DOUGLAS MURRAY

WAHNSINN DER MASSEN

Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften

WAHNSINN DER MASSEN

Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften

DOUGLAS MURRAY

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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EDITION TICHYS EINBLICK

2., komplett überarbeitete Auflage 2020

© 2019 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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D-80636 München

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© 2019 by Douglas Murray

This translation of THE MADNESS OF CROWDS is published by FinanzBuch Verlag by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.

Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Bloomsbury Publishing Plc. unter dem Titel The Madness of Crowds.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Birgit Schöbitz

Redaktion: Ulrike Kroneck, Manuela Kahle

Korrektorat: Silvia Kinkel

Umschlaggestaltung: Covergestaltung in Anlehnung an das Original, Marc-Torben Fischer, München

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-371-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-689-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-690-0

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INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Homosexuelle

Wenn alles zur Schwulensache erklärt wird

Eine Einbahnstraße?

Hardware gegen Software und die Notwendigkeit, »so geboren worden« zu sein

Die philosophische Verwirrung

Homosexuelle gegen Queers

Gleich oder besser?

Homosexuelle Elternschaft

Ist Homosexualität politisch?

Gibt es vernünftige Gründe für »Homophobie«?

Zwischenspiel: Die marxistischen Grundlagen

Kapitel 2: Frauen

Love you

Bring ihn zum Sabbern

Gleich oder besser?

Women mean Business

Schulungen über Vorurteile und Intersektionalität

Diese feministische Welle

Der Krieg gegen Männer

Wenn Hardware auf einmal Software sein will

Zwischenspiel: Der Einfluss der modernen Technologien

Das Verschwinden des privaten Raums

Das Silicon Valley ist in moralischer Hinsicht nicht neutral

Machine Learning Fairness

Kapitel 3: Rasse

Die akademische Welt

Wie Armie Hammer problematisiert wurde

»Entkolonialisierung« im Evergreen State College

Crazy Shit

Gecastete Verleumdung

Gestern war alles noch anders

Kulturelle Aneignung

Das zentrale Problem

Ist Schwarzsein politisch? Die Rede, nicht der Redner

Der Redner, nicht die Rede

Sarah Jeong

Die neue Rhetorik

IQ

Zwischenspiel: Vergebung

Kapitel 4: Trans

Was nicht merkwürdig ist

Intersexualität

Transsexualität

Autogynophilie

Der Durchbruch der Transmenschen

Die Geschichte eines jungen Mannes

Der feministische Stolperdraht

Die Eltern

Die Geschichte einer Familie

Die Experten

Wohin führt das alles?

Zusammenfassung

Diese Behauptungen laufen nicht zusammen, sie befördern die Divergenz

Das Problem mit der Unmöglichkeit

Was, wenn die Menschen gar nicht unterdrückt werden?

Wichtige Diskussionen, vor denen wir uns drücken

Was wirklich los ist

Lösungen

Fragen Sie doch mal nach: »Im Vergleich womit?«

Opfer haben nicht immer recht, sind nicht immer nett, verdienen nicht immer Anerkennung und sind vielleicht nicht mal Opfer

Können wir es uns leisten, großmütig zu sein?

Uns bewusst machen, wohin wir gehen

Nicht alles politisieren

Danksagung

Anmerkungen

»Die Besonderheit der modernen Welt ist nicht, dass sie skeptisch ist, sondern dass sie dogmatisch ist, ohne sich dessen bewusst zu sein.«

G. K. Chesterton

»Oh my gosh, look at her butt
Oh my gosh, look at her butt
Oh my gosh, look at her butt
(Look at her butt)
Look at, look at, look at
Look, at her butt«

Nicki Minaj

VORWORT

Wir befinden uns inmitten einer großen Verwirrung der Massen. Privat wie öffentlich, online wie offline verhalten sich Menschen zunehmend irrational, emotional, herdenartig und schlicht unangenehm. Die Nachrichten berichten immer wieder von den Folgen eines solchen Verhaltens. Erstaunlicherweise sehen wir zwar die Symptome, nicht aber die Ursachen.

Es kursieren verschiedene Erklärungen dieses Phänomens, die allesamt den Schluss nahelegen, dass dieses Chaos maßgeblich durch den Ausgang einer Präsidentschaftswahl (in den Vereinigten Staaten) oder einer Volksabstimmung (im Vereinigten Königreich) verursacht sei. Doch keine dieser Erklärungen erfasst das eigentliche Problem. Hinter diesen alltäglichen Ereignissen stecken größere Bewegungen und weitreichendere Geschehnisse. Es ist an der Zeit, sich genauer anzusehen, weshalb zurzeit einiges schiefläuft.

Auch die Ursache dieses Zustandes wird nur selten erkannt. Das liegt an der einfachen Tatsache, dass in einem Zeitraum von knapp drei Jahrzehnten alle unsere großen Narrative in sich zusammengefallen sind. Eines nach dem anderen wurde angefochten, es zu verteidigen wurde unpopulär oder unmöglich, es aufrechtzuerhalten. Seit dem 19. Jahrhundert genügten uns religiöse Erklärungen unserer Existenz nicht mehr, und im 20. Jahrhundert ereilten auch die weltlichen Hoffnungen, die die politischen Ideologien angeboten hatten, dieses Schicksal. Das ausgehende 20. Jahrhundert sah den Beginn der Postmoderne, eine Epoche, die sich selbst definiert und definiert wird durch eine große Skepsis gegenüber allen großen Erzählungen.1 Doch wie bereits Schulkinder lernen, verabscheut die Natur das Vakuum, und im Vakuum der Postmoderne begannen sich neue Ideen herauszukristallisieren, mit der Absicht, Erklärungen und Deutungen ganz eigener Art anzubieten.

Es war unvermeidlich, die entstandene Leere erneut zu füllen. Die Menschen der wohlhabenden westlichen Demokratien unserer Zeit konnten unmöglich die ersten in der Geschichte der Menschheit sein, die keinerlei Erklärung dafür fänden, was wir hier tun, und keine Erzählung hätten, die ihrem Leben Sinn verleiht. Was immer den großen Erzählungen der Vergangenheit auch gefehlt hat, so gaben sie doch dem Leben eine Bedeutung. Die Frage, was genau wir eigentlich mit unserem Leben anfangen sollen – außer Reichtümer anzuhäufen, wann immer es geht, und jedem erdenklichen Vergnügen nachzugehen, das sich uns bietet –, musste irgendwie beantwortet werden.

Seit ein paar Jahren zeichnet sich ab, dass die Antwort lauten könnte, sich an neuen Schlachten und immer wilderen Aktionen zu beteiligen und immer abseitigere Forderungen zu stellen. Sinn und Bedeutung scheinen darin zu liegen, einen Dauerkrieg gegen jeden zu führen, der auf der falschen Seite zu stehen scheint, obwohl die einer Auseinandersetzung zugrunde liegende Frage möglicherweise nur neu gedeutet und die Antwort darauf nur neu formuliert wurde. Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich diese Entwicklung vollzog, lässt sich nicht nur damit erklären, dass eine Handvoll Unternehmen aus dem Silicon Valley (vornehmlich Google, Twitter und Facebook) in der Lage sind zu steuern, was ein Großteil der Menschen auf dieser Welt weiß, denkt und äußert, sondern auch mit ihrem Geschäftsmodell, das – so wurde es einmal trefflich formuliert – darauf beruht, »Kunden zu finden, die bereit sind, Geld dafür zu zahlen, dass sie das Verhalten Dritter beeinflussen können«.2 Erschwerend kommt hinzu, dass die modernen Technologien so rasend schnell sind, dass wir kaum noch mit ihnen Schritt halten können. Dennoch werden diese Kriege nicht grundlos geführt. Sie alle weisen in eine bestimmte Richtung. Und diese Richtung verfolgt ein ungeheures Ziel. Ziel ist es – manchen Menschen dürfte es bewusst sein, anderen dagegen nicht –, eine neue Metaphysik in unserer Gesellschaft zu verankern: eine neue Religion, wenn Sie so wollen.

Obwohl die Voraussetzungen dafür bereits seit mehreren Jahrzehnten vorhanden waren, ist es erst seit der Finanzkrise von 2008 so, dass Ideen, mit denen man sich bislang bestenfalls im hintersten Winkel der akademischen Welt befasste, sich mit einem Mal im Mainstream verbreiteten. Der Reiz dieser neuen Werte liegt auf der Hand. Weshalb eine Generation, der es nicht gelingt, nennenswert Kapital zu bilden, eine Liebe für den Kapitalismus haben sollte, ist nicht ersichtlich. Andererseits ist es nicht allzu schwer nachzuvollziehen, weshalb eine Generation, die überzeugt davon ist, es niemals zu einem Eigenheim zu bringen, sich von einer ideologischen Weltsicht angezogen fühlt, die ihr verspricht, nicht nur der Ungerechtigkeit in ihrem eigenen Leben, sondern jeglicher Ungerechtigkeit auf Erden ein Ende zu bereiten. Die Welt durch eine Brille »sozialer Gerechtigkeit«, »Identitätspolitik« und »Intersektionalität« zu betrachten, mit dem Ziel einer neuen Ideologie, dürfte die wohl kühnste und umfassendste Bewegung seit dem Ende des Kalten Krieges sein.

Bis zum heutigen Tag hat die »soziale Gerechtigkeit« das Rennen gewonnen, denn das klingt nicht nur gut, es ist es auch, zumindest in einigen Ausführungen. Allein schon der Begriff! Völlig unmöglich, sich dagegenzustellen! Wie, Sie sind gegen soziale Gerechtigkeit? Und was wollen Sie stattdessen? Am Ende soziale Ungerechtigkeit? »Identitätspolitik« geht dort vonstatten, wo soziale Gerechtigkeit ihre Gremien und Ausschüsse findet. Mit ihrer Hilfe wird die Gesellschaft je nach Geschlechtsidentität, ethnischer Zugehörigkeit, sexuellen Vorlieben und dergleichen mehr in unterschiedliche Interessengruppen eingeteilt. Dabei gilt die Annahme, dass solche Merkmale die wichtigsten oder einzig relevanten Attribute der jeweiligen Gruppe sind und ihnen ein paar Pluspunkte verschaffen. So kursiert zum Beispiel die Theorie (wie es der amerikanische Schriftsteller Coleman Hughes ausdrückte), dass die Tatsache, schwarz, weiblich oder homosexuell zu sein, mit einem »höheren moralischen Wissen« einhergeht.3 Das dürfte auch der Grund sein, weshalb diese Menschen ihre Fragen oder Aussagen in der Regel mit »Ich als …« beginnen. Erschwerend kommt hinzu, dass jemand – ganz egal, ob er oder sie noch lebt oder bereits verstorben ist – auf der richtigen Seite stehen muss. Das erklärt die Forderungen, die Denkmäler für bestimmte historische Persönlichkeiten zu entfernen, sofern davon ausgegangen wird, auf der falschen Seite gestanden zu haben. Und aus diesem Grund muss die Geschichte für alle, die auf der sicheren Seite stehen wollen, neu geschrieben werden. Das erklärt, warum es für einen Senator von der Sinn Féin völlig normal ist zu behaupten, dass der Grund für die Hungerstreiks der inhaftierten IRA-Mitglieder im Jahr 1981 ihre Forderung nach mehr Rechten für Homosexuelle war.4 Identitätspolitik findet dort statt, wo Minderheiten ermutigt werden, sich gleichzeitig zu atomisieren, zu organisieren und zu erklären.

Das Konzept der »Intersektionalität« ist der Teil dieser Dreifaltigkeit, der am wenigsten ansprechend klingt. Dabei handelt es sich um nichts anderes als die Aufforderung, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, Ansprüche aufgrund der eigenen Identität und der damit verbundenen Verletzlichkeit, aber auch der von anderen herauszuarbeiten und diese so zu strukturieren, dass sie zu dem System der Gerechtigkeit (zu welchem auch immer) passen, das sich aus der von uns entdeckten, stets im Wandel begriffenen Hierarchie ergibt. Doch dieses System ist nicht nur nicht umzusetzen, sondern Irrsinn, da unmögliche Forderungen gestellt werden und Ziele erreicht werden sollen, die schlicht unerreichbar sind. Die Intersektionalität hat mittlerweile den engen Bereich der sozialwissenschaftlichen Fachbereiche, in denen sie ihren Ursprung hat, hinter sich gelassen. Inzwischen wird sie von einer ganzen Generation junger Menschen ernst genommen. Sie wurde – wie wir noch sehen werden – mithilfe des Arbeitsrechts (insbesondere durch die »Verpflichtung zur Vielfalt«) auf die Fahnen sämtlicher bedeutender Unternehmen und Behörden geschrieben.

Um uns dazu zu bringen, die neuen Annahmen zu schlucken, bedurfte es neuer Heuristiken. Die Geschwindigkeit, mit der sie zum Mainstream wurden, ist atemberaubend. Wie der Mathematiker und Autor Eric Weinstein festgestellt hat (und die Suche über Google Books bestätigt), haben Suchbegriffe wie »LGBTQ« [Anm. d. Red.: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer – Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender, Queer], »weiße Privilegien« und »Transphobie« eine beeindruckende Entwicklung genommen – von nicht vorhanden bis zu allgemein geläufig. Weiter heißt es in seinem Artikel über den resultierenden Graphen, der diese Tendenz veranschaulicht, dass das »erwachte Bewusstsein«, das die Millennials und andere dafür nutzen, »Jahrtausende der Unterdrückung und/oder Zivilisation in der Luft zu zerreißen, … sich innerhalb der letzten 20 Minuten herausbildete.« Es spreche zwar nichts dagegen, so Weinstein weiter, neue Ideen und Begrifflichkeiten auszuloten, »aber es zeugt schon von einer verdammten Waghalsigkeit, auf so vielen ungeprüften Heuristiken aufzubauen, die noch keine 50 Jahre auf dem Buckel haben und von der Elterngeneration auf unerprobten Feldern entwickelt wurden«.5 Auch Greg Lukianoff und Jonathan Haidt haben (in ihrem 2018 erschienenen Buch The Coddling of the American Mind) klargestellt, wie neuartig die Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung dieser neuen Heuristiken geworden sind. Phrasen wie »getriggert« oder »Gefühl von Unsicherheit« und Behauptungen, dass bestimmte Wörter, die nicht zu der neuen Religion passen, »Schaden« anrichten, fanden vermehrt erst ab 2013 Verwendung.6 Man könnte meinen, die neue Metaphysik hätte zunächst ihr Ziel festgelegt und sich dann, in dem folgenden halben Jahrzehnt, darum gekümmert, wie sie ihre Anhänger so unter Druck setzen konnte, bis der Weg zum Mainstream frei war. Und genau so lief es ab – äußerst erfolgreich. Über die Folgen wird jeden Tag in den Nachrichten berichtet. Damit lässt sich erklären, weshalb die American Psychological Association, der US-amerikanische Berufsverband der Psychologen, sich bemüßigt fühlt, ihren Mitgliedern zu erklären, wie man Jungen und Männern die schädliche »traditionelle Männlichkeit« aberzieht.7 Das ist der Grund, weshalb ein zuvor gänzlich unbekannter Google-Ingenieur namens James Damore entlassen werden konnte, nachdem er ein Memo verfasst hatte, in dem er die Ansicht vertrat, dass manche technischen Berufe mehr Anziehungskraft auf Männer ausüben als auf Frauen. Und es erklärt, weshalb sich die Zahl der US-Bürger, die Rassismus als »großes Problem« ansehen, zwischen 2011 und 2018 verdoppelt hat.8

Nachdem wir also alles durch die neuen Filter betrachten, setzen wir alles Mögliche als Waffe ein – was Folgen hat, die nicht nur verstörend sind, sondern purer Wahnsinn. Das erklärt, weshalb sich die New York Times entschloss, den Artikel eines schwarzen Journalisten mit dem Titel »Can my Children be Friends with White People?« (»Können meine und weiße Kinder Freunde sein?«) zu veröffentlichen.9 Oder weshalb ein von einer Autorin verfasster Artikel über die Anzahl der im Londoner Straßenverkehr tödlich verunglückten Radfahrer die Überschrift trug: »Von Männern gebaute Straßen töten Frauen«.10 Solche rhetorischen Kniffe lassen die vorhandenen Gräben noch tiefer werden oder führen zu neuen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Und wozu das Ganze? Anstatt dass wir aus den Lektionen der letzten zehn Jahre lernen, wie wir besser miteinander auskommen, haben wir lediglich gelernt, dass wir wirklich nicht gut darin sind, miteinander zu leben.

Die meisten Menschen wurden dieses neuen Wertesystems weniger durch eigene Erfahrung gewahr, sondern eher durch öffentliche Verfehlungen. Denn zumindest bei einer Sache trügt uns unser Gespür nicht: In unserer Kultur gibt es seit Neuestem jede Menge Stolperdrähte. Ob von Einzelnen, einer Gemeinschaft oder einem göttlichen Satiriker gespannt – sie haben nur darauf gewartet, einen nach dem anderen in die Falle tappen zu lassen. Mitunter wurde ein Stolperdraht versehentlich mit dem Fuß berührt und löste die Sprengfalle aus. Aber man konnte auch manch tapferen Verrückten in vollem Bewusstsein Kurs aufs Niemandsland nehmen sehen. Auf jede Explosion folgen Kontroversen (einschließlich bewundernder »Ahhhs« der Anerkennung), doch dann dreht die Welt sich einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Wir nehmen hin, dass das merkwürdige, offensichtlich improvisatorische Wertesystem unserer Zeit ein weiteres Opfer gefunden hat.

Es dauerte eine Weile, bis feststand, wo diese Stolperdrähte verlaufen, aber inzwischen ist es klar. Die ersten betrafen alles, was mit Homosexualität zu tun hat. So wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit beachtlichem Erfolg für die Rechte von Homosexuellen gekämpft, was schreckliches historisches Unrecht wiedergutmachte. Als der Krieg gewonnen war, zeigte sich jedoch, dass die Bewegung nicht zu einem Stillstand kam, sondern sich wandelte. Aus GLB [Anm. d. Red.: Gay, Lesbian, Bi – Schwul, Lesbisch, Bisexuell] wurde LGB, da man die Sichtbarkeit der Lesben nicht einschränken wollte. Dann kam noch ein T dazu (darüber später mehr). Dann noch ein Q, schließlich ein paar weitere Buchstaben, Sonderzeichen, Sternchen. Und so, wie es immer mehr Abkürzungen für alle möglichen (homo-)sexuellen Orientierungen gab, änderte sich auch etwas im Innern dieser Bewegung, die sich als Sieger mit einem Mal so verhielt, wie es einst ihre Gegner taten.

Als sich das Blatt wendete, geschah etwas Hässliches. Vor rund einem Jahrzehnt war so gut wie niemand für die Homo-Ehe. Selbst Organisationen wie Stonewall, die für die Rechte Homosexueller eintreten, hielten nichts davon. Nur ein paar Jahre später wird die Ehe für alle zu den grundlegenden Werten des modernen Liberalismus gezählt. Die falsche Haltung gegenüber der Homo-Ehe zu haben – wie das noch ein paar Jahre zuvor auf fast jeden zutraf (einschließlich der Gruppen, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzten) –, sprengt die Grenzen des Erlaubten. Die Leute mögen dafür oder auch dagegen sein, doch um den Sittenkodex schnell zu ändern, bräuchte es eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl und eine umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik. Allerdings scheinen wir uns damit zufriedenzugeben, die Geschichte glattzubügeln, und vernachlässigen beides.

Im Gegenteil, bei anderen Themen lassen sich gleiche Muster beobachten. Die Rechte von Frauen wie die der Homosexuellen wurden Stück für Stück erweitert, nur bei den Frauen vollzog sich diese Entwicklung schon früher, nämlich im Laufe des 20. Jahrhunderts. Auch hier war es scheinbar zu einer Einigung gekommen. Doch kurz bevor der Zug seinen Bestimmungsort erreichte, nahm er Fahrt auf, sprang von den Schienen und entschwand unserem Blickfeld. Worüber bis gestern kaum gesprochen worden war, konnte heute schon der Grund dafür sein, jemandes Leben zu zerstören. Ganze Karrieren wurden zerstört, während der Zug immer schneller wurde. So zum Beispiel die des 72-jährigen Nobelpreisträgers Professor Tim Hunt, der auf einer Konferenz in Südkorea einen lahmen Witz darüber gemacht hatte, dass Frauen und Männer, die im Labor arbeiten, sich ineinander verlieben.11

Begriffe wie »toxische Männlichkeit« gelangten in den allgemeinen Sprachgebrauch. Doch was hatte man davon, wenn die Beziehung zwischen den Geschlechtern so angespannt war, dass die Hälfte der menschlichen Spezies problemlos wie ein bösartiges Krebsgeschwür behandelt werden konnte? Oder man Männern das Recht absprach, über das weibliche Geschlecht zu reden? Weshalb sickerten Sprüche vom »Patriarchat« und »Mansplaining« immer noch aus den feministischen Nischen in Orte wie den australischen Senat, nachdem Frauen mehr gläserne Decken durchstoßen hatten als je zuvor in der Geschichte der Menschheit?12 Auch bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die in dem Bestreben ihren Anfang genommen hatte, das wohl unerträglichste allen historischen Unrechts wiedergutzumachen, sah es zunächst so aus, als bewege sie sich auf eine gemeinhin erhoffte Lösung zu. Doch was geschah dann?

Wieder machte sich kurz vor dem Ziel Verbitterung breit. In dem Augenblick, in dem die Dinge besser schienen als je zuvor, legte die Rhetorik den Schluss nahe, dass es niemals so schlimm gewesen war. Mit einem Mal drehte sich scheinbar alles um Rasse und Rassenzugehörigkeit – und das, nachdem die meisten US-Bürger die Hoffnung gehegt hatten, das Thema wäre endlich vom Tisch. Wie bei allen Themen, bei denen es einen Stolperdraht gibt, würde nur ein Narr oder ein Verrückter es wagen, über diese Kehrtwende zu spekulieren oder gar darüber zu diskutieren. Zu guter Letzt stolperten wir alle, voller Verwirrung, in absolutes Neuland: die Behauptung, dass es eine beträchtliche Zahl von Menschen unter uns gebe, die im falschen Körper lebten, und infolgedessen alle unsere Gewissheiten (und ihre Wurzeln in der Wissenschaft und Sprache) komplett hinterfragt werden müssten. In gewisser Weise ist die Debatte um die Transgender-Frage die wohl suggestivste von allen. Auch wenn die neueste Manifestation der Fragen um Rechte die bei Weitem niedrigste Zahl von Personen betrifft, wird sie nichtsdestotrotz mit geradezu beispielloser Aggression und Wut geführt. Frauen auf der falschen Seite der Debatte wurden von ehemaligen Männern verhöhnt. Eltern, die aussprechen, was noch gestern eine weitverbreitete Meinung war, müssen sich gefallen lassen, dass man ihre Eignung als Eltern infrage stellt. In Großbritannien und anderswo statten Polizisten Bürgern einen Hausbesuch ab, die bestreiten, dass aus Männern Frauen werden können (und umgekehrt).13

Es stellt sich die Frage, was diese Bewegungen gemeinsam haben. Die Antwort lautet, sie alle haben als rechtmäßige Menschenrechtskampagnen begonnen, was erklärt, weshalb sie so weit gekommen sind. Irgendwann jedoch sind sie allesamt durch die Leitplanke gekracht. Sie geben sich nicht mehr mit gleichen Rechten zufrieden, sondern verlegen sich auf unhaltbare Positionen und fordern Dinge wie »mehr und besser«. So mancher mag einwenden, dass es nötig sei, eine gewisse Zeit nach dem »Besser« zu streben, um letzten Endes für einen Ausgleich zu sorgen. Mit dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung waren solche Äußerungen des Öfteren zu hören, wie zum Beispiel von einem CNN-Moderator: »Schon möglich, dass wir zu viel des Guten tun, aber das macht nichts. Schließlich müssen wir was ändern.«14 Bis zum heutigen Tag hat niemand festgelegt, wann der Gerechtigkeit Genüge getan ist oder wer diesen Punkt als abgehakt vermelden darf. Was jedoch jedermann kennt, sind die Bezeichnungen, mit denen all diejenigen belegt werden, die die erst kürzlich gespannten Stolperdrähte versehentlich mit dem Fuß berühren. Benennungen wie »Ignoranten«, »Homophobe«, »Frauenfeinde«, »Rassisten« und »Transphobe« sind erst der Anfang. Der Kampf um die Rechte unserer Zeit konzentriert sich auf diesen toxischen und explosiven Stoff. Doch inzwischen hat sich etwas getan: Der Kampf um diese Rechte ist nicht allein mehr ein Produkt des vorhandenen Systems, sondern bildet die Grundlage für ein neues System. Wer Systemtreue demonstrieren will, muss Referenzen beibringen und sein Engagement nachweisen. Und wie kann man in dieser neuen Welt seine Tugendhaftigkeit demonstrieren? Ganz klar, indem man antirassistisch ist. Indem man ein »Verbündeter« der LGBT-Bewegung ist, natürlich. Indem man betont, wie leidenschaftlich man – egal, ob als Frau oder Mann – dafür brennt, das Patriarchat zu stürzen. Wenn nur nicht das Problem wäre, auch gehört zu werden. Schließlich müssen öffentliche Bekenntnisse der Loyalität zum System möglichst wortreich erfolgen, ganz gleich, ob Bedarf besteht oder nicht. Im Grunde handelt es sich um ein bekanntes, nun aber größer gewordenes Problem des Liberalismus, das sogar diejenigen betrifft, die einst einen edlen Kampf führten. Der verstorbene australische politische Philosoph Kenneth Minogue hat dieses Phänomen »Der heilige Georg im Ruhestand« genannt. Nachdem er den Drachen getötet hat, streift der tapfere Held auf der Suche nach weiteren glorreichen Kämpfen durchs Land. Was ist er schon ohne Drachen? Nachdem er erschöpft ist von all den Kämpfen mit immer kleineren Drachen, sieht man ihn immer häufiger mit seinem Schwert in der Luft herumfuchteln und unsichtbare Drachen herausfordern.15

Wenn schon der wirkliche heilige Georg dieser Versuchung nicht widerstehen konnte, dann malen Sie sich jetzt doch einmal aus, was jemand tun könnte, der kein Heiliger ist, kein Pferd, kein Schwert sein Eigen nennt und den niemand wahrnimmt. Wie soll so jemand seine Mitmenschen davon überzeugen, dass auch er diese einmalige Chance ergriffen und den Drachen getötet hat?

Die Ausführungen samt der entsprechenden Rhetorik, die ich in diesem Buch zitiere, unterstützen diese Theorie zu einem Großteil. Im öffentlichen Leben gibt es jede Menge Leute, die verzweifelt versuchen, auf die Barrikaden zu gelangen, obwohl die Revolution längst vorbei ist. Vielleicht liegt das daran, dass sie die Barrikaden mit ihrem Zuhause verwechseln oder kein Zuhause haben. Die Demonstration der eigenen Tugendhaftigkeit ist jedenfalls häufig damit verbunden, das Problem zu übertreiben, was es nur größer macht. Doch das ist nicht das einzig Schlimme daran, und deshalb nehme ich jede der Begründungen der neuen Metaphysik nicht nur ernst, ich setze mich – einer nach der anderen – mit ihnen auseinander. Mit jedem dieser Probleme verhält es sich so, dass eine wachsende Zahl von Menschen, die das Gesetz auf ihrer Seite haben, so tun, als wäre nicht nur ihr Problem, sondern auch alle anderen Probleme gelöst und damit abgeschlossen, weil man sich geeinigt hat. Doch die Realität sieht anders aus. Auf das, worauf man sich zu einigen glaubt, kann man sich in Wirklichkeit gar nicht einigen. Alle diese Themen sind viel komplexer und wechselhafter, als unsere Gesellschaft zugeben würde. Und das ist der Grund, weshalb sie zusammengenommen das Fundament der neuen Moral und Metaphysik bilden – und eines allgemeinen Wahnsinns. Fakt ist, dass es kaum eine instabilere Basis für soziale Harmonie geben dürfte.

Auch wenn Rassengleichheit, die Rechte von Minderheiten und Frauenrechte zu dem Besten zählen, was der Liberalismus je hervorgebracht hat, sind sie es, die das Fundament schwer erschüttern. Ihr ein stabiles Fundament verleihen zu wollen, ist, als ob man einen Barhocker umdreht und dann versucht, auf ihm die Balance zu halten. Die Errungenschaften eines Systems können nicht ansatzweise die Stabilität des Systems erreichen, aus dem sie erwachsen sind, wenn auch aus keinem anderen Grund, als dass jede der Problematiken ein in sich instabiles Element ist. Wir tun so, als hätten wir Lösungen für jedes einzelne Problem gefunden. Doch angesichts der endlosen Widersprüche, Hirngespinste und Fantasien, die für jeden offensichtlich sind, wird uns von ihrer Identifizierung nicht nur abgeraten, sondern wir werden dabei buchstäblich kontrolliert. Und deshalb sollen wir Dingen zustimmen, von denen wir nicht überzeugt sind.

Hier dürfte der Grund liegen, weshalb die im wahren Leben oder online geführte Debatte so hässlich ist. Wir sollen einen Spagat hinlegen, obwohl wir das gar nicht können und uns der Versuch vermutlich auch nicht guttut. Wir sollen an Dinge glauben, die einfach unglaublich sind, und wir sollen Dinge widerspruchslos hinnehmen (wie unseren Kindern Medikamente zu geben, die die Auswirkungen der Pubertät verhindern), obwohl die meisten Menschen so etwas von Grund auf ablehnen.

Der Schmerz, der daraus resultiert, bei manchen wichtigen Angelegenheiten zum Schweigen verurteilt zu sein und bei anderen einen Spagat ausführen zu müssen, ist gewaltig, nicht zuletzt deshalb, weil die Probleme (und auch die Widersprüchlichkeiten in sich) so offensichtlich sind. Es hat etwas Erniedrigendes an sich und zerstört letzten Endes die Seele, wenn man Forderungen mittragen soll, von denen man nicht überzeugt ist und die auch keinen Bestand haben dürften. Das kann jeder, der in einem totalitären Regime gelebt hat, bestätigen. Sollen wir glauben, dass alle Menschen gleich an Wert und an Würde sind und es keinen Unterschied in Sachen Menschenwürde gibt, mag das gut und recht sein. Doch wenn wir glauben sollen, dass es keinen Unterschied zwischen Homo-und Heterosexualität, zwischen Mann und Frau, zwischen Rassismus und Antirassismus gibt, dann treibt uns das auf direktem Weg in den Irrsinn. Und mittendrin in diesem Irrsinn – oder Wahnsinn der Massen – stecken wir zurzeit. Höchste Zeit, dass wir wieder unseren Weg herausfinden.

Gelingt uns das nicht, ist klar, wohin das in Zukunft führen wird: zu immer größerer Atomisierung, zu mehr Wut und mehr Gewalt. Aber das ist längst nicht alles. Dann droht auch eine Gegenreaktion auf alles, was wir in Sachen Bürger- und Menschenrechte erreicht haben. Dann droht uns eine Zukunft, in der Rassismus mit Rassismus beantwortet wird, in der die Reaktion auf geschlechtsbedingte Verunglimpfung weitere geschlechtsbedingte Verunglimpfung sein wird. Ist ein gewisser Punkt der Erniedrigung erst einmal erreicht, gibt es für Mehrheitsgruppen keinen triftigen Grund, nicht mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen, die auch in ihrem Fall so wunderbar funktioniert haben.

Dieses Buch beschreibt einige Möglichkeiten, wie wir aus dieser Misere wieder herauskommen. Am besten fangen wir damit an, nicht nur die Hintergründe dessen zu verstehen, was gerade abläuft, sondern uns die Freiheit zu nehmen, darüber zu diskutieren. Während ich an diesem Buch schrieb, erfuhr ich, dass die britische Armee über ein Minenräumgerät namens »The Python« verfügt, dessen Vorläufermodell den Namen »The Giant Viper« trug. Bei diesem auf einem Fahrzeug montierten System wird eine Rakete abgefeuert, die einen mehrere Hundert Meter langen, mit zahlreichen Sprengsätzen bestückten Schlauch hinter sich herzieht, der dann auf dem Minenfeld landet. Sobald dieser Vorgang abgeschlossen ist (und wie zu allen anderen Themen können Sie auch davon Videos im Internet ansehen), wird eine »sympathetische Detonation« ausgelöst, das heißt, die Sprengladungen zünden und lösen die Explosion der Minen in einem beachtlichen Bereich um die Rakete und den Schlauch herum aus. Das System räumt zwar nicht das gesamte Minenfeld, aber es schafft eine Art Korridor, der es Personen, LKWs und sogar Panzern ermöglicht, das zuvor unpassierbare Gelände zu durchqueren. Bescheiden, wie ich bin, betrachte ich dieses Buch als mein Viper-System. Ich strebe gar nicht an, das gesamte Minenfeld zu räumen, und könnte es auch gar nicht, selbst wenn ich es wollte. Aber ich hoffe sehr, dass dieses Buch dazu beiträgt, ein gewisses Terrain zu räumen, damit wir es wieder sicher betreten können.

KAPITEL 1
HOMOSEXUELLE

Ein kalter Februartag in London im Jahr 2018. Vor einem Kino in der Nähe des Piccadilly Circus findet eine kleine Demonstration statt. Stumm halten die warm eingepackten Teilnehmer ihre Schilder hoch, auf denen in Großbuchstaben geschrieben steht: »zum Schweigen gebracht«. Die meisten Londoner auf ihrem Weg zur Bushaltestelle oder in eine der vielen Bars von Soho nehmen kaum Notiz von ihnen. Ein vorbeischlenderndes Paar bemerkt, dass die Protestierenden alle 50 und älter sind, weshalb einer der beiden vermutet, dass sie bestimmt mit der UKIP in Verbindung stehen.[1] Weit gefehlt. Ein paar Dutzend Menschen wollten sich ursprünglich gemeinsam den Film Voices of the Silenced [Stimmen der zum Schweigen Gebrachten] ansehen. Doch wie ihre Plakate nahelegen, wurden die Voices of the Silenced selbst zum Schweigen gebracht.

Die Organisatoren haben das Kino schon drei Monate zuvor für eine Privatvorführung gebucht, dabei ihrer Aussage zufolge alle dafür geltenden Vorschriften des Kinos beachtet und auch den Film Wochen im Voraus eingesendet. Doch einen Tag vor der Vorführung hatte Pink News, ein Online-Relikt der britischen Schwulenpresse, von der geplanten Veranstaltung erfahren und unverzüglich ihre Absage gefordert – mit Erfolg. Die Kinokette Vue wollte negative Publicity auf jeden Fall vermeiden, sagte die Vorstellung kurzfristig ab und begründete dies damit, dass es ihr gutes Recht sei, da der Inhalt des Films nicht ihren Werten als Kinobetreiber entspreche. Sie teilte der Gruppe auch mit, dass sie gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit verstieße, sollte sie den Film trotzdem vorführen. An jenem Abend versuchten die Organisatoren unter der Leitung von Dr. Michael Davidson verzweifelt, einen anderen Ort zu finden, an dem sich die 126 Menschen, die zum Teil sogar aus den Niederlanden angereist waren, den Film ansehen könnten. Dr. Michael Davidson arbeitet für den Core Issues Trust, eine britische christliche Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Homosexuelle dabei zu unterstützen, ihre Sexualität »abzulegen«. Anders, als man denken könnte, ist Davidson kein Arzt, sondern promovierter Pädagoge. Doch wie manch andere öffentliche Personen Wert auf ihren Doktortitel legen, hat man auch hier den Eindruck, er wäre nicht allzu sehr verärgert, wenn sich jemand bezüglich seiner eigentlichen beruflichen Qualifikation irrt.

Schon sechs Monate zuvor erregte Davidson beträchtliche Aufmerksamkeit im gesamten Land, als er im Frühstücksfernsehen Good Morning Britain mit dem Moderator Piers Morgan über Homosexualität und die sogenannten Konversions- oder Reparativtherapien sprach. Davidson gestand ein, dass er selbst ehemals schwul war – oder zumindest homosexuelle Erfahrungen gemacht hatte. Irgendwann beschloss er, dass Schwulsein nichts für ihn sei. Mittlerweile ist er seit 35 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist überzeugt, dass sein Weg auch anderen Homosexuellen offensteht, weshalb er über seine Gruppe Beratungen auf freiwilliger Basis für alle anbietet, die einen Schlussstrich unter ihr Schwulsein ziehen und wie er selbst lieber heterosexuell sein wollen, auch wenn er einräumt, dass er immer noch ein bestimmtes »Verlangen« verspürt, dem er aber nicht nachgibt.

Im landesweiten Fernsehen erklärt Davidson also auf Nachfrage hin ruhig und höflich, dass er Homosexualität für eine Anomalie und vor allem für ein erlerntes Verhalten hält. Gefragt, ob man es dann auch wieder verlernen könne, erklärt er: »Es lässt sich in den Fällen umkehren, in denen die Betroffenen dies zu ihrem erklärten Lebensziel machen.« Er schafft es gerade noch, all das zu sagen, bevor der Moderator ihn vor den Studiogästen bloßstellt. »Wissen Sie, wie wir solche Leute wie Sie nennen, Dr. Michael?«, fiel Piers Morgan ihm ins Wort. »Für uns aufgeschlossene Menschen sind das komplette Ignoranten. Bloß verblendete Leute, die völligen Schwachsinn von sich geben und in meinen Augen ein bösartiger und gefährlicher Teil unserer Gesellschaft sind. Was ist bloß los mit Ihnen? Wie kommen Sie auf die Idee, dass niemand homosexuell auf die Welt kommt, dann verdorben wird, aber wieder davon geheilt werden kann? Wer sind Sie, solchen Unsinn zu behaupten?«

Ein recht unbeeindruckter Davidson bat Morgan um Belege für die Annahme, Homosexualität sei angeboren, und legte Wert auf die Feststellung, dass weder die American Psychological Association noch das Royal College of Psychiatrists die Überzeugung verträten, Homosexualität sei angeboren und deshalb nicht zu ändern. Daraufhin unterbrach ihn Morgan erneut und forderte ihn auf, »mal für einen Moment aufzuhören, die Meinung hirnrissiger Wissenschaftler aus Amerika breitzutreten«. Er fuhr seinen Gast an: »Halten Sie den Mund, Sie engstirniger Ignorant!«, und beendete das Gespräch mit den Worten: »Mir reicht’s. Halten Sie den Mund, Dr. Michael!«16 Ende der Sendung. ITV lässt seinen Gast also am Morgen in einer Limousine ins Fernsehstudio chauffieren, um ihm wenige Stunden später mitten im Interview den Mund zu verbieten. Sechs Monate nach dem Eklat zeigt sich Davidson immer noch völlig unbeeindruckt von der ganzen Aufregung um seine Person. Vor dem Kino am Piccadilly Circus spricht er in sein Handy und ist schließlich erleichtert, den Umstehenden mitteilen zu können, doch noch einen Ort für die Vorstellung seines Films aufgetrieben zu haben. Flugs bricht das Grüppchen auf in Richtung Westminster’s Emmanuel Centre, ganz in der Nähe des Parlaments. Die Türen zu dieser Veranstaltung sind fest verschlossen, aber an einem Seiteneingang muss man nur seinen Namen nennen, und wenn der auf der Liste steht, hat man freien Zutritt. Ist man drinnen, wird es geradezu gemütlich. Uns allen wird ein Glas Prosecco angeboten und eine Tüte Popcorn, die wir mit in die Vorführung nehmen dürfen. Eine ältere Dame tritt auf mich zu und bedankt sich für mein Kommen. »Ich kenne Ihren Hintergrund«, fügt sie hinzu, und mir wird klar, dass sie nicht davon spricht, wo ich aufgewachsen bin. »Schließlich reden Sie ja oft genug davon.« Das stimmt ja auch. Sie erklärt mir noch, dass es sie umso mehr freut, mich hier zu sehen. Ziemlich sicher bin ich nicht der einzige Schwule bei dieser Veranstaltung zum Thema »Heilung von Homosexuellen«, der sein Coming-out schon hinter sich hat. Und genauso sicher bin ich nicht der einzige Schwule im Raum.

Der Film Voices of the Silenced ist weniger schlüssig als erhofft. Im Prinzip geht es vor allem darum (wie Davidson selbst am Anfang des Films erläutert), dass »historische und moderne Ideologien aufeinandertreffen«. Leider bleibt offen, wie das funktionieren soll. Mir kommt es so vor, als hätte man zwei verschiedene Filme ziemlich unbeholfen zusammengeschnitten. Der erste Film führt uns in die Antike und zeigt beängstigende, apokalyptische Bilder, während wir im zweiten Ärzte und Patienten sehen, wie sie ein Gespräch darüber führen, wie es ist, erst homosexuell und dann eben nicht mehr homosexuell zu sein. Zu Wort kommen neben Dr. Davidson auch ein Dr. Stephen Baskerville und ein Experte aus Texas namens (ich kann ein hörbares Lachen nicht unterdrücken) David Pickup – David Aufreißer.

Jedes Mal, wenn der Film auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. oder den Titusbogen zu sprechen kommt, wird zu Homosexuellen übergeblendet. Oder zu früheren Homosexuellen. »Die neue Staatsorthodoxie feiert die Homosexualität«, heißt es. Erst kommen verschiedene »Experten« – vornehmlich aus den Vereinigten Staaten – zu Wort, dann hören wir die Erfahrungsberichte. Wie all das mit dem Titusbogen zusammenhängt? Das wird nicht erklärt. Führt die Homosexualität vielleicht zum Untergang der Zivilisation? Davon ist natürlich nicht explizit die Rede. Eine »Ex-Lesbe«, die inzwischen verheiratet ist und fünf Kinder hat, schildert, wie sie vor zehn Jahren wieder ihre »Verwundbarkeit« verspürte und dass sie die Hilfe eines Geistlichen in Anspruch genommen habe. Mehrere »Betroffene« berichten von Suizidgedanken, Alkoholmissbrauch und »Selbstbezogenheit«. Ein gewisser John erzählt, dass seine Mutter Jüdin ist. Irgendwann kommt ein attraktiver 29-jähriger Deutscher namens Marcel ins Bild, der die Qualen seiner Kindheit schildert. Seine Mutter, erzählt er, hätte ihn nackt vor den Augen seiner Schwester verprügelt, was – so wird zumindest suggeriert – erklären könnte, weshalb er sich zu Männern hingezogen fühlt. Manche der Befragten sind Scheidungskinder, manche nicht. Einige von ihnen haben ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter, andere nicht.

Dr. Joseph Nicolosi – einer der Stars des Films – vertritt die These, dass viele seiner »Patienten« ihre Mütter hassen, nicht wissen, wie sie sich im Umgang mit Männern verhalten sollen, und infolgedessen bestimmte Fantasien ausbilden. Als Heilmittel empfiehlt er jedem, der unter homoerotischen Fantasien »leidet«, sich ein »gesundes« Hobby zuzulegen, zum Beispiel den regelmäßigen Besuch im Fitnessstudio. Vielleicht eine kleine Andeutung, dass Dr. Nicolosi noch nie in seinem Leben in einem Fitnessstudio war.

Natürlich fällt es leicht, sich über solche Aussagen lustig zu machen, und manchen Leuten fällt es leicht, sich darüber aufzuregen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es hier um Menschen geht. John und Lindsay berichten, dass sie beide unter gleichgeschlechtlicher Anziehung gelitten, sich ihr aber gemeinsam gestellt hätten und nun eine funktionierende Partnerschaft mit inzwischen fünf gemeinsamen Kindern führten. »Wir sind beileibe nicht die Einzigen«, versichert Lindsay dem Zuschauer. »Wir kennen einige Leute, die ebenfalls davon betroffen waren, inzwischen aber glücklich verheiratet sind. Doch das bedeutet Schwerstarbeit«, fährt sie fort, während John neben ihr irgendwie unglücklich in die Kamera schaut. »Das ist nichts für Zartbesaitete. Man muss es knallhart durchziehen. Vor allem in der heutigen Zeit. Die Medien und der kulturelle Druck zielen ja in die Gegenrichtung.«

Trauriger als dieses Paar sind die Handvoll Befragten, die ehemals schwul waren und hier mit unkenntlich gemachten Gesichtern zu sehen sind. Vielleicht ist man ja zu nachsichtig, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass es sich mit der Notwendigkeit, Gesichter unkenntlich zu machen oder nur den Hinterkopf zu zeigen, genau umgekehrt verhielt. Jedenfalls fasst am Ende des Films ein irischer Pfarrer die Handlung teilweise zusammen und erklärt, er habe nichts gegen Leute, die überzeugt sind, Homosexualität sei angeboren und somit unveränderlich. Doch er selbst sei vom Gegenteil überzeugt und wolle nun mal gerne an dieser Meinung festhalten. Wie Dr. Baskerville bekräftigt, wird in der akademischen Welt und in den Medien nur noch eine Position geduldet, nämlich die der »Förderung« von Homosexualität. »Sexualität wird politisiert«, heißt es in den letzten Minuten des Films. Nach einem weiteren nicht erklärten Verweis auf die Juden der Antike endet der Film mit dem dramatischen, aber wohl bewusst gewählten Aufruf: »Es ist an der Zeit, dass wir Unterschiede akzeptieren.«

Wenig überraschend ist das Publikum begeistert von dem Film. Doch dann kommt es zu peinlichen Szenen. Mehrere der im Film Befragten befinden sich unter den Zuschauern und werden auf die Bühne gebeten, um noch mehr Applaus entgegenzunehmen. Darunter auch ein junger Brite namens Michael. Er wirkt fahrig und nervös und geradezu erfüllt von Leid. Für jemanden seines Alters hat er ziemlich ausgeprägte Stirnfalten. Aus mehreren Gründen, die er im Film bereits ausführlich dargelegt hat, will er nicht als Schwuler leben, weshalb er für sich einen ihm an die Substanz gehenden Weg eingeschlagen hat und versucht, als heterosexueller Mann zu leben, sein Schwulsein (ebenso wie es Dr. Davidson gelungen ist) hinter sich zu lassen, vielleicht irgendwann sogar zu heiraten und Kinder zu haben. Der Abend endet mit einem gemeinsamen Gebet.

Auf dem Nachhauseweg und in den Tagen danach musste ich immer wieder an diesen Abend mit den ehrenamtlichen Konversionstherapeuten denken. Ich fragte mich vor allen Dingen eines: »Weshalb hat mich diese Veranstaltung so kalt gelassen?« Zunächst will ich klarstellen, dass ich keine Angst vor diesen Leuten habe – und dass ich sicherlich nicht die gleiche Empörung verspüre, auf die sich die Schwulenpresse verlegt, seit sie zunehmend ihren ursprünglichen Zweck verliert. Wenn es einen Grund gibt, dann den, dass ich eben nicht den Eindruck habe, als würden sich die Dinge zugunsten der Menschen, die sich an diesem Abend im Emmanuel Centre versammelt haben, entwickeln. Für mich zählen sie heute und in absehbarer Zukunft zu den Verlierern. Sind sie im Fernsehen zu sehen, schlägt ihnen Verachtung entgegen – gut möglich, dass eine zu große Portion davon im Spiel ist. Sie tun sich schwer damit, Dokumentationen zu produzieren, die ansehenswert sind, und noch schwerer, geeignete Räumlichkeiten für deren Vorführung zu finden. Sie werden gezwungen, ihre Veranstaltungsorte geheim zu halten, und es dürfte ziemlich unwahrscheinlich sein, dass sie in absehbarer Zeit irgendwo ihre Botschaft erfolgreich an den Mann bringen werden.

Natürlich würde ich vielleicht anders darüber denken, wäre ich ein junger Schwuler, der – das gilt auch heute noch – im ländlichen Amerika oder Großbritannien aufwächst. Wäre ich im amerikanischen Bibelgürtel groß geworden oder hätte ich mich einer Konversionstherapie unterziehen müssen (oder wäre mir auch nur damit gedroht worden), die dort gang und gäbe war – und es in manchen Teilen der Welt auch heute noch ist –, sähe ich (Dr.) Michael Davidson und seine Mitstreiter womöglich in einem anderen Licht.

Doch jetzt und hier, an diesem Abend sind sie die Verlierer. Im Bewusstsein, dass man durchaus einen Kick verspüren kann, wenn es einen anderen trifft, sträubt es sich in mir, sie als solche zu behandeln, wie sich einige ihrer Brüder im Geiste vielleicht mir gegenüber verhalten hätten, wären wir uns früher und unter anderen Umständen begegnet. Am stärksten offenbaren sich Menschen und Bewegungen im Moment des Sieges. Lassen sie zu, dass Argumente, die sich für als nutzbringend erwiesen haben, dies auch für andere tun? Zählen Geben und Nehmen und Toleranz zu den von ihnen vertretenen Prinzipien oder sind das für sie nur moralische Feigenblätter und leere Worte? Zensieren vormals Zensierte, wenn sie die Möglichkeit dazu haben? Das zur Vue-Kette gehörende Kino hat sich eindeutig auf eine Seite geschlagen. Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte es die andere sein können. Und Pink News und all die anderen, die ihren Sieg feierten, nachdem sie Voices of the Silenced eine Meile die Straße hinuntergejagt hatten, scheinen diese Privatveranstaltung nur allzu bereitwillig boykottiert zu haben. Für mich ist das ein eklatanter Widerspruch zu den anfänglichen Forderungen der Schwulenbewegung, die für gleiche Rechte von Homosexuellen kämpfte. Sie vertrat nämlich den Standpunkt, dass es niemanden etwas angeht, was mündige Erwachsene hinter verschlossenen Türen tun, solange sich beide darüber einig sind, was dort geschieht. Wenn das für Gruppen gelten soll, die sich für Homosexuellenrechte einsetzen, dann muss es aber doch genauso gut auch für die Rechte christlicher Fundamentalisten und anderer Gruppierungen gelten.