text nach Tippfehlern absuchen, weil er ja sonst niemanden mehr hat, der das für ihn machen kann. Ich sehe meine Zukunft schon vor mir: wie ich Stunden damit zubringe, die Dating-Profile meiner Eltern zu überarbeiten und sie dann zu trösten, wenn sie überraschend sitzen gelassen oder, noch schlimmer, um große Summen erleichtert worden sind.
»Man kann ja über meine Mutter sagen, was man will, aber eins ist sicher: So was Wichtiges könnte sie niemals vor mir geheim halten«, sagt Zach, den Mund voller Schokokekse.
Das stimmt. Mariella kann nicht mal die unwichtigen Dinge für sich behalten. Im Laufe der Jahre haben wir einiges mehr von ihr erfahren, als wir jemals wissen wollten, so auch über den Typen, mit dem sie vor Sal zusammen war (»Der hat immer seine abgeschnittenen Fußnägel im Waschbecken liegen lassen, also wenn das kein Zeichen für einen Soziopathen ist, dann weiß ich’s auch nicht«), über den Ladendiebstahl, bei dem sie mal erwischt worden ist (»Da war ich zwölf und meine Cousine sollte den Verkäufer ablenken, hat sie aber nicht gemacht, und deshalb besuchen wir sie bis heute auch nicht mehr zu Ostern«), und wie sie mal einem Geist begegnet ist (»Eine alte Frau mit weißen Haaren, die plötzlich vor unserem Bett stand, aber ich hatte keine Angst, weil ich wusste, dass ihr Zorn sich gegen Männer richtet, also war nur Sal in Gefahr«).
»Meine Mutter würde meinen Vater niemals verlassen. Und erst recht nicht zulassen, dass er sie verlässt«, sagt Lucy. Auch das ist wahr. Lucys Mutter wäre lieber fünfzig Jahre lang unglücklich, als sich scheiden zu lassen, denn eine Scheidung könnte ja als Scheitern ausgelegt werden, und dieses Wort existiert nicht in ihrem Vokabular. Hat sie selbst mal wortwörtlich so gesagt. Lucys Mutter läuft jeden Morgen zehn Kilometer, noch vor dem Frühstück, und auf ihrem Sportshirt steht weithin lesbar: Hör nicht auf, wenn du müde bist – hör auf, wenn du’s geschafft hast. Sie ist selbstständige Unternehmerin, arbeitet sechzig Stunden die Woche und hat Lucy schon als »meine kleine Debating-Queen und Star-Juristin« vorgestellt, als die gerade erst zwölf und noch nicht mal Mitglied im Debattier-Klub war.
Lucys Mutter ist … vieles.
Früher konnte ich mich wenigstens damit trösten, dass meine Mutter nicht ganz so anstrengend ist wie die von Lucy oder Zach, aber jetzt, wo meine Eltern ihre Trennungsbombe gezündet und mir fast ein ganzes Jahr lang was vorgespielt haben, ist auch dieser eine Pluspunkt in meinem Leben dahin. Jetzt habe auch ich familiäre Probleme, zu all den anderen noch dazu.
»Kaum zu glauben, dass uns nie was aufgefallen ist«, fügt Lucy hinzu.
»Kaum zu glauben, dass mir nie was aufgefallen ist.«
Ich darf nicht zu lange darüber nachdenken, sonst kriege ich ein mulmiges Gefühl im Magen, so ähnlich, wie wenn ich zu sehr über mein Leben nachdenke und über das, was vielleicht nach dem Tod kommt. Quasi mein ganz persönliches böses Erwachen: Meine Eltern haben den Vorhang geöffnet, und was ich dahinter entdecke, verursacht mir Übelkeit.
»Und jetzt, im Nachhinein, fällt dir da irgendwas auf?«, fragt Zach.
»Nee, auch nicht. Ich habe sie immer für perfekt gehalten, womit mein Konzept einer glücklichen Beziehung jetzt natürlich für alle Zeiten zerstört ist. Eigentlich müsste ich sofort eine Art Präventiv-Therapie anfangen, um meine zukünftigen Eheprobleme schon mal anzugehen, bevor sie akut werden können.«
Zach und Lucy wechseln einen »Jetzt dreht sie endgültig ab«-Blick, den ich geflissentlich ignoriere.
In diesem Moment betritt Alex das Zimmer, Zachs älterer Bruder, mit seinem Freund Owen Sinclair im Schlepptau.
Alex ist neunzehn und hat gerade sein erstes Ausbildungsjahr als Koch hinter sich. Er ist zwar anderthalb Jahre älter als Zach, aber Zach ist nur einen Jahrgang unter ihm, weil er bei ihrem Umzug von Perth nach Melbourne eine Klasse übersprungen hat. Genau das ist auch Zachs Rolle in dieser Familie: der Intelligente, Erfolgreiche, der clevere kleine Überflieger. Auch wenn ich selbst nur Einzelkind bin, habe ich inzwischen schon mitgekriegt, dass Geschwisterkinder meist eine bestimmte Rolle in ihrer Familie übernehmen. Alex zum Beispiel ist der unbeschwerte Draufgänger, der allen Mädchen den Kopf verdreht und aus dem Nichts die köstlichsten Gnocchi zaubern kann. Und die beiden jüngeren Brüder sind der niedliche Schüchterne, dem man nichts abschlagen kann (Anthony, 15), und das Dino-fixierte Nesthäkchen (Glenn, 12).
Alex geht mit der Mühelosigkeit eines allseits vergötterten Erstgeborenen durchs Leben. Seine Ex ist superattraktiv, sein Vorrat an grauen T-Shirts mit V-Ausschnitt schier endlos und sein Freundes- und Bekanntenkreis riesengroß. Genau die Art von Frauenschwarm, die ich instinktiv meide.
Und ich mag ihn auch einfach nicht. Nein, das stimmt nicht. Alex war nie irgendwie gemein zu mir. Genau genommen hat er mir sogar mal das letzte Stück Pizza angeboten und ein anderes Mal, als er gerade ins Zimmer kam, während Zach und ich uns über irgendwas gestritten haben, hat er im Vorbeigehen »Natalie hat recht« gesagt. Aber ich traue ihm einfach nicht und hege das unbewiesene Vorurteil, dass er irgendwie schlecht über mich denkt.
Sein Freund Owen Sinclair ist auch so ein Frauenschwarm, aber nicht ganz so verunsichernd, weil er eigentlich nur mit sich selbst beschäftigt ist und deshalb gar keine Zeit hat, etwas Schlechtes über andere zu denken. Er ist groß, mit einem glatten, etwas rundlichen Gesicht und surferblonden Haaren, ziemlich einfach gestrickt und blind für alles, was nicht direkt vor seiner Nase passiert. Die Mädchen lieben ihn und er liebt sie. Es geht das Gerücht um, dass er mal am helllichten Tag irgendwas Unanständiges – keine Ahnung, was genau – mit einem Mädchen auf einer Parkbank gemacht haben soll. Er kann Gitarre spielen und beim Basketball fast einen Dunking machen. Manchmal bindet er sich die Haare zu einem Herrendutt. Und sein zweiter Name ist Macaulay, weil seine Eltern den Film Allein zu Haus so toll fanden. Aber das ist auch schon so ziemlich alles, was ich über Owen Sinclair weiß, aufgeschnappt oder sonst wie herausgefunden habe.
»Hey«, sagt Owen und setzt sich neben mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass er vorher schon mal ein Wort mit Lucy oder mir gewechselt hat. Und ich habe ihn, glaube ich, auch noch nie direkt angesehen. Owen Sinclair ist wie die Sonne, da guckt man lieber nicht zu lange rein.
»Hi«, sagt Lucy.
»Hi«, sage ich.
»Na, was geht?«, fragt Owen.
»Nicht viel«, antworte ich.
»Cool.« Owen lehnt sich zurück, einen Arm auf der Sofalehne ausgestreckt, was man vielleicht, ganz entfernt, als den Arm um mich legen interpretieren könnte. Also, er hat ihn nicht wirklich um mich gelegt, aber sollte sein Arm aus Versehen von der Lehne rutschen, würde er es – vorübergehend – tun.
Ich senke ein bisschen den Kopf, damit Owen mein Gesicht aus der besten Perspektive sieht. Nach zwei Runden hoch dosierten Akne-Tabletten, diversen Cremes zur äußerlichen Anwendung und der erfolgreichen Suche nach der richtigen Pille ist meine Haut ungefähr tausendmal besser als früher. Inzwischen habe ich meist überhaupt keine Pickel mehr, oder höchstens mal ein oder zwei, plus die Narben, die ich mit Tönungscreme abdecke. Auf dem Rücken, wo die Akne am schlimmsten war, sind zwar tiefe Kerben zurückgeblieben (weshalb ich auch keine rückenfreien Oberteile, Bikinis oder Kleider trage), aber alles in allem hat sich der Zustand meiner Haut von lebenzerstörend zu erträglich oder sogar gut gewandelt. Allerdings vergesse ich das meist noch. Mein Denken hält immer noch an der lebenzerstörenden Phase fest.
Vor Jahren, als ich mich wieder mal auf dem Klo eingeschlossen hatte, um mein Gesicht zu kontrollieren, habe ich zufällig belauscht, wie Heather Hamilton – das Mädchen in meinem Jahrgang, das von allen mir bekannten Leuten die meisten Follower auf Instagram hat – mit ein paar anderen Mädchen über mich sprach. »Wenn Natalie nicht so viele Pickel und diesen Zinken im Gesicht hätte, könnte sie richtig hübsch sein«, hat sie gesagt, woraufhin die anderen Mädchen dann »Oh ja, das stimmt!« gerufen haben, als hätte sie eine weltbewegende Entdeckung gemacht. Normalerweise war mir Heather Hamiltons Meinung herzlich egal, aber in diesem Moment bestätigte sie mir genau das, was ich selbst immer dachte. Ohne meine Pickel … wäre alles ganz anders, wäre ich viel selbstbewusster, würde tolle Selfies machen, auf Partys gehen, für die Theater-AG vorsprechen, vielleicht sogar auf YouTube berühmt werden … wäre mein Leben so viel schöner. Ich war vierzehn, als Heather das gesagt hat, aber ich habe es bis heute nicht vergessen. Manchmal frage ich mich, ob ich es je vergessen werde.
(Mit der Nase kann ich leben. Große Nasen sind ein Zeichen für künstlerische Begabung. Aber nur Verlierer haben Akne, das hat die Welt mir eindeutig klargemacht.)
»Wie wärs, wenn wir einen Film gucken?«, schlägt Owen vor.
»Wir wollten gerade was spielen«, sagt Zach, was gelogen ist, allerdings nur so halb, weil wir das wirklich öfter machen. Aber Zach kann Owen nicht leiden. Manchmal bin ich nicht mal sicher, ob er Alex so richtig leiden kann.
»Cool. Was denn?« Owen scheint fest entschlossen, sich bei uns einzuklinken. Alex wirkt weniger interessiert, protestiert aber nicht.
Ich wechsele einen Blick mit Lucy und sehe, dass wir beide dasselbe denken: Wann hätten sich Alex und seine Freunde je für uns interessiert? Ob wir jetzt, wo wir die Schule hinter uns haben, automatisch irgendwie cooler sind? Senden wir plötzlich die Schwingungen von aufgeklärten, weltgewandten Erwachsenen aus? Oder haben die beiden einfach nur Langeweile?
»Wir wollten Widerstand spielen«, sagt Zach.
»Könnt ihr uns das beibringen?«, fragt Owen, schaut dabei aber nur Lucy und mich an.
»Das dauert zu lange«, sagt Zach.
»Ach, Quatsch, das lernt man doch schnell«, widerspricht Lucy. Die ganze Zeit sind schon Blicke zwischen ihr und Zach hin- und hergegangen, ein Schlagabtausch mit den Augen.
»Ich zeig’s euch«, sage ich.
Owen und Alex hören brav zu, während ich die Regeln erkläre und jedes Mal abwehrend die Hand hebe, wenn Zach sich einmischen will. Zach ist nämlich ein richtiger Pedant, was die Spielregeln angeht, und verliert sich dann gern in Details.
»Okay, verstanden«, sagt Alex, der bäuchlings auf dem Sofa liegt, den Kopf auf einem Kissen. Ich versuche einen unauffälligen Blick auf seine Pupillen zu erhaschen. Ob er bekifft ist? Möglich wärs. Er verdrückt jedenfalls große Mengen von unseren Schokokeksen.
»Wir sind aber zu viele, das spielt man besser nur zu dritt oder zu viert«, sagt Zach.
»Du kannst ja aussetzen«, erwidert Alex.
»Leck mich!«
Zwischen Zach und seinen Brüdern herrscht ein ziemlich rauer, aber liebevoller Umgangston. Jedenfalls halte ich ihn für liebevoll, Geschwisterbeziehungen fand ich allerdings immer schon verwirrend, vor allem unter Brüdern, wo zwischen Reden und Raufen manchmal keine zwei Sekunden liegen. Ich bin in einer Familie groß geworden, wo freitagabends alle friedlich zusammensitzen und sich den Soundtrack von Hamilton anhören. Naturdokus anschauen. Sich für schönes Briefpapier begeistern können und ihre Handys auf stumm geschaltet haben, immer. Weshalb mich all der Lärm, die Energie und die Körperlichkeit in Zachs Familie manchmal etwas überfordern.
»Lucy und ich gegen euch drei«, schlage ich vor.
»Ihr scheint euch ja ziemlich sicher zu sein«, sagt Alex.
»Wirst schon sehen«, entgegnet Lucy.
Und das tut er. Lucy und ich schlagen die drei mit links. Zach ist genervt, weil Owen die Regeln nicht kapiert und Alex keinerlei Ehrgeiz zeigt. Zach verliert sowieso nicht gern, aber erst recht nicht wegen der Unfähigkeit seiner Mitspieler.
»Okay, noch ne Runde, aber mit anderen Teams«, sagt er.
Jetzt tun sich Zach und Lucy zusammen, und ich verbünde mich mit Owen und Alex. Vorher gehe ich noch mal kurz ins Bad, um mein Gesicht zu kontrollieren und nachzusehen, ob ich vielleicht noch Essensreste zwischen den Zähnen habe oder irgendwas an der Nase, was da nicht hingehört. Aber ich sehe ganz okay aus. Leider fällt es mir schwer, das auch dann noch zu glauben, wenn ich nicht mehr vorm Spiegel stehe.
»Also, wenn ihr gewinnen wollt, überlasst ihr am besten mir die Strategie«, flüstere ich meinem Team zu, nachdem ich wieder reingekommen bin und mich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt habe.
»Und was machen wir so lange?«, fragt Owen.
»Zuschauen und lernen.« Wenn mich bei einem Spiel der Ehrgeiz packt, kann ich manchmal ein bisschen herrisch werden.
»Ich habs jetzt aber durchschaut, ich will auch was tun«, sagt Alex und greift nach einem weiteren Schokokeks.
»Okay. Du sagst mir, welchen Zug du machen würdest, und ich sage dir, ob er richtig oder falsch ist.«
»Seit wann bist du denn so ehrgeizig?«, fragt Alex grinsend und beißt in seinen Keks.
»Natalie ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne«, mischt Zach sich ein.
»Sagt der Typ, der mich mal rauswerfen wollte, weil ich bei Monopoly gewonnen hab.«
»Das ist was anderes. Monopoly ist ja auch das schlimmste Spiel der Welt«, sagt Zach.
Alex lacht. »Zach ist schon mal in Tränen ausgebrochen, weil ich auf der Parkstraße ein Hotel gebaut habe«, sagt er.
»Da war ich sechs«, sagt Zach.
»Du warst mindestens zehn«, erwidert Alex.
In Wahrheit sind Zach und ich wohl ungefähr gleich ehrgeizig. Wenn ich beim Lernen für die Abschlussprüfungen mal einen Durchhänger hatte, brauchte ich mir nur vorzustellen, wie er spätabends noch sitzt und büffelt, und schon war ich wieder hoch motiviert. Wir hatten Spaß daran, uns gegenseitig zu immer neuen Höchstleistungen anzustacheln. Lucy wohl weniger. Ich glaube, sie hat jede Sekunde in der Zwölften gehasst.
Zurzeit befinden wir uns in diesem seltsamen Zwischenstadium, wo wir zwar unsere Abschlussnoten kennen, aber noch nicht wissen, ob wir damit unseren Wunsch-Studiengang an unserer Wunsch-Uni kriegen, was uns alle drei ziemlich stresst, aber Lucy offenbar besonders. Sobald wir von der Uni oder unseren Prüfungsergebnissen anfangen, wechselt sie sofort das Thema.
Wir haben alle gute Noten bekommen. Mussten wir ja auch. Zach und Lucy haben schließlich schon konkrete Berufsvorstellungen: Zach will Mediziner werden und Lucy Juristin. Nicht sehr originell, wenn man mich fragt (sämtliche Strebertypen und Überflieger aus meinem Jahrgang haben entweder Arzt, Anwalt oder Ingenieur als Berufswunsch genannt), aber wenigstens haben sie ein Ziel. Sie wollen irgendwas werden, einen richtigen Beruf ergreifen. Geld verdienen. Ich weiß nicht, was ich werden will. Für mich war die viele Büffelei eigentlich nur das Gegengift für all die negativen Gedanken, die da lauteten »Keiner mag dich«, »Du siehst aus wie ein Monster« und »Außer guten Noten hast du eh nichts vorzuweisen«. Als könnte jede Eins in der Schule einen meiner Pickel aufwiegen.
In der Zwölften hatte ich nur noch Geschichte, Literatur, Politik, Psychologie und Englisch. Lauter Fächer, von denen ich wusste, dass sie mir liegen, wo man lesen, schreiben und analysieren muss. Eine reine Vernunftwahl. Mathe und Naturwissenschaften sind nicht so meine Stärke, aber Darstellendes Spiel hätte ich schon gern gemacht, nur das Auftreten hat mich immer abgeschreckt: zu viel Aufmerksamkeit für mein Gesicht. Wer auf der Bühne stehen will, sollte wenigstens so halbwegs damit klarkommen, dass die Leute einen ansehen. Also habe ich Alles Richtig gemacht und die Richtigen Noten bekommen, und jetzt warte ich auf meinen Richtigen Studienplatz an der Richtigen Uni. Nur hat mir das alles überhaupt nicht dabei geholfen herauszufinden, wer ich bin und was ich machen will. Ob man irgendwann mal morgens aufwacht, vielleicht nach einer besonders geruhsamen Nacht, und es dann einfach weiß? (Ich kann nur hoffen, dass das so läuft.)
Trotz aller Unentschlossenheit, was mein Leben angeht, bin ich jetzt aber fest entschlossen, bei Widerstand zu gewinnen. Unter meiner Führung tragen Alex, Owen und ich tatsächlich den Sieg davon – wenn auch nur haarscharf – und Zach ist eingeschnappt, was den Triumph noch versüßt. Alex will unbedingt noch eine weitere Runde spielen, weil ihm jetzt wieder eingefallen ist, wie gern er gegen seinen Bruder gewinnt. Wir spielen also weiter, obwohl Owen eindeutig keine Lust mehr hat, und diesmal verlieren wir. »Okay, das wars, jetzt könnt ihr gehen«, sagt Zach mit selbstgefälliger Miene, während er das Spiel einräumt.
»Wir müssen eh los«, sagt Alex, dann gähnt er und reckt sich. Obwohl er nicht besonders groß ist, hat er irgendwas an sich, das viel Raum einnimmt.
»Sag mal, Natalie, hättest du Lust, am Freitag mit zu Bennys Party zu kommen?«, fragt mich Owen völlig überraschend.
Bevor ich reagieren kann, haben Zach und Lucy schon geantwortet.
»Klar«, sagt Lucy.
»Nein«, sagt Zach.
Alex schaut die beiden an. »Seid ihr Natalies Freunde oder ihre Eltern?«
»Von beidem ein bisschen«, sage ich.
Ich weiß, warum Zach Nein gesagt hat: weil er seinen Bruder, und erst recht die Freunde seines Bruders, für keine gute Gesellschaft hält und befürchtet, dass ich so einer Party überhaupt nicht gewachsen bin. Was vermutlich beides stimmt. Lucy dagegen denkt, dass Owen ein heißer Typ ist, und wenn der mich irgendwohin einlädt, sollte ich auch hingehen, und vielleicht denkt sie auch noch, dass sie und Zach dann mal einen Abend ohne Schuldgefühle allein verbringen können. Was auch alles stimmt.
Ich sehe Owen an.
»Wer ist Benny?«
»Ein Freund von uns. Cooler Typ. Gefällt dir bestimmt.«
»Okay, ich komm mit«, sage ich, bevor ich wieder kneifen kann. Trotzdem kann ich kaum glauben, dass ich das wirklich gesagt habe. Ich geh sonst nie irgendwohin. Genau genommen hasse ich es, irgendwohin zu gehen. Insbesondere auf Partys.
»Gib mir mal deine Nummer, dann schicke ich dir die Details«, sagt Owen und zückt sein Handy. Ich spüre fast körperlich, wie Lucy vor Aufregung bebt.
Ich diktiere ihm meine Nummer, zweimal laut und deutlich, weil ich es nicht ertragen könnte, diese Chance wegen eines schnöden Tippfehlers zu verpassen. Owen schickt mir gleich eine Nachricht, den Smiley mit Sonnenbrille, dessen arrogantes Grinsen mir noch nie so schön vorkam.
»Dann hast du ja jetzt auch meine Nummer«, sagt Owen überflüssigerweise.
Ich versuche, den Gedanken beiseitezuschieben, dass ich ihn ziemlich beschränkt finde. »Super«, sage ich, obwohl ich dieses Wort eigentlich hasse. Das rutscht mir nur immer raus, wenn ich nervös bin.
Kaum dass Alex und Owen gegangen sind, packt Lucy mich auch schon an den Schultern und schüttelt mich. »Owen Sinclair hat dich auf eine Party eingeladen.«
»Ich weiß«, sage ich.
Wir fallen uns in die Arme und hüpfen kreischend auf und ab, und als Zach den Kopf über uns schüttelt, machen wir’s gleich noch mal und brechen dann lachend zusammen.
Mariella steckt den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung hier drin?«
»Owen hat Natalie auf eine Party eingeladen.«
»Owen Sinclair?«
»Genau der.«
»Ach herrje.« Mariellas Miene drückt eine Mischung aus Überraschung, Freude und Besorgnis aus.
»Seht ihr? Mum ist auch nicht begeistert«, ruft Zach triumphierend, obwohl er bei so was sonst immer reflexhaft die Gegenposition seiner Mutter einnimmt.
»Keine Sorge, ich hab nicht vor, mich in ihn zu verlieben oder so«, sage ich, obwohl vor meinem inneren Auge gerade schon mehrere romantische Fantasien ablaufen. (Eine davon: Owen und ich betreten Hand in Hand ein hippes Café, in dem so ziemlich alle aus meiner Schule versammelt sind, die ich nicht leiden konnte und die sich jetzt alle zu uns umdrehen und uns anstarren. Ich trage eine obercoole Lederjacke, mein Haar fällt in sanften Wellen herab, und irgendwer macht ein höchst schmeichelhaftes Foto von uns, wie wir lachend vor unserem Kaffee sitzen, das dann in sämtlichen sozialen Medien landet – in diesem Szenario sind wir nämlich auch noch ein bisschen berühmt.)
Als ich abends im Bett liege und nicht einschlafen kann, fällt mir auf, dass diese Partyzusage immerhin den Vorteil hat, dass ich vor lauter Stress und Aufregung kaum noch an meine Eltern denken kann.