Michael Belanger: 254 Tage mit Jane Doe

Hobby-Historiker Ray weiß alles über sein Heimatstädtchen Burgerville und kann selbst die legendäre Erscheinung grüner Kühe bis ins Detail erklären. Doch dann kommt ein neues Mädchen in die Klasse und macht die Gegenwart für ihn spannender als die Vergangenheit. Jane ist cool und undurchschaubar. Trotzdem beschließt Ray, jedes Kapitel ihrer Geschichte zu ergründen. Je näher sich die beiden kommen, desto besser glaubt er ihre Geheimnisse zu kennen. Als das Undenkbare geschieht, muss er sich jedoch eingestehen, dass es auf die Frage nach dem Warum nicht immer eine Antwort gibt.

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Für Mary, Jack und Hammy

 

Wenn du glaubst, du könntest dein Leben auf
diesem winzigen Stück Papier zusammenfassen,
dann hast du sie nicht mehr alle.
– Janes Glückskeks –

61 TAGE DAVOR

JANE DOE

Ich habe keinen Krebs und meine Eltern leben beide noch. Das wollte ich erst mal klarstellen, damit ihr nicht enttäuscht seid. Und wo wir schon dabei sind, kann ich auch gleich noch hinterherschieben, dass ich kein Vampir bin, keine übermenschlichen Kräfte besitze und auch noch nie gegen ein böses, dystopisches Regime gekämpft habe – außer vielleicht in einem Videospiel.

Wenn jetzt also hoffentlich keiner mehr mit einer Geschichte über verwaiste Vampire rechnet, die gegen eine Oligarchie sterbenskranker Zauberer kämpfen (obwohl, klingt eigentlich ziemlich cool, oder?), sollte ich vielleicht noch kurz erklären, warum ich das hier schreibe. Ganz sicher nicht, um »meine Gefühle zu dokumentieren« oder »nach selbstzerstörerischen Mustern zu suchen«, wie Rich, mein Therapeut, vorgeschlagen hat. Und keine Sorge, auch wenn ich einen Ruf als Geschichts-Nerd habe, geht es hier weder um den Amerikanischen Bürgerkrieg noch um Unsere kleine Farm. Mythen und Legenden gibt es auch so schon genug, jede davon sehr viel spannender als alles, was ich mir ausdenken könnte: große Schlachten, Völker, die angeblich mit abgeschlagenen Menschenköpfen Ball gespielt haben, und all die ungelösten Rätsel um irgendwelche Felsen und rituelle Menschenopfer. Man sagt ja immer, dass die Geschichte sich wiederholt, aber ich hoffe einfach mal, ich bin nicht dabei, wenn sie’s tut.

Nein, in Wahrheit schreibe ich das hier vor allem deshalb auf, weil ich endlich verstehen will, was letztes Jahr zwischen mir und meiner (Ex-)Freundin Jane passiert ist. Wer so viele Geschichtsbücher liest wie ich, wünscht sich manchmal, fürs richtige Leben gäbe es auch so ein Buch, mit bebildertem Zeitstrahl und einer ›Wusstest du schon?‹-Rubrik, alles schön klar und verständlich. Aber wie jeder gute Historiker weiß, ist die Vergangenheit viel zu komplex, als dass es sich mit Ursache-Wirkungs-Diagrammen und abgedroschenen Phrasen darstellen ließe. Von daher hat jemand wie Jane, die noch komplizierter ist als jede Revolution, verwirrender als jeder Krieg und folgenreicher als jede Erfindung (die der Glühbirne und des Chocolate Chip Cookies eingeschlossen), unbedingt ein eigenes Buch verdient. Und dieses Buch, so könnte man vielleicht sagen, schreibe ich jetzt für sie.

Seit sie nicht mehr da ist, habe ich haufenweise Material gesichtet: ihre Textnachrichten und ihre abgedrehten Zeichnungen, inspiriert von der Langeweile im Bio-Unterricht – jeden noch so kleinen Fitzel, der vielleicht Licht in die Ereignisse des letzten Jahres bringen kann. Das Einzige, was mich dabei stört, ist meine Mom, die neuerdings jede Stunde bei mir aufkreuzt, sei es, um mich zu nerven, oder um nachzusehen, ob ich noch lebe.

Wie aufs Stichwort höre ich sie draußen auf dem Flur. Die Dielen knarren, während sie auf mein Zimmer zugeht. Sie klopft leise an die Tür, und als ich nicht reagiere, wird ihr Klopfen aggressiver.

»Abendessen ist fertig«, sagt sie und rüttelt am Türknauf.

»Es ist abgeschlossen«, sage ich, nur um sie zu ärgern.

Unschlüssig bleibt sie vor dem Zimmer stehen, beängstigender als jede Erscheinung aus einem Horrorfilm: eine Mutter, die zum Abendessen ruft.

»Kommst du runter?«, fragt sie.

»Jepp«, sage ich. »Sobald ich hier mit der Teufelsanbetung fertig bin.«

»Was?«

»Kannst du mir das Essen nicht einfach raufbringen, wie einem Häftling?«

Ich höre, wie sie seufzt und ihre Schritte sich wieder entfernen.

Mir ist klar, dass ich mich wie ein Idiot benehme, aber ich kann nicht einfach lächeln und so tun, als wäre alles in Ordnung. Auch wenn das alle gern hätten.

Und bevor ich es vergesse, muss ich euch auch noch sagen, dass jedes Wort wahr ist, das ich hier schreibe. Das ist keine erfundene Geschichte mit einer Moral und Schlüsselszenen und wohlklingenden Metaphern. Für so was ist in der Geschichtswissenschaft kein Platz. Fakten sind Fakten, ob sie einem nun gefallen oder nicht. Ich werde nur einen Namen ändern: ihren. Irgendwie finde ich es nicht richtig, ihren wahren Namen zu verraten, deshalb nenne ich sie einfach Jane, Jane Doe.

67 TAGE DANACH

BURGERVILLE

Ich lebe in der endlosen Eigenheimwüste von Williamsburg. Nein, nicht das Williamsburg, wo die Leute merkwürdige Kopfbedeckungen tragen und alte Gebäude besichtigen. Das liegt in Virginia und verdankt seinen Namen König Wilhelm III. von Oranien, liebevoll auch ›King Billy‹ genannt. Er wird für sein Wirken während der Glorreichen Revolution bewundert – auch als langweiligste Revolution der Weltgeschichte bekannt, so eine Art Und-dann-lebten-sie-alle-glücklich-bis-an-ihr-Lebensende-Märchen, wo kaum jemand enthauptet wird und der König allen die verlangten Rechte einräumt. Sicher nett, in solchen Zeiten zu leben, aber todlangweilig, davon zu lesen.

Und ich rede auch nicht von dem Williamsburg in Brooklyn, wo die Leute in hautengen Hosen rumlaufen, sich über die Widersprüche des modernen Lebens auslassen und, nun ja, merkwürdige Kopfbedeckungen tragen. Dieses Williamsburg wurde nach Oberst John Williams benannt, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg diente und eine frappierende Ähnlichkeit mit Jabba the Hutt aufweist.

Ich meine das weniger bekannte Williamsburg in Connecticut, wo dieser Typ wohnt, der einen kennt, dessen Cousin mal neben (hier irgendeine Berühmtheit einfügen) im Bus gesessen hat. Der Name für unser Williamsburg ist ohnehin nur einem unglücklichen Zusammenfallen zweier historischer Entwicklungen geschuldet: dem Aufstieg der Mittelschicht und der Erfindung des Hamburgers. Ursprünglich hieß die Stadt nämlich Burgherville – das Wort ›burgher‹ bedeutet Mittelschicht –, aber als dann das Frikadellenbrötchen in aller Munde war, wurde sie plötzlich zur Zielscheibe unzähliger Kalauer. Die Presse verglich die Ortsteile von Burgherville mit den unterschiedlichen Teilen des Rinds, vom Markknochen bis zum Schwanzstück. Und die Stadtbewohner wurden, je nach Aussehen, als ›gut durch‹, ›blutig‹ oder, wer besonderes Pech hatte, als ›Hackfleisch‹ klassifiziert. Ende der 1950er-Jahre hatten das alle so gründlich satt, dass der Bürgermeister eine Dringlichkeitssitzung einberief, um einen neuen Namen für die Stadt zu finden. Der Held von Burgherville, ein regionaler Football-Star namens Frank Williams, war damals gerade erst bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, deshalb wurde beantragt, die Stadt in Williamstown umzubenennen. Woraufhin ein weiteres Mitglied des Stadtrats seinen vermutlich größten Beitrag zum Wohle der Menschheit leistete und die beiden Namen zu Williamsburg verband. Und damit war dann unser Williamsburg – wenn auch das unbedeutendere – geboren.

Die meisten von uns nennen es aber trotzdem noch Burgerville und schreiben es so, wie es gesprochen wird.

Als ich Jane diese Geschichte erzählte, wollte sie mir erst nicht glauben. Ihre genauen Worte waren: »Ich komm mir vor wie bei Twilight Zone.« Aber ich glaube, so kam sie sich ohnehin die meiste Zeit vor. Als gehörte sie nirgends so richtig hin.

254 TAGE DAVOR

WILLKOMMEN IN KANSAS

Zum ersten Mal gesehen habe ich Jane vor knapp einem Jahr, im Bio-Unterricht. Mr Parker erklärte uns gerade den Unterschied zwischen RNA und DNA mithilfe von Anschauungsmaterial, das die beiden als Superhelden darstellte, da ging plötzlich die Tür auf. Das Mädchen, das auf der Schwelle stand, wirkte irgendwie verloren. Nicht wie jemand, der sich fragt, ob das hier die richtige Klasse war, sondern ganz allgemein. Mr Parker unterbrach seinen Monolog und nickte, als hätte er die ganze Zeit nur auf diesen Moment gewartet.

»Da bist du ja«, rief er mit einer Begeisterung, die völlig übertrieben klang, so, wie manche Leute mit ihren Hunden reden. »Darf ich vorstellen: unsere neue Mitschülerin, Jane Doe.« Vorn auf der Leinwand war immer noch das Bild eines mit Umhang und Strumpfhose bekleideten RNA-Strangs zu sehen und darunter stand: Schnell, die DNA braucht deine Hilfe! Jane schaute auf die Leinwand und dann wieder zurück in die Klasse, mit einem Blick, der eindeutig sagte: Wo bin ich hier nur gelandet?

»Such dir einfach einen Platz«, sagte Mr Parker, bevor ihm klar wurde, dass ohnehin nur noch einer frei war: der neben mir. Janes verwirrte Miene wich einem düsteren Lächeln, als wäre das ein Insiderwitz zwischen uns. Sie nickte und kam langsam auf mich zu.

Mein Herz fing an zu rasen und mein Verstand verwandelte sich in eine Kamera, die jedes Detail der Unbekannten genauestens registrierte. Ihr blasses Gesicht war von langen Haaren umrahmt, schwarz, mit roten Strähnen drin. Das hört sich für euch vielleicht gar nicht so ungewöhnlich an, aber für Burgerville’sche Verhältnisse hätte sie ebenso gut 666 auf ihrer Stirn tätowiert haben können. Sie strich sich eine Strähne aus den Augen und mir fiel auf, dass jeder ihrer Fingernägel in einer anderen Farbe lackiert war. Auf halber Strecke begegneten sich unsere Blicke und ich schaute sofort weg – irgendwas an der Art, wie sie mich ansah, gab mir das Gefühl, sie könnte meine Gedanken lesen. Während sie näher kam, war ich schon drauf und dran, in meine Lunchtüte zu pusten, um nicht zu hyperventilieren, aber schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und schaute sie wieder an. Sie trug ein weites, schwarzes T-Shirt und ihre Handgelenke waren mit Armbändern bedeckt. Auf dem Shirt stand der Name einer Band, von der ich noch nie gehört hatte – Pineapple Melody –, über einer ananasförmigen Gitarre mit dem Slogan Folk You darunter. Als mein Blick schließlich bei ihren Schuhen anlangte – schwarze Springerstiefel mit neongrünen Schnürsenkeln –, saß sie schon auf ihrem Platz.

Mr Parker fing an, ihr eine ganze Reihe von Fragen zu stellen, was ich ziemlich peinlich fand, Jane aber völlig kaltzulassen schien. Eher war es Mr Parker, der hochgradig verlegen wirkte.

»Was hat dich denn wohl hierher verschlagen?«, fragte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit, die an Janes stoischer Miene komplett abprallte.

»Eine Erziehungsmaßnahme meiner Eltern«, sagte sie.

Mr Parker warf einen verunsicherten Blick in die Runde und fragte dann mechanisch, als läse er den Satz aus einem Fragenkatalog vor: »Und wo habt ihr vorher gewohnt?«

»In Williamsburg, aber in dem anderen in Brooklyn«, sagte sie. »Meine Eltern hielten das wohl für witzig.«

»Das ist aber wirklich ein Zufall«, sagte Mr Parker mit gezwungenem Lächeln. »Und wie gefällt dir unsere Stadt bisher?«

»Kann man das wirklich als Stadt bezeichnen?«, fragte sie zurück.

Mr Parker schluckte. »Hast du vielleicht irgendwelche besonderen Interessen? Denk dran, du bist hier im Bio-Unterricht.« Niemand im Raum verzog eine Miene, und er lachte unbehaglich.

»Folk und Verschwörungstheorien.«

Ein Raunen ging durch die Klasse. Mr Parker hob Ruhe gebietend die Hand.

»Das ist ja …« Er suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort und entschied sich dann für interessant. »Sehr interessant«, wiederholte er und kam dann mit unverhohlener Erleichterung zur letzten Frage auf seiner Liste: »Möchtest du uns sonst noch irgendwas erzählen? Vielleicht, was du in den Sommerferien gemacht hast?«

Jane überlegte kurz. »Ich war am Mount Rushmore.«

»Ah, ich liebe Mount Rushmore!«, sagte Mr Parker, froh, sich wieder auf vertrautem Terrain zu bewegen. »Wie fandest du ihn?«

»Ich fand vor allem krass, dass diese Felsen so eine Ähnlichkeit mit vier von unseren Präsidenten haben. Ziemlich gruselig, wenn man mal drüber nachdenkt, oder?«

Ich lachte auf, riss mich aber schnell wieder zusammen. Mr Parker hatte den Witz offenbar nicht verstanden. Ebenso wenig wie der Großteil der Klasse.

»Oh«, sagte Mr Parker. »Der Gedanke liegt natürlich nahe, aber die Präsidentenköpfe am Mount Rushmore sind tatsächlich von Menschen gemacht. Ihre Fertigstellung war …« Er schnippte mit den Fingern und versuchte sich an das Datum zu erinnern. »Hilf mir mal, Ray.«

Ich war zwar für meine Kenntnisse in Geschichte bekannt, aber mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Plötzlich fühlte ich mich wie in einer Quiz-Show im Fernsehen. Ich räusperte mich. »1941«, sagte ich. »Aber ich glaube, das war sarkastisch gemeint, Mr Parker.«

Ich warf einen Blick zu Jane hinüber. Sie formte lautlos ein Danke. Ich war so nervös, dass ich gar nicht erst versuchte zu antworten.

»Natürlich«, sagte Mr Parker und zwang sich zu einem Lachen. »Ich hab es ja auch sarkastisch gemeint.« Aber das hat ihm bestimmt niemand abgenommen. Eine peinliche Stille folgte, in der er nervös an seinem Kragen zerrte und dann sagte: »Also, Jane, jedenfalls herzlich willkommen in Williamsburg, oder auch Burgerville, wie wir es gern nennen.« Anschließend schwang er sich zu einer längeren Rede darüber auf, wie gut es ihr hier gefallen würde, wie nett die Leute seien, dass er überhaupt kein Problem mit Sarkasmus hätte, und dass sie sich, falls sie irgendwas brauchte, jederzeit an ihn wenden könne.

Doch sie hörte ihm gar nicht richtig zu. Stattdessen holte sie ihren Block hervor und fing an zu zeichnen. Ich schielte auf das Papier, auf dem eine idyllische Landschaft mit Kühen, Hühnern und – warum auch immer – einem Minotaurus entstand. Dahinter lugten zwei heimtückisch blickende Augen über den Horizont wie ein bedrohlicher Sonnenuntergang. Aber am besten gefiel mir die Plakatwand im Hintergrund, mit der Aufschrift:

WILLKOMMEN IN KANSAS

Jane muss meine Blicke bemerkt haben, denn während Mr Parker sich endlich wieder seinem Superhelden-Duo RNA und DNA zuwandte, kritzelte sie ein paar Worte an den Rand ihres Blocks und schob ihn zu mir rüber. Dort stand: Ist hier wirklich alles so abgedreht, wie es rüberkommt?

Ich wusste nicht so recht, was sie mit ›hier alles‹ meinte. Diese Stadt? Das fast identische Outfit der anderen Schüler, das ich im Stillen den ›Landeier-Look‹ getauft hatte? Oder Mr Parkers eigenwillige Stoffvermittlung anhand von Comics?

Schwer zu sagen. Für mich hatte Burgerville schon immer in einer Grauzone gelegen, in der sich historische Fakten mit einem dieser schrecklich düsteren Märchen vermischen. Irgendwie schon, schrieb ich in eine Ecke meines Blocks. Unsere Blicke trafen sich wieder und ich hatte das Gefühl, mein Kopf explodiert. Jane lächelte, als könnte sie meine Gedanken lesen, und machte sich an die Vollendung ihrer Zeichnung.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Mr Parker fuhr mit seinem eintönigen Geleier über den Aufbau unserer Gene fort, aber ich konnte an nichts anderes mehr denken als an die geheimnisvolle Unbekannte neben mir.

88 TAGE DANACH

SIMON

Vor meinem Fenster steht eine alte Eiche. Wenn es windig ist, hört man ihre Zweige über die Scheibe kratzen. Die Sonne geht gerade unter und der Himmel erstrahlt in leuchtendem Orange, bevor ein tiefes Schwarz über den Horizont heraufkriecht. Der Vollmond sitzt am Himmelsrand und schaut tatenlos zu, wie der Tag zur Nacht wird.

Das Fenster, der Baum, der Mond. Alles führt immer zu Jane zurück. Der Blick in die Vergangenheit, den ich früher so befreiend fand, fühlt sich jetzt eher beklemmend an. Mein Jahr mit Jane lastet schwer auf der Gegenwart. Auf mir.

»Ray?«, ruft Mom von unten. »Simon ist da.«

Simon Blackburn und ich sind schon seit der Fünften beste Freunde. Simon sieht aus wie ein Nerd aus dem Lehrbuch – mit Brille und diesen T-Shirts, auf denen so was steht wie Does Not Play Well With Others –, aber das täuscht. In Mathe ist er eine ziemliche Niete, und mit Comics hat er überhaupt nichts am Hut. Das einzige, ansatzweise Nerdige an ihm ist seine Leidenschaft für Vampirromane, die früher sogar so weit ging, dass er manchmal mit Vampirgebiss zur Schule kam.

Während Simon die Treppe hochkommt, versuche ich ein bisschen gute Laune zusammenzukratzen, einen Hauch des alten Ray. Wenn schon kein Lächeln, dann wenigstens ein Gesichtsausdruck, der nicht den Eindruck erweckt, ich hätte Verstopfung.

Simon kommt den Flur entlang und steckt den Kopf durch die Tür. »Ray? Alles in Ordnung?«

Einen Moment lang bin ich genervt, weil Anteilnahme und Besorgnis inzwischen offenbar als angemessene Gesprächseröffnung gelten. Aber dann fällt mir ein, dass ich im Dunkeln sitze. In einer Ecke meines Zimmers.

»Alles gut«, sage ich.

Simon tastet sich langsam in die Dunkelheit vor. Ich lasse meinen Stuhl zu ihm herumwirbeln und merke zu spät, dass das eine ziemlich peinliche Oberschurken-Geste ist.

»Hi, Ray.«

»Hi, Simon.«

»Äh …«

Solche unangenehmen Pausen hat es früher nicht gegeben. Diese Lücken, die Jane hinterlassen hat. Wir haben sie noch nicht gefüllt, warten immer noch darauf, dass die Zeit sich wieder ausdehnt oder zusammenschrumpft oder was auch immer.

Simon drückt auf den Lichtschalter und hält sich automatisch die Hand vor die Augen, was er sich bestimmt beim Lesen zu vieler Vampirromane angewöhnt hat. »Ich kann nicht fassen, dass morgen unser letztes Schuljahr anfängt«, sagt er.

»Erinnere mich bloß nicht daran«, sage ich. Wieder so ein erster Schultag. An dem alle voller Stolz ihre neuen Schuhe, Frisuren und mehrfarbigen Kugelschreiber vorführen. Leider vergessen sie dabei, was nach diesen ersten Schultagen kommt: zweite Schultage und dritte Schultage und vierte Schultage. Und jeder davon ohne Jane.

»Kennst du noch diese Schuhe, die beim Gehen blinken?«, fragt Simon. »Ich hab ein Outlet in Kanada entdeckt, wo’s die auch in Erwachsenengrößen gibt. Auf der Webseite steht, die wären jetzt wieder in. Oder meinst du, das gilt nur für Kanada?

»Für coole Schuhe gibt es keine Grenzen«, sage ich.

»Das dachte ich auch«, sagt Simon. Er setzt sich auf mein Bett und blickt sich im Zimmer um, eine zerklüftete Landschaft aus Dreckwäsche, vollgekrümelten Tellern und Geschichtsbüchern, die aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten auf dem Boden liegen, jedes bei einem anderen Kapitel aus Burgervilles Geschichte geöffnet.

»Soll ich dich morgen abholen kommen?«, fragt Simon besorgt.

»Klar, warum nicht.«

»Ray?«

»Simon?«

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

Diesmal probiere ich eine andere Methode: Ich schließe die Augen und fange an zu schnarchen.

»Hör auf, ich weiß genau, dass du nicht diese Krankheit hast, wo man von einer Sekunde auf die andere einschläft …« Simon zögert. »Oder vielleicht doch? Und du hast es mir die ganze Zeit über verheimlicht?«

Ich mache die Augen wieder auf. »Ich hab keine Narkolepsie.«

»Na, das ist doch mal eine gute Nachricht«, sagt Simon. »Das stell ich mir wirklich furchtbar vor, wenn einem plötzlich ganze Körperteile abfallen.«

»Äh, Simon, ich glaube, was du meinst, ist Lepra«, sage ich. Ich muss lachen und lasse den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. Es ist bestimmt Tage her, seit ich das letzte Mal gelacht habe. Die Wangen tun mir weh. Meine Brust ist schwer. Offenbar wurden diese Muskeln wohl schon länger nicht mehr trainiert.

Wir reden noch ein bisschen über dies und das, angefangen bei einem wirren Traum von Simon, in dem er eine riesige Mango isst (»Bis ich gemerkt hab, dass ich das selber war. Ich war die Mango!«), bis hin zu den Fotos von Mr Parker im Batman-Kostüm in der letzten Burgerville Gazette. Irgendwann steht Simon dann auf und sagt noch mal, ich hätte allen Grund, mich auf mein letztes Schuljahr zu freuen – zumal wir in diesem Jahr doch die Tische gleich neben der Dessert-Ausgabe haben.

»Ich geb mein Bestes«, sage ich.

Simon kommt auf mich zu und packt mich an der Schulter.

»Mir fehlt sie auch«, sagt er. Nach einer weiteren peinlichen Stille, die schwer wiegt von all den ungesagten Dingen zwischen uns, dreht er sich um und geht zur Tür, nicht ohne dabei über ein Exemplar von Burgervilles Kolonialgeschichte zu stolpern.

Um ehrlich zu sein, fand ich erste Schultage noch nie besonders toll, aber diesmal schaffe ich es nicht mal mehr, so zu tun als ob. Es kostet mich ja schon alle Mühe, die Gegenwart auch nur einer Person zu ertragen. Rich sagt, ich würde mich isolieren, die Leute mit meiner »verzerrten Wahrnehmung« vor den Kopf stoßen. An dem Punkt schalte ich dann immer ab, nicke höflich und visualisiere meine nächste Mahlzeit.

Aber Simons Besuch hat trotzdem gutgetan, und sei es auch nur, um mal wieder zu lachen. Simon konnte mich immer schon gut zum Lachen bringen. Eine Fähigkeit, die ich seiner Familiengeschichte zuschreibe, schließlich war seinen Vorfahren über Generationen hinweg nichts anderes übrig geblieben, als die Dinge positiv zu nehmen und aus der Not eine Tugend zu machen.

Simons Urgroßvater zum Beispiel hat im Ersten Weltkrieg gedient und ist gleich in der ersten Schlacht, an der die Amerikaner beteiligt waren, gefallen. Und wenn ich gefallen sage, dann meine ich das wörtlich, denn er fiel direkt in sein eigenes Bajonett. Was ihn aber nicht daran hinderte, ein Kriegsheld zu werden, o nein, Sir. Da seine Pfählung nur wenige Sekunden nach Gefechtsbeginn stattfand, brüstete er sich für den Rest seines Lebens damit, in diesem Krieg das erste Opfer auf amerikanischer Seite gewesen zu sein.

Simons Großvater folgte dieser Tradition und wurde mehrfach für seine Heldentaten im Koreakrieg ausgezeichnet, insbesondere für den heroischen Angriff auf ein Bataillon nordkoreanischer Soldaten in den dunkelsten Tagen des Krieges. Später stellte sich allerdings heraus, dass seine Geschichten nicht immer so ganz den Tatsachen entsprachen. Zuerst war er nämlich auf einen Trupp südkoreanischer Soldaten losgegangen. Uups! Und während ihn die Presse mit den Worten »Wir ergeben uns nie!« zitierte, soll er stattdessen »Wir ergeben uns!« gerufen haben. Als die Wahrheit ans Licht kam, wurden ihm sämtliche Orden wieder aberkannt, und er schrieb daraufhin ein Buch, das seinen schmachvollen Abstieg in die Ehrlosigkeit dokumentiert. Unter dem Titel Vom Kriegshelden zum Maulhelden: Amerikas meistgehasster Soldat führte es drei Jahre in Folge die Bestsellerliste von Burgerville an – ein Erfolg, mit dem, wie Simon immer stolz erzählt, seine Zahnspange finanziert wurde.

Vielleicht ist das also der Grund, warum Simon sich trotz allem auf sein letztes Schuljahr freut. Warum er Jane vermissen und trotzdem über neue Schuhe reden kann. Für die Blackburns sind Schicksalsschläge nur ein unvermeidlicher Stolperstein auf dem Weg zu Ruhm und Erfolg.

Für andere hingegen ist die Last der Vergangenheit irgendwann nicht mehr zu ertragen: Sie schleppen sich mühsam noch ein Stückchen weiter, bevor sie schließlich untergehen.

Oder, weil Rich immer sagt, ich soll von mir selber sprechen: Ich schleppe mich mühsam noch ein Stückchen weiter, bevor ich schließlich untergehe.

253 TAGE DAVOR

NEUE DIMENSIONEN

Das erste Mal mit Jane gesprochen habe ich am Tag nach ihrem großen Auftritt, wieder im Bio-Unterricht. Mr Parker hatte sich krankgemeldet, was niemanden überraschte, weil seine Krankheiten oft zeitgleich mit irgendeiner Comic Con auftraten. Seine Vertretung war Mr Coots, ein wahrer Meister der Kunst, an öffentlichen Orten ein Nickerchen zu halten, mit einer besonderen Vorliebe für Klassenräume. Coots hatte im Vietnamkrieg einen kleinen Finger verloren und redete immer so laut, als müsste er einen Hubschrauber übertönen. Er schien ständig unter Strom zu stehen und jeden Moment mit einer Meuterei und Machtübernahme der Schüler zu rechnen. In Vertretungsstunden las er meistens Zeitung und schlief dann irgendwann darüber ein, woraufhin die Klasse bis zum nächsten Klingeln im Chaos versank. Zwischendurch schreckte er immer mal hoch, mit wirrem Blick, als sei er noch in seinem Traum gefangen, und erzählte dann jedes Mal die Geschichte, wie er seinen Finger verloren hatte.

»Wisst ihr eigentlich, wo ich in eurem Alter war?«, blaffte er dann die Klasse an und alle horchten auf.

»In ’Nam!«, brüllte er.

Leere Gesichter.

»Vietnam!« Immer noch brüllend. »Im Kampf gegen die nordvietnamesische Armee. Hat mich den hier gekostet!«

An dieser Stelle hielt er den Stummel seines kleinen Fingers hoch und fletschte die Zähne. »Einfach abgebissen. Von so ’nem verfluchten nordvietnamesischen Soldaten!«

Traute sich schließlich jemand, nach dem Schicksal dieses Soldaten zu fragen, gab es zur Antwort jedes Mal eine andere Version.

Die willkürliche: »Ich hab ihm auch einen Finger abgebissen und in die Suppe getan!«

Die unbegreifliche: »Wir sind jetzt gute Freunde!«

Die simple: »Der ist tot!«

Die völlig abgedrehte: »Welcher Soldat?«

An diesem Tag schlief Coots also auch wieder ein, tief in seinem Stuhl nach unten gerutscht, leise schnarchend und mit Spuckekügelchen übersät: das Ergebnis einer Fünf-Dollar-Wette für den Ersten, der ihn genau zwischen die Augen trifft.

Als ich mit meinem Arbeitsblatt fertig war – ein Comicstrip über die Rettung der DNA durch die RNA –, lehnte ich mich zurück und widmete mich der Frage, unter welchem Vorwand ich die geheimnisvolle Fremde neben mir ansprechen könnte. Zwischendurch gab ich immer wieder vor, auf die Uhr zu gucken, nur um einen Blick zu ihr rüberzuwerfen. Dabei fühlte ich mich so wagemutig, als würde ich den Göttern das Feuer stehlen.

Sie hatte ein Paar riesige Kopfhörer auf, die wie Ohrenschützer aussahen. Statt ihr Arbeitsblatt auszufüllen, zeichnete sie wieder irgendwas auf ihren Block. Ihr Fuß trommelte einen schnellen, nervösen Rhythmus auf den Boden, synchron zu den leisen Gitarrenklängen, die aus ihren Kopfhörern drangen.

Und dann geschah ein Wunder: Sie nahm die Kopfhörer ab und schob einen gefalteten Zettel zu mir rüber. Ich klappte ihn mit der gleichen Ehrfurcht auf wie ein Pirat eine alte Schatzkarte. Es war eine Zeichnung von Coots, wie er friedlich schnarchend hinter seinem Pult saß, mit Haarbüscheln in den Ohren und Sabber am Kinn, während sich draußen vorm Fenster die Pilzwolke einer Atombombenexplosion ausbreitete. Unten drunter stand: Würdest du dieses Meisterwerk gegen die Lösungen eintauschen?

Ich lachte und schaute sie an. Sie zeigte auf das Arbeitsblatt mit dem Superhelden-Duo, das von Mitochondrien und Allelen faselte und mit seinen Heldentaten im menschlichen Körper prahlte.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, deshalb nickte ich nur und hielt ihr mein Arbeitsblatt hin. Sie nahm es und fing an, meine Antworten abzuschreiben, wirkte aber ein bisschen enttäuscht, als hätte sie gehofft, dass wir ins Gespräch kommen würden.

Bei den Mädchen aus Burgerville hatte ich immer die Strategie verfolgt, möglichst wenig zu sprechen. Wenn ich nervös bin, halte ich nämlich gern endlose Vorträge über irgendwelche deprimierenden Fakten aus der Geschichte. (Wie jetzt, du willst nichts mehr über brutale Folterwerkzeuge aus dem Mittelalter hören?)

Aber Jane war anders. Sie wirkte wie eines der wenigen Mädchen, die Kopfbrecher und Spreizbirnen interessant finden würden.

Was mich an eine Fernsehsendung mit dem Titel Neue Dimensionen erinnerte, die ich vor Kurzem gesehen hatte. Darin hat ein ganzer Haufen von Wissenschaftlern und Anzugträgern über die Millionen von Paralleluniversen gesprochen, die es da draußen noch geben muss – mit Leuten, die genauso sind wie wir, nur ein bisschen anders. Hinterher war mir der leise Verdacht gekommen, dass ich in eins der weniger guten Universen hineingeboren worden war. Nicht so schlimm wie das mit den Rieseninsekten, schon klar, aber auch nicht gerade meine erste Wahl. Erst seit Jane auf der Bildfläche erschienen war, hatte ich plötzlich das Gefühl, in der richtigen Dimension gelandet zu sein.

Und so fasste ich an jenem Tag den Entschluss, sie noch in dieser Bio-Stunde anzusprechen, koste es, was es wolle. Selbst wenn nur Grunzen und Quieken dabei herauskäme, würde ich meine Stimmbänder dazu zwingen, sich in Schwingung zu versetzen. Das war ich dem Ray in der anderen Dimension, der heute vielleicht krank war, weil er sich am Abend vorher den Magen an einem abgelaufenen Pudding verdorben hatte, einfach schuldig.

Die Uhr tickte und Janes Stift raste förmlich übers Papier. Unaufhaltsam näherte er sich dem Ende des Arbeitsblattes, und dann würde sie bestimmt wieder die Kopfhörer aufsetzen und sich hinter einer Wand aus Klängen verschanzen. Also stellte ich schließlich die dümmste nur denkbare Frage, die sich neue Mitschüler wahrscheinlich Hunderte von Malen pro Jahr anhören müssen, aber immerhin war es ein vollständiger Satz. »Und, wie gefällt es dir bisher in Burgerville?« Die Worte stolperten übereinander, Vokale und Konsonanten vermischten sich zu einem zähen Brei.

Sie reichte mir das Blatt zurück.

»Überhaupt nicht«, sagte sie.

»Mir auch nicht.« In diesem Moment hätte ich allem zugestimmt, was sie von sich gab.

Anstatt einfach weiterzureden – was das Normalste gewesen wäre –, kam ich wieder auf meine übliche Taktik bei Mädchen zurück und starrte sie einfach nur an. Es war nicht so, als hätte ich keine Fragen an sie gehabt, aber irgendwie passten die in diesem Moment alle nicht hierher. Zum Beispiel die Frage nach ihrer Lieblingseissorte (Erdbeer, wie ich später herausfand), ihrem Lieblingsbuch (Die Glasglocke), ob sie die Star Wars-Prequels mochte (erstaunlicherweise ja) und welches Tier sie am liebsten wäre (»Ein Igel, aber einer, der sich nichts gefallen lässt und jeden beißt, der ihm einen Hut aufsetzen will«).

»Aber so schlimm ist Burgerville nun auch wieder nicht«, hörte ich mich schließlich sagen, als ich die Stille nicht länger ertrug. Fieberhaft durchforstete ich die Geschichte von Burgerville, bis mir was Passendes einfiel. »Du interessierst dich doch für Verschwörungstheorien, oder?«

Ihre Augen verengten sich.

»In Burgerville gab es mal die größte Verschwörung des Jahrhunderts, auch wenn nie was davon nach außen gedrungen ist.«

Ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte, aber statt ihre Zweifel zu äußern oder einfach wieder ihre Kopfhörer aufzusetzen, musterte sie mich nur nachdenklich.

Inzwischen war Mr Coots wieder aufgewacht, völlig verwirrt, aber wie immer in höchster Alarmbereitschaft bezüglich Hinweisen auf eine kommunistische Schläferzelle. Die Klasse hatte längst aufgehört, so zu tun, als würde sie arbeiten, und übte sich stattdessen gerade in diversen Formen der Guerilla-Kriegsführung gegen das herrschende System: Ein paar Jungs zahlten Peter Simmons Geld dafür, dass er das schimmelige Sandwich aus einer verwaisten Brotbox aß. Andere luden ein Video von Coots auf Facebook hoch, mit dem Titel Tiefenentspannung mit Mr Coots, und ein Junge war gerade dabei, alle möglichen Sachen aus Mr Coots’ Aktentasche im Raum zu verstecken.

Coots rieb sich die Augen. »Was ist hier denn los? Wisst ihr eigentlich, wo ich in eurem Alter war?!«

Und nachdem er uns zum x-ten Mal die Geschichte seines kleinen Fingers erzählt hatte, diesmal mit einer interessanten Wendung (der nordvietnamesische Soldat war nach Amerika emigriert und hatte Coots’ Schwester geheiratet), wandte sich Jane plötzlich zu mir um und fragte: »Wer bist du eigentlich?«

Mir war nicht klar, ob sie einfach nur meinen Namen meinte, oder ob sie wissen wollte, was für ein Typ ich war, wer hinter der Fassade steckte.

»Raymond Green«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen.

Sie starrte sie einen Moment lang an, dann legte sie ihre hinein.

»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Raymond Green«, sagte sie in leicht spöttischem Tonfall. »Ich bin Jane Doe. Und du meinst also, in dieser Stadt gibt es ein paar schräge Sachen zu entdecken?«

»Aber hallo. Die Geschichte von Burgerville wird dir einen völlig neuen Blick auf die Vergangenheit eröffnen. Und auf die Gegenwart auch.«

Und dann, als mich schon wieder der Mut verließ, sagte sie die magischsten Worte, die ich je gehört habe: »Vielleicht kannst du mir das alles ja mal zeigen?«

Das Universum kollabierte und ich befand mich plötzlich an einem Ort, der mir weitgehend unbekannt war: der Dimension, in der die guten Sachen passieren.

98 TAGE DANACH

RICHARD DAWSONS BÜRGERRECHTS-FITNESS-BEWEGUNG

Zweimal pro Woche gehe ich zu Rich. Vor unserer ersten Sitzung habe ich ihn im Internet gestalked, schließlich sollte ich diesem Typen meine dunkelsten Geheimnisse anvertrauen. Wie ich herausfand, war Rich nach seinem Großvater Richard Dawson benannt worden, ein berühmter Anführer der Bürgerrechtsbewegung aus dem benachbarten Centerville.

Richard Dawson hatte seine Karriere in den frühen 1950er-Jahren als Fitness-Guru begonnen. Er kam als Erster auf die Idee, alltägliche Hausarbeiten zu einem Teil des Trainingsplans zu machen. Ihm zufolge konnte man jede dieser Tätigkeiten dazu nutzen, sich in Form zu bringen: Gemüse schnippeln, Türknäufe drehen, staubsaugen, Rasen mähen, sogar kauen – eine korrekte Ausführung vorausgesetzt. Anfangs lachten ihn alle aus, aber schließlich konnten seine Anhänger erste, phänomenale Erfolge vorweisen und er bekam beim Burgerville’schen Lokalsender eine Fernsehshow und wurde der erste schwarze Moderator Amerikas.

Mit dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung übertrug er seine Erkenntnisse als Fitnesstrainer dann kurzerhand auf den Rassenkonflikt. Er veranstaltete den Protestmarsch »Zehn Meilen für Gleichberechtigung« und rief eine 30-Tage-Challenge ins Leben, bei der die Leute jeden Tag mindestens ein Mal etwas tun sollten, das zur Verminderung der Diskriminierung beitrug. Sein Ansatz war dabei derselbe wie im Fitnessbereich: Auf die kleinen Schritte kommt es an, weshalb er natürlich ein überzeugter Anhänger von Protestmärschen und Bus-Boykotten war (und Sitzblockaden aus naheliegenden Gründen ablehnte). Und was das Coolste ist: Auch wenn seine Strategie vielen ein bisschen zu einfach erschien, ging sie tatsächlich auf. Centerville wurde die Stadt mit der höchsten Gleichberechtigung (und der höchsten Fitnessrate) in ganz Amerika.

Manchmal kommt es mir allerdings so vor, als hätte Rich die Methoden seines Großvaters einfach nur eins zu eins auf seine therapeutische Arbeit übertragen.

»Ich möchte, dass du jeden Tag irgendetwas tust, das dich deiner Mutter wieder näherbringt«, sagte er bei unserer letzten Sitzung.

Ich verzog das Gesicht. Zu dem Zeitpunkt saß ich mit dem Rücken zu ihm in diesem großen, mit grünem Leder bezogenen Schaukelstuhl, den er auf einem Trödelmarkt erstanden haben muss. In seiner Praxis ist fast alles irgendwie alt, daher vermutlich auch diese Geruchsmischung aus Turnhalle und Altersheim. An den Wänden hängen vergilbte Motivationsplakate, eine Sammlung der schlimmsten Plattitüden, wie Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt oder Niemand außer dir bestimmt dein Schicksal.

»Sie meinen so was wie In zehn Tagen zum Mustersohn?«, fragte ich.

»So viele Tage es eben braucht«, sagte Rich.

Ich drehte mich zu ihm herum. Überraschenderweise spielte er nicht auf seinem Smartphone herum, sondern starrte nur auf das gelbe Notizbuch in seinem Schoß hinunter.

»Die Leute machen sich Sorgen um dich, Ray.«

»Ich weiß.«

»Und? Haben sie einen Grund dazu?«

»Keine Ahnung.«

Rich beugte sich vor, Alarmstufe Rot.

»Ich hab nicht vor, mich umzubringen, falls Sie das meinen.«

»Hast du denn schon mal daran gedacht?«

Ich seufzte. »Nein. Solche Sorgen meinte ich nicht. Eher so allgemeine. Ob ich in Mathe durchfalle oder so.«

»Und woher weiß ich, dass du mir die Wahrheit sagst?«

Ich hatte Rich noch nie so ernst erlebt.

»Meine Güte, entspannen Sie sich mal«, sagte ich. »Sie wissen doch, dass ich so was nie tun würde.«

Er starrte mich nur weiter unverwandt an.

»Sollte sich das irgendwie ändern, ruf ich Sie an, okay?«

»Jederzeit. Und wenn nicht mich, dann deine Mutter, deinen Vater, Simon, irgendwen.« Er kramte in seiner Schublade und gab mir einen Zettel mit einem Haufen Telefonnummern und Fakten über Selbstmord.

Ich faltete ihn zusammen und steckte ihn ein. Je schneller dieses Gespräch vorbei war, desto besser.

»Und jetzt sammeln wir noch ein paar Strategien, damit du wieder besser mit deiner Mutter auskommst«, sagte Rich.

»Wie viel Zeit haben wir denn noch?«, fragte ich. Was Rich offenbar ziemlich nervte, denn er lehnte sich zurück und ließ sein Notizbuch auf den Boden fallen.

»Ich kann nicht die ganze Arbeit alleine machen«, sagte er.

»Aber nur Sie werden schließlich dafür bezahlt«, sagte ich.