Aus dem Englischen von Christel Kröning
Model sein, das ist der Traum vieler Mädchen. Jana hingegen hat nie darüber nachgedacht. Sie ist zwar groß, aber keine typische Schönheit. Trotzdem, als sie in einem Freizeitpark »entdeckt« wird, ergreift sie ihre Chance – mit unerwartetem Erfolg! Plötzlich ist sie Teil einer faszinierenden Welt: Sie reist nach New York und Paris, trifft Designer und Promis, verdient ordentlich Geld. Doch bald lernt Jana auch die Schattenseiten des Jobs kennen. Das, was sich hinter der schönen Fassade versteckt. Denn das Business ist hart, die jungen Models sind leichte Beute. Und nur allzu schnell verliert man jeglichen Halt …
Spannend, süffig, ganz nah dran: Es braucht Kraft und Mut, ein Model zu sein!
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Rat und Hilfe
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Leseprobe
Vorbemerkung der Autorin
Meat Market – Schöner Schein ist eine fiktive Geschichte, Themen wie sexuelle Gewalt, Essstörung und Abhängigkeit sind hingegen ernst zu nehmen und real.
Rat und Hilfe bieten die hinten im Buch genannten Anlaufstellen.
Juno x
»Mode sollte kein Gefängnis sein,
sondern eine Realitätsflucht.«
– Alexander McQueen
– Okay, Kamera läuft.
– Was soll ich sagen?
– Warum du diesen Film machen willst zum Beispiel.
– Es ist an der Zeit dafür, denke ich.
– Warum jetzt?
– Keine Ahnung. Etliche Leute haben sich etliche Meinungen über mich gebildet. Wer ich bin. Was passiert ist. Jetzt will ich meine Seite der Geschichte erzählen.
– Cool.
– Gut. Wo soll ich anfangen?
– Na, am Anfang.
– Ähm …
– Lass dir Zeit. Wir haben es nicht eilig.
– »Es war einmal die Geburt eines kleinen Mädchens …«
– Okay, vielleicht nicht ganz am Anfang.
– Ich komme mir blöd vor.
– Du machst das super, versprochen.
– Ich schätze … es ging an dem Tag im Freizeitpark los.
– Dann fang da an.
Warum sind Kerle so scheiße?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir verfolgt werden. Und als ich jetzt wieder über die Schulter gucke, ist er, jawoll, immer noch da. So ein Widerling. Seit wir auf dem Weg zum Stealth noch pinkeln waren, schleicht er uns hinterher. Echt mal: Igitt. Es ist doch wohl offensichtlich, dass wir mit der Schule hier sind. Was zur Hölle stimmt nicht mit dem? Beschissene Mistkerle, alle miteinander.
Mein Handy vibriert in der Hosentasche. Ferd schreibt. Sie haben sich umentschieden. Jetzt wird’s der Swarm statt dem Stealth.
»Die andern stehen schon beim Swarm an«, gebe ich die Info an Laurel weiter. Sie sind vorgegangen, während ich mit Laurel auf dem Klo war. Mit Laurel und ihrer winzigen Konfirmandinnenblase.
Sie nickt. »Okay.«
An der Tidal Wave, der wir in großem Bogen ausweichen, um nicht durchnässt zu werden, biegen wir ab. Und während Laurel in einer Tour vor sich hin erzählt, werfe ich die Haare über die Schulter, um unauffällig nach hinten zu gucken.
Was zur verdammten Hölle? Der Kriecher ist immer noch da.
Okay. Jetzt mache ich mir langsam Sorgen.
»Nur, warum …« Ich versuche mich auf Laurels Worte zu konzentrieren. »… warum muss sie es so raushängen lassen? Ich meine, schon klar, Harrison ist jetzt ihr Freund, aber muss sie ihm deswegen ständig in den Haaren rumwühlen oder sich wie eine läufige Hündin an ihm reiben? Hat sie noch nie was von Würde gehört?«
Ein weiterer verstohlener Blick über die Schulter. Immer noch da. Scheiße. Er sieht aus wie um die dreißig. Nicht alt genug, um mein Vater zu sein, aber es fehlt auch nicht viel. Wir biegen jetzt auf den Weg ein, der in die Warteschlange vom Swarm mündet. Um uns her wird das Katastrophenszenario nach einer Alieninvasion imitiert: brennender Krankenwagen, Polizeisirenen, eine verkohlte Telefonzelle. Eigentlich ganz cool, nur –
»Jana, hörst du mir überhaupt zu?«
»Laurel«, sage ich und lege ihr den Arm um die Hüfte. »Schau jetzt nicht nach hinten, wir werden verfolgt.«
»Was?« Natürlich dreht sie sich sofort um.
»Laurel!«
Und dreht sich wieder zu mir. »Von wem? Dem Hipstertypen?«
»Exakt«, zische ich. »Seit dem Klo klebt er uns an der Hacke, da bin ich ganz sicher.«
»Im Ernst? Igitt! Was für ein Freak.« Auch Laurel greift zum Trick mit dem Haarezurückwerfen. »Oh mein Gott, Jana, er kommt auf uns zu.«
»Was?«
»Hallo! Entschuldigt bitte!«, ruft er.
Geht’s noch? »Lauf einfach weiter«, befehle ich Laurel. Zwar kommen auch wir nicht an jeder Baustelle vorbei, ohne dass uns irgendein Dreck zugerufen wird, aber so richtig verfolgt wurden wir noch nie. Ich kriege echt Angst. Sollte man sich nicht zumindest im verfickten Freizeitpark einigermaßen sicher fühlen können?
»Ihr zwei da, ganz kurz nur«, ertönt es in unserem Rücken.
»Hm, mal gucken. Vielleicht hast du ja was verloren oder so.«
»Nein, Laurel, wir sollten –«
Aber zu spät. Mit wenigen Schritten ist er bei uns. »Meine Güte, ihr habt vielleicht ein Tempo drauf. Seit Ewigkeiten versuche ich schon euch einzuholen.« Er streckt mir die Hand hin. »Hi, ich heiße Tom Carney. Ich bin …«
Der Swarm rattert samt schreienden Fahrgästen über unsere Köpfe hinweg und weht mir die Haare ins Gesicht.
»… bist du?«
»Was?«, rufe ich.
»Ich habe gefragt, wie alt du bist.«
Laurel verzieht das Gesicht. »Zu jung für dich, du Perversling.«
Der Mann, Tom, greift lächelnd in seinen Rucksack, zückt eine Visitenkarte und hält sie mir vor die Nase.
PRESTIGE MODELS
Tom Carney
Leiter der Abteilung Scouting
Ich blinzle. Während die Bahn ein zweites Mal über uns hinwegdonnert, bewegen sich seine Lippen. »Tut mir leid, was?«
»Ob du schon mal gemodelt hast«, wiederholt er. Er sieht nicht aus wie ein Pädophiler, wobei wohl auch nur die wenigsten wie einer aussehen. Vielmehr könnte er problemlos in einer Gruppe Shoreditch-Hipster untertauchen: Beanie, Plastikbrille, Karohemd und roter Bart. Wetten, er fährt Klapprad?
»Fragst du das im Ernst?«, fragt Laurel gerade. »Ob Jana schon mal gemodelt hat?
Ich ignoriere den Seitenhieb und antworte ihm. »Nein, noch nie«, nuschele ich. Ich hasse es, wie ich klinge, wenn ich nervös bin. Meine Stimme rutscht dann so tief, dass ich mich wie ein Riese anhöre. Wie ein Hagrid-O-Ton.
»Ist denn noch keine Modelagentur an dich herangetreten?«
»Nein«, antwortet Hagrid. Ist das real? Modelagentur? Moooment, geht es hier um Pornos? Wer würde denn bitte meinen flachen Arsch im Porno sehen wollen?
»Wow, das wundert mich«, sagt Tom Carney. »Wie alt bist du gleich?«
»Sechzehn.«
Glühende Junisonne auf meiner mit Fünfziger-Sonnencreme eingeschmierten käsigen Blässe. Die abgeschnittenen Jeansshorts kleben mir an der Haut. Ebenso das Nirvana-Shirt und die gammeligen Converse, die irgendwann einmal weiß waren. Der Klassenausflug in den Thorpe Park gilt als Belohnung nach der Prüfungsphase. Die Luft ist schwer von Nivea, Zuckerwatte, Würstchen, Senf und Ketchup.
»Sag ihm das doch nicht«, schimpft Laurel und zieht mich an der Hand. »Nachher ist er pädophil. Lass uns einen Lehrer suchen.«
»Es ist gut, dass ihr misstrauisch seid. Fallt bloß nicht auf Pseudo-Talentscouts rein. Aber ich bin ein echter, versprochen. Prestige gehört zu Londons besten Adressen in der Branche. Ihr könnt mein Büro anrufen oder auf unsere Website schauen. Wie heißt du?«
Ich habe keine Ahnung von Mode und so, aber von Prestige habe ich tatsächlich schon mal gehört. Weil sie Clara Keys vertreten. Alle in der Winstanley lieben Clara. Sie ist eine von uns. »Ich heiße Jana. Jana Novak.«
»Schöner Name. Woher kommst du?«
»Battersea, Winstanley-Siedlung.« Die Frage nach meiner Herkunft höre ich immer, wenn ich meinen Nachnamen sage. »Aber meine Eltern kommen aus Serbien.«
»Wundervoll. Weißt du, wie groß du bist?«
Verdammt zu groß. »Nicht genau.« Ich zucke die Schultern. »Vielleicht eins achtzig?« Über eins achtzig will ich nicht sein. Ich gehe beim Messen schon immer ein bisschen in die Knie, nur für den Fall.
Eine weitere Bahn voller Schreihälse fährt vorbei. »Hör zu«, sagt Tom, »nimm meine Karte. Die Telefonnummer steht auf der Rückseite. Ich will dich zu nichts drängen, aber wenn du Interesse hast, besprich dich doch mit deinen Eltern und dann vereinbaren wir einen Termin im Büro.«
Laurel stellt sich mehr oder weniger zwischen uns. »Dein Ernst, Kumpel?«
»Absolut. Das ist mein Job.« Er lächelt breit und seine Zähne sehen zu perfekt aus – wie schneeweiße Monopoly-Häuser –, um echt zu sein. »Ich gehe auf Festivals, in Freizeitparks, überall dahin, wo viele Teenager sind, um neue Talente zu entdecken. Verrückt, ich weiß.«
»Cooler Job«, sagt Laurel mit großen Augen. »Was ist mit mir? Könnte ich ein Model sein?«
Oh, Honey, bitte nicht. Autsch. Doch Tom spielt mit und tritt einen Schritt zurück, um sie in Augenschein zu nehmen. Laurel ist wesentlich hübscher als ich. Sie hat eine niedliche Stupsnase und Allergische-Reaktion-Lippen, von denen Jungs einer abzugehen scheint. »Wie heißt du?«
»Laurel Ross.«
»Nun, Laurel, du bist definitiv ein hübsches Mädchen, aber wie groß bist du?«
»Eins fünfundsechzig«, antwortet Laurel betrübt. »Aber größer in High Heels!«
Tom nickt mitfühlend. »Leider kommen für uns nur Mädchen infrage, die größer als eins siebzig sind.«
»Kate Moss ist nicht größer.«
Tom lächelt. »Aber Kate Moss ist Kate Moss.«
»Oh. Okay.«
»Also, Jana, wenn du dich bei uns melden würdest, wäre das großartig. Ich würde mich sehr freuen.«
Laurel steht der Mund offen. Wie verrückt tippt sie auf ihrem Handy herum. Ich sehe zu Tom und schüttele den Kopf. »Ich? Sind Sie sicher?«
Er grinst. »Jana, ganz ehrlich, es ist mir unbegreiflich, dass du nicht längst gescoutet wurdest. Deine Eltern sollen sich bei mir melden, ja? Hab einen schönen Tag. Und immer hübsch Sonnencreme benutzen.«
Nachdem er in einer spanischen Touristengruppe verschwunden ist, frage ich mich, ob ich ihn nur halluziniert habe. Vielleicht vertrage ich die Landluft nicht.
»Oh mein Gott, Jana! Ist das gerade wirklich passiert?« Aha, wenn Laurel ihn auch gesehen hat, muss er wohl echt gewesen sein. Sie hüpft von einem Fuß auf den anderen, als müsste sie schon wieder pinkeln. »Na komm! Lass uns das sofort Sabah und den anderen erzählen!«
Ich zucke die Schultern und betrachte die glänzende Visitenkarte in meiner Hand. Fahre mit dem Daumen über die aufgeprägten Buchstaben. Sie fühlt sich teuer an. Ich muss an Charlie den Schokoladenarsch und seine goldene Eintrittskarte denken.
– Das war er. DER GROSSE AUGENBLICK.
– Wie meinst du das?
– Ab da hat sich … alles verändert.
– Zum Guten oder zum Schlechten?
– …
– Jana?
– Zum Guten. Erst mal.
Alle Novaks sind ziemlich groß geraten. Dad auf jeden Fall, Mum eigentlich auch, Milos: eindeutig. Was blieb mir also anderes übrig?
Vor dem Spiegel in meinem Zimmer, das unterm Dach liegt und daher überall diese nervigen Schrägen hat, muss ich mich immer leicht bücken. Richtig aufrecht stehen kann ich ungelogen nur ganz in der Mitte.
War es am Ende doch nur eine Halluzination? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendwer mich irgendwas modeln lassen würde. Ja, ich bin verdammt groß, und Models haben groß zu sein, aber das da im Spiegel ist doch ein überdimensionaler, ungelenker Freak. Ich tue nur so, als würde ich die Spötteleien in der Schule nicht hören: Riesin, She-Hulk, Madame Maxime, Transe, Goliath, Lady Frankenstein, Slenderman (den fand ich sogar irgendwie witzig), Bohnenstange, Olive Oyl, Queen Kong – ich kenne sie alle. Und wenn es nicht um meine Größe geht, geht es um mein Gewicht: Oh, die muss magersüchtig sein. Guck mal, wie klapprig ihre Beine sind! Als würde sie auf Stelzen laufen! Um dem entgegenzuwirken, esse ich oft und mit großer Geste Käsechips. Ach so, dann wohl Bulimie.
Jedenfalls bücke ich mich vor meinem Spiegel und habe den einen Bikini angezogen, den ich besitze. Lila mit dunkelblauen Punkten. Einmal hatte ich ihn in Gebrauch – vor zwei Jahren auf Mykonos –, fühlte mich aber zu nackt darin, um ihn öffentlich zu tragen, und zog die gesamte Woche lang mein T-Shirt nicht aus. Kam so goth-artig käsig, wie ich hingefahren war, auch wieder zurück. Heute werde ich das Ding doch noch vor Fremden tragen müssen. Wurde mir schon angekündigt. Ist wohl nur fair, dass sie meinen Körper in Augenschein nehmen wollen. Der sieht nur leider ganz merkwürdig aus. Ist kein heißer Kardashian-Körper. Nicht mal ansatzweise. Statt Titten und Arsch nichts als Gräten und Gelenke. Als hätte ein Beutel Knochen das Laufen gelernt. Und dank der von Dad geerbten Hakennase bin ich nicht mal vom Gesicht her irgendwie niedlich.
Die Jungs in der Schule stehen auf Emily Potter (D-Körbchen) oder Tiana Blake (Doppel-D), nicht auf mich. Was vollkommen okay ist, weil ich ja Ferdy habe, und solange er mich mag, kümmert mich alles andere einen Scheiß.
Boah. Was zur Hölle soll man anziehen für einen Modelagenturtermin? Ich habe keine hübschen Klamotten. Hübsche Klamotten passen mir nicht. Ich muss zu den »Überlängen« greifen, weil mir sonst die Ärmel nur bis zum Ellbogen gehen.
Letzten Endes entscheide ich mich für eine Skinny-Jeans, mein schwarz-weiß gestreiftes T-Shirt, das laut Laurel französisch und damit schätzungsweise irgendwie modisch aussieht, und ziehe dazu die unvermeidlichen einst weißen Converse an.
Obwohl mein Magen vor Nervosität auf die Größe einer Rosine geschrumpft ist, stapfe ich die Treppe hinunter zum Frühstück. Genauso ging es mir während der Prüfungen, die ich auf Imodium und Hoffnung hinter mich brachte.
»Seht her, da kommt das Model«, verkündet Milos. Sarkastischer kleiner Mistkerl.
Im Vorbeigehen kriegt er eins auf die Ohren. »Halt die Klappe.«
»Mum! Hast du das gesehen? Jana hat mich tätlich angegriffen!«
»Kein Wunder«, sagt Mum und reicht mir einen Teller, auf dem ein Bagel liegt. »Bitte iss.«
»Wahrscheinlich trage ich einen Hirnschaden davon, aber was soll’s.« Beleidigt lässt Milos seinen Teller in die Spülmaschine fallen und verschwindet im Bad, um sich für die Schule fertig zu machen. Er muss noch zwei Wochen weiter büffeln. Dumm gelaufen, Arschnase.
Als ich Nutella auf meinen Bagel schmiere, knurrt mein Magen. Vielleicht will er ja doch was zu tun kriegen. »Tee für dich? Kaffee? Saft?« Mum sitzt nie still, auch jetzt flattert sie schon wieder im Zimmer umher wie eine Motte auf Crack. Ich frage mich, ob wir deswegen alle so dünn sind. Weil wir nicht relaxen können.
»Saft, bitte. Ist noch Apfel da?«
»Milos hat ihn getrunken. Orange ist da.«
»Mum, der Apfelsaft soll für mich sein. Milos trinkt ihn mit Absicht leer! Er mag ihn eigentlich nicht mal!«
Mum wirft die Arme hoch. »Ich kaufe neuen später.«
»Wo ist Dad?« Die Tür, die von der Küche in unseren kleinen Garten führt, steht offen. Vielleicht frühstückt er ja draußen. Heute scheint wieder ein herrlicher Tag zu werden. Der heißeste Juni seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, so sagen sie in den Nachrichten.
»Arbeiten.«
»Ach. Wollte er nicht mitkommen?«
»Geht nicht. Frühschicht.« Dad arbeitet als Bahnführer auf der Bakerloo Line. Blöde Frühschicht. Zumindest er ist auf meiner Seite. Mum hingegen … »Jana. Bist du dir sicher, du willst dahin?«
Ich verdrehe die Augen und nehme einen großen Schluck Orangensaft. »Bäh, der mit dem Fruchtfleisch? Eklig. Warum kaufst du immer –«
»Jana Katharina.« Uff. Das war ein Rüffel.
Ich seufze. »Dad ist doch auch dafür.«
»Hier geht es nicht um deinen Vater. Was denkst du?«
»Ich denke …« Den Rest des Satzes formuliere ich mit Vorsicht, weil Mum nie etwas vergisst und potenziell jedes Wort bei künftiger Gelegenheit gegen mich verwenden würde. »Ich denke, dass man immerhin mal hingehen und gucken könnte, was sie zu sagen haben. Meinst du nicht?« Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie sich drei Zitronenscheiben auf einmal in den Mund geschoben. Das ist ihre NICHT-GLÜCKLICH-Miene. »Mum?«
»Ich denke, wenn du willst modeln, kannst du das in zwei Jahren machen, nach deinem Abschluss.«
Sie versteht es nicht. Normalerweise verkneife ich mir Widerworte, aber das hier ist etwas anderes. Es ist nicht wie damals mit zwölf, als ich aus einer Laune heraus Geige lernen wollte. Einerseits hat Mum natürlich irgendwie recht. Modeln war nie mein Traumberuf oder so. Vielmehr wollte ich als Kind entweder Stewardess oder Dinosaurier werden. Andererseits ist mir die Möglichkeit mit dem Modeln einfach so in den Schoß gefallen. Das kann ich doch nicht ignorieren.
»Mum, überleg doch mal. Was, wenn hier gilt: jetzt oder nie? Was, wenn ich nur diese eine Riesenchance kriege, und wenn ich die nicht ergreife, dann – peng – platzt die Sache? Was, wenn sie mich in zwei Jahren nicht mehr wollen? Was, wenn ich dann mein Leben lang ein Was-wäre-gewesen mit mir herumschleppen muss? Ich will mich auf dem Sterbebett nicht fragen müssen, was ich alles verpasst habe. Deswegen lass mich das jetzt bitte ausprobieren.«
Mum lächelt. »Du hast ein Problem.« Sie zwickt mir sanft ins Kinn. »Dein Problem ist, du bist viel zu schlau.« Ich lache. Sie räumt weiter die Spülmaschine ein. »Immer dein Großvater hat das zu mir gesagt.«
Über ihn oder meine Großmutter spricht sie eigentlich nie. Milos und ich haben gelernt, nicht nach dem Krieg zu fragen.
Mit einem einzigen Happs verputze ich die zweite Bagelhälfte. »Vielleicht wollen sich mich eh gar nicht haben«, sage ich. »Vielleicht hatte Tom Carney einen Sonnenstich.« Man bedenke die Beanie bei fünfundzwanzig Grad im Schatten.
Zur Poland Street fährt man am besten von Clapham Junction aus. Nachdem ich mir nach dem Frühstück die Zähne geputzt habe und einen kleinen Nervositätsschiss losgeworden bin, nehmen Mum und ich die Abkürzung zur Bahnstation. Mum sagt, als Dad und sie nach England kamen, war unsere Siedlung noch eine richtig üble Gegend, in der sich nie ein Polizist blicken ließ und jede Woche wer abgestochen wurde. Doch mittlerweile, wenn man von den grottenhässlichen Gebäuden mal absieht, lässt es sich in der Winstanley ziemlich gut leben. Auf der neuen Grünfläche kann man schaukeln und rutschen, rechts und links der Straße wurden Bäume gepflanzt und vom karibischen Café an der Ecke her riecht’s den ganzen Tag nach Jerk Chicken. Worüber will man da meckern?
Wir nehmen die Overground bis Vauxhall und steigen von dort in die Victoria Line um. Selbst fürs Handygedaddel bin ich zu nervös und starre stattdessen aus dem Fenster, während Mum die Metro durchblättert. Weil Mum an jeder Ecke Mörder und Terroristen wähnt, lässt sie mich nur ungern allein in die Innenstadt fahren (und »allein« bin ich in ihrer Welt auch dann, wenn Laurel, Sabah, Ferdy oder Robin dabei sind). Trotzdem finde ich natürlich den Weg zum großen Topshop im Schlaf. Mum weiß hingegen mit London immer noch nicht richtig was anzufangen. Die Stadt macht sie fertig, sagt sie. Manchmal redet sie sogar davon, »wieder nach Hause« zu gehen. Worunter wiederum ich mir nichts vorstellen kann.
Jedenfalls hat sie seit dem Thorpe Park mehr als einmal mit Tom Carney telefoniert, der ihr – ungeachtet der Tatsache, dass die Agentur natürlich dick und fett bei Google Maps steht – eine detailverliebte, idiotensichere Wegbeschreibung geliefert hat. Dass ich überhaupt hinfahren darf, kostete ihn einige Überredung. Wahrscheinlich dachte Mum, dass er mich als Sexsklavin verkaufen will oder etwas in der Richtung. Erst der Satz »Mrs Novak, wir vertreten Clara Keys« besänftigte ihr Misstrauen. Von ihr hat selbst meine Mum schon gehört. Wie könnte es anders sein, schließlich wohnen wir in Claras Viertel. Na ja, früherem Viertel.
Beim Aussteigen am Oxford Circus ignorieren wir einen gruseligen Typen mit Zahnlücken, der mich als »hübsches Liebchen« betitelt – London, oder? Hier wird’s nie langweilig. Bis zum Büro von Prestige sind’s nur ein paar Schritte über die Oxford Street. Obwohl die Rushhour schon lange vorbei ist, sind hier unzählige Londoner unterwegs, die kaum je von ihren Handys aufsehen.
Ich merke deutlich, dass auch Mum nervös ist. Sie hat sogar Make-up aufgelegt. Das macht sie sonst nie. Mit ihrem blumengemusterten Sommerkleid, das sie sich vor zwei Jahren für ihren und Dads zwanzigsten Hochzeitstag gekauft hat, würde sie eher auf eine Gartenparty passen als in die City. In der Pflege arbeitende Geflüchtete aus Serbien fügen sich wohl nicht einfach von selbst in die Londoner Fashionszene ein. Ich mich eher auch nicht. Hoffentlich muss ich keinen Test über Klamotten, Designer und so ablegen. Den würde ich gründlich versemmeln.
»Okay, wir sind da«, stellt Mum das Offensichtliche fest. PRESTIGE MODELS verkündet das bestimmt teure Glasschild über der Tür. Ansonsten ist von außen kein Unterschied zu einem x-beliebigen Büro feststellbar. Ich hatte irgendwie was … Abgefahreneres erwartet.
»Mum, mir ist ein bisschen schlecht.« Wie gesagt, ich wollte noch nie Model werden. Nie im Leben wäre mir das von selbst eingefallen. Obwohl es sich genau wie etwas anfühlt, das ich sein wollen sollte. Ich meine, wer wäre das nicht gerne? Erkennt man doch schon am Wort: ein Modell sein, ein Vorbild. So aussehen, wie ein Mensch aussehen sollte.
»Alles gut«, sagt Mum. »Die haben dich eingeladen, oder? Die freuen sich auf dich.«
Gutes Argument. Bringen wir’s hinter uns. Könnte ich bloß aufhören, so nervös zu sein. Hoffentlich habe ich keine Schweißflecken unter den Achseln. Schweißflecken sind weder französisch noch modisch. Ach, ich schäme mich einfach in Grund und Boden, weil mein Erscheinen hier mir so vorkommt, als würde ich sagen: »Hi, ich bin Jana, und ich bin so was von hübsch genug, um Model zu werden.« Dabei weiß ich doch ganz genau, dass ich mich nur in den Wald stellen müsste, um mit einer Elchkuh verwechselt zu werden.
Tatsächlich war Ferdy derjenige, der mich auf der Rückfahrt vom Thorpe Park von der Idee überzeugt hat. Ich hatte das Ganze eigentlich schon als absolut lächerlich verworfen, er aber sagte: »Models sollen nicht hübsch aussehen, sie sollen einen in ihren Bann ziehen. Und das tust du.«
Mein Ferdy. Ich liebe ihn.
Und natürlich habe ich die Sache auch mal weitergedacht. Stellt man sich aufs Dach von Ferdys Plattenbau, kann man jenseits der Themse die schicke Flussseite sehen: Fulham, Chelsea, die protzigen Apartmenthäuser mit ihren Glasfronten, Balkonen und Dachgärten. Und wer wohnt da wohl? Verdammte Models, die wohnen da.
Reich und berühmt. Jeder will reich und berühmt sein, oder?
Mum wagt den ersten Schritt hinein und ich folge ihr.
Als Nächstes schnappe ich nach Luft. Hinter der Tür ist es hell, sehr hell. Weiß wie in einer Zahnpastawerbung. Als beträte ich eine andere Dimension. Die Zeit bleibt kurz stehen und dann …
Dann läuft sie weiter. Wir stehen in einem Vorzimmer. Das im Grunde auch in eine Zahn- oder Tierarztpraxis führen könnte. Direkt vor uns ist ein Empfangstresen. Die Frau dahinter muss ein Ex-Model sein, da sie zu etwa siebenundachtzig Prozent aus Wangenknochen besteht. Na ja, welche Modelagentur würde sich auch schon eine alte Schabracke ins Vorzimmer setzen? »Hallo«, begrüßt sie uns mit einem herzlichen Lächeln.
»Hallo«, sagt Mum, und ich bin heilfroh, dass ich nichts sagen muss, sondern mich darauf konzentrieren kann, nicht vor Aufregung in die Hose zu machen. Mum holt ihr bestes Oxford-Englisch hervor, das sie sonst nur am Telefon oder beim Elternabend benutzt. »Es ist ein Termin vereinbart. Für Jana Novak.«
Die Empfangsdame braucht einen Moment, bevor sie auf meinen Namen reagiert. »Ach, genau. Ein Termin mit Tom, richtig? Lassen Sie mich nachfragen, ob er Sie schon empfangen kann oder noch im Meeting sitzt. Eine Sekunde, bitte.« Sie greift zum Telefon und wählt eine Nummer.
Die erwarten mich tatsächlich. Das Ganze ist kein schlechter Scherz. Die Begegnung im Thorpe Park war keine Slushietrip-Hallu.
»Er ist gleich bei Ihnen. Setzen Sie sich doch kurz.«
Von der mintgrünen Chaiselongue aus – ganz schön nobel, die Hütte – kann ich ein Büro ausmachen, in dem von zwei inselgroßen weißen Schreibtischen eine immense Geschäftigkeit ausgeht. Zwischen durcheinanderklingelnden Telefonen sind Gesprächsfetzen auf Englisch und Französisch zu hören. Der kleine Couchtisch vor uns ist bestückt mit Vogue, Elle, Tatler und Harper’s Bazaar. Ein Flatscreen an der Wand gegenüber zeigt in wechselnden Bildern die neuesten Engagements der Prestige-Models. Obwohl ich von fast keiner den Namen wüsste, denke ich hier und da: Ach, die kennste doch. Unterschiede gibt es kaum zwischen ihnen. Goldenes Haar, goldener Teint, goldene Beine, goldenes Gold. Keine von ihnen sieht auch nur annähernd aus wie ich.
Auf einmal muss ich an die Schulaufführung in der ersten Klasse denken, bei der wir unseren Mums und Dads etwas vorsingen sollten. Unsere Englischlehrerin Miss Skipsey hatte »English Country Garden« ausgesucht und alle verkleideten sich als Blumen, Falter oder Igel. Bis auf mich. Natürlich. Laurel eine Narzisse, Sabah ein Schmetterling, ich … ein Kraut. Zu einer grünen Strumpfhose und einem alten sumpfbraunen Pulli von Dad bekam ich das Gesicht in der Farbe von Moos angemalt. Ich war ein verdammtes Kraut.
Clara Keys, die diesen Monat offenbar das Cover der australischen Vogue ziert, erscheint auf dem Flatscreen. Wie eine schwarze Barbie sieht sie aus mit ihren riesigen Disney-Augen, den vollen Lippen und der berühmten makellosen Haut. Wobei natürlich ihre märchenhafte Geschichte sie genauso ausmacht wie ihr Gesicht (und ihre Beine). Das traurige Pflegekind, das von Familie zu Familie gereicht wird. Das sich eines Tages im McDonald’s an der Clapham Junction einen McFlurry gönnt, genau wie ich schon tausendmal, und dort gescoutet wird. Das wenige Wochen später auf der London Fashion Week läuft und ab da die neue Naomi genannt wird. Doch abgesehen von ihrer Hautfarbe ist sie keine Naomi. Sie ist Aschenputtel. Die zur Prinzessin wurde.
Ein Mädchen setzt sich in den Sessel gegenüber von Mum und mir. Sie sieht eindeutig wie ein Model aus. Zahnstocherarme umschlingen eine Prestige-Fotomappe und unter feinen, sandblonden Haarsträhnen spähen dunkel geränderte Augen hervor. Sie ist groß, aber sehr zierlich, wie ein Vogel vielleicht, und wirkt ein bisschen so, als wäre sie gerade aus einem sehr hohen Nest gefallen. Wir könnten ungefähr gleich alt sein, sie allerdings scheint seit mindestens einem Monat nicht geschlafen zu haben.
Wenn sie darauf aus sind, bin ich am Arsch.
»Jana! Hallo!« Strahlend kommt Tom mit großen Schritten und ausgebreiteten Armen auf uns zu. Ich stehe auf, um ihm die Hand zu schütteln, werde aber in eine Umarmung gezogen. Hmm, bin kein Fan. Ich mag meinen Tanzbereich.
»Wie geht es dir? Vielen Dank fürs Kommen.«
»Kein Problem«, murmele ich. Mit fremden Erwachsenen zu reden, die keine Lehrer sind, ist komisch. Wobei. Mit Lehrern zu reden ist auch komisch. Ich vermeide es nach Möglichkeit. »Das hier ist meine Mum.«
»Hallo, Mrs Novak. Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Wollen wir dann zu den anderen? Sie sind schon ganz gespannt!«
Kurz will ich fragen, wie viele Leute mich denn erwarten, aber das klänge irgendwie gaga. Ich hatte gehofft, wir würden uns nur mit ihm treffen. Muss ich gleich im Bikini vor einem ganzen Publikum auf und ab laufen? Das will ich nicht. Nein danke.
»Hier entlang zur Treppe. Oben sind die Konferenzräume.« Mum und ich folgen ihm durch das Großraumbüro, in dem kaum jemand den Kopf für uns hebt. Eine Frau mit halb blonden, halb blauen Haaren schreit auf Französisch in ihr Telefon, feuert ungefähr tausend Worte pro Minute ab. Irgendwer in Frankreich hat so richtig verkackt.
Am nächsten Tisch wird ein absurd schöner Typ mit fluffigen roten Haaren angekeift: »Verdammt noch mal, Seamus!«, ruft das Mädchen und rauft sich die Haare. »Ich gebe hier alles, um dir Aufträge zu verschaffen! Da kannst du dich doch zumindest BEIM KUNDEN BLICKEN LASSEN!«
Doch Seamus ist zu stoned für eine Reaktion. Er könnte schwerlich noch desinteressierter dreinblicken.
Tom führt uns eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock, von dessen Flur wir durch Glaswände in weitere Büros gucken können. Eines sieht aus wie dieses TV-Studio von The Apprentice, in dem Trump immer seine Bewerber angeschnauzt hat. Zum Glück lassen wir es links liegen und betreten ein weniger Furcht einflößendes Zimmer, in dem sich weitere Sitzgelegenheiten um einen weiteren Couchtisch gruppieren. Ach, guck mal, da steht sogar eine Schale dekorativer grüner Äpfel, die bestimmt nie gegessen werden. »Setzen Sie sich doch.«
Das Sofa wird bereits von zwei Frauen okkupiert. Von einer sehr coolen Asiatin mit türkisem Pixie-Schnitt und einer zur Empfangsdame passenden Version des Supermodels im Ruhestand. Mit diesen Schlüsselbeinen könnte sie einem die Augen ausstechen. »Tag auch!«, sagt Pixie-Schnitt und steht zur Begrüßung auf. »Ich bin Ro. Leiterin der Abteilung New Faces. Ich freue mich, dich kennenzulernen, Jana.«
»Hi.«
»Hallo, Jana, und ich bin Cheska DeBrett, ich leite die Abteilung Frauen.« Zugegeben sieht sie original so aus, als könnte sie locker die Abteilung Alle Frauen der Welt leiten. Wie eine Göttin steht sie mir gegenüber – keinen Zentimeter kleiner als ich, goldene Locken. »Nimm doch Platz. Möchte jemand einen Tee oder einen Kaffee?«
Ich schüttle den Kopf, aber Mum sagt Ja zu dem Tee, für den Tom eine Praktikantin losschickt, bevor er sich zu uns setzt.
»Wie fühlst du dich?«, schnurrt Cheska an mich gewandt mit einer aufregend rauchigen Stimme. Diese Frau wurde zu hundert Prozent kontrolliert biologisch in Chelsea angebaut. Da verwette ich meinen Arsch drauf.
Ich zwinge meine Hände, sich auf meinen Knien still zu verhalten, und kreuze die Beine wie eine Lady. »Leider bin ich sehr nervös. Tut mir leid«, lasse ich mit dumpfer Stimme verlauten.
»Nicht doch, Liebes!«, ruft Ro. »Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen. Wir wollen dich doch nur mal persönlich kennenlernen. Deine Fotos haben uns schon sehr gefallen, von daher musst du das hier überhaupt nicht als Test betrachten, versprochen!« Beide Porträts, die ich per E-Mail geschickt habe, eins von vorne, eins von der Seite, liegen vor ihr auf dem Couchtisch.
Die Praktikantin kommt mit einem Tablett herein, auf dem eine Karaffe Wasser mit Gläsern und Mums Tee stehen.
»Seit Tom dich im Thorpe Park entdeckt hat, kann er gar nicht mehr aufhören, von dir zu reden«, sagt Cheska.
»Allerdings! Im Ernst, Jana, es ist mir immer noch ein Rätsel, wo du dich die ganze Zeit versteckt hast. Du bist die Entdeckung des Jahrzehnts!«
Ich merke, wie ich feuerrot werde.
»Tom! Jetzt überfahr das arme Mädchen nicht so«, tadelt ihn Cheska und gießt mir ein Glas Wasser ein.
»Meine liebe Jana«, ergreift Ro wieder das Wort. »Du bist außergewöhnlich, ist dir das bewusst?«
Ja toll, was zur Hölle soll man darauf sagen? »Äh. Okay. Danke?«
Cheska lächelt. »Lass mich raten. In der Schule machen sie sich über dich lustig, stimmt’s?«
Peinlich. Ich weiche Mums Blick aus. »Manchmal nennen sie mich Giraffe oder so. Aber im Basketball bin ich trotzdem eine Niete.«
Ich ernte allgemeine Erheiterung. »Guck mal da rüber.« Cheska weist durch die Glaswand in den Flur, wo Reihe um Reihe ein Hochglanzmodelfoto neben dem anderen hängt. »Jedes dieser Mädchen wurde mal Freak genannt, oder Bohnenstange oder Stabheuschrecke … und viele von ihnen bestimmt auch Giraffe. Aber jetzt verdienen sie dank uns Tausende Pfund mit ihrem Aussehen.«
»Jana, du hast einfach einen … absolut einzigartigen Look«, verkündet Ro und trinkt unter munterem Eiswürfelgeklimper den letzten Schluck Latte aus ihrem Glas. »Ich sage es geradeheraus: Du bist nicht die herkömmliche Werbeschönheit. Aber wenn ich mir dich im Bereich Editorial oder auf dem Laufsteg vorstelle … OH MEIN GOTT! Da wirst du wortwörtlich durch die Decke gehen.«
Sie meint sprichwörtlich, nicht wortwörtlich, aber egal. »Glauben Sie wirklich?«
»JA!«, intonieren Ro, Cheska und Tom gleichzeitig. »Und duz uns doch bitte, so machen wir das alle in der Branche, okay?«, fügt Cheska hinzu. Dann fällt ihr Blick zur Tür. Die gleich danach AUFKNALLT und den Weg frei macht für einen Wirbelsturm rot gefärbter Korkenzieherlocken. Sofort nehmen Tom, Cheska und Ro eine strammere Haltung an. »Hallo, hallo, hallo. Achtet gar nicht auf mich.« Die Besitzerin der Locken ist älter als die anderen drei. Ende vierzig vielleicht. Ihr Outfit ist der Wahnsinn. Sowohl sprich- als auch wortwörtlich: Zum Nadelstreifenkleid mit Slippern von (wie auf ihnen zu lesen ist) Gucci trägt sie mehr Schmuck, als ich je an einer einzelnen Person gesehen habe. »Ich musste einfach noch vorbeikommen, um einen Blick auf Toms neues Herzensprojekt zu werfen.«
»Jana«, stellt Tom vor, »das ist Maggie Rosenthal. Sie leitet unsere Agentur.«
Ich halte die Luft an, um keine Schnappatmung zu kriegen. Als ich sie das letzte Mal im Fernsehen gesehen habe, hatte sie noch eine andere Haarfarbe, aber jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Maggie Rosenthal. Kaum eine Nachricht aus der Modebranche kommt ohne ihr Gesicht aus. Sie war es auch, die am Meckes vorbeiging, als Clara Keys mit ihrem McFlurry hinter der Scheibe saß.
»Hallo, meine Schöne. Und das muss deine Mum sein.« Sie schüttelt ihr die Hand.
»Ich bin Rita. Rita Novak«, stellt Mum sich vor.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Also gut, Jana. Dann lass dich mal ansehen.« Mit diesen Worten reißt sie mich abrupt aus meinem Staunen heraus. Was? »Aufstehen. Na los!«
Ich tue wie geheißen.
»Steh gerade, Liebes. Gutes Mädchen. Wahnsinnsgröße. Knapp eins achtzig?«
»Glaube ja.«
Sie umkreist mich und scannt mich von oben bis unten wie eine von diesen Kabinen am Flughafen. »Hervorragend. Hast du ein Haargummi dabei, Schätzchen?«
»Ähm … nein. Tut mir leid.«
»Hier, nimm.« Cheska reicht mir eins.
»Wunderbar, Darling, bindest du dir dann jetzt bitte die Haare zurück?«
»Klar.« Gesagt, getan.
»Entschuldige meine Ausdrucksweise, Liebes, aber deine Knochenstruktur ist ein arschgeiler Hammer. Entschuldigung auch an Sie, liebe Mum.« Sie zwinkert übertrieben in Mums Richtung. »Aber ein neuer Haarschnitt muss her, oder, Ro?«
Ro nickt weise, als hätte sie die Frage kommen sehen. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.«
»Welche Schuhgröße hast du, Schätzchen?«
»Vierzig.«
»Wie heißt die Praktikantin?«
»Nevada«, antwortet Tom.
»Nevada!«, brüllt Maggie Richtung Flur. »High Heels, Größe vierzig, bitte!« Dann legt sie mir behutsam die Hand unters Kinn und dreht mein Gesicht von rechts nach links. »Versteh das nicht falsch, Herzchen, du hast ziemlich maskuline Züge. Augenbrauen, Profil. Steh ich verflucht noch mal drauf. Sehr androgyn. Androgyn ist so was von modern.«
Mir wurde schon oft gesagt, dass ich wie ein Mann aussehe, aber niemand hat es je als Kompliment gemeint. Als Nevada ins Zimmer huscht, trägt sie eine Furcht einflößende Kreuzung aus Schuh und Stelze in Händen. Schwarzes Lackleder, rote Sohle. Mir ist klar, was als Nächstes kommt. »Soll ich in denen laufen?«
»Ja, bitte.«
»Ich … ähm … komme nicht so gut klar in hohen Schuhen.« Was mir beim Schulball in High Heels passiert ist, behalte ich lieber für mich, muss ja keiner wissen, dass ich auf einen Rollstuhlfahrer gefallen bin.
»Was nicht ist, kann ja noch werden. Rein in die Dinger, Schätzchen, und lauf einfach mal für uns«, sagt Maggie und drückt meinen Arm.
Ich werde aufs Neue rot, während ich mich umständlich hinsetze, um meine Converse auszuziehen. Auf meinen Socken sind kleine Herzchen drauf. Typisch Jana. Als ich sie von meinen Füßen rolle, bleiben die Abdrücke vom Bündchen zurück. Im Innern der Stilettos steht »Louboutin«. Die haben hier Louboutins rumfliegen. Lässig. Sabah und Laurel werden anfangen zu heulen, wenn ich ihnen das erzähle.
Nachdem ich hineingeschlüpft bin, hole ich tief Luft.
»Gib einfach dein Bestes«, sagt Cheska. »Bevor ich mit dem Modeln anfing, habe ich auch nie High Heels getragen. Warum sollten du und ich das auch? Bei unserer Größe. Die gute Nachricht ist: Auf hohen Schuhen laufen kann man lernen. Groß und schön sein nicht.«
»Einmal bis zur Tür und wieder zurück«, sagt Tom. »Du musst dabei gar nicht versuchen, wie ein Model auszusehen. Einfach laufen.«
Ich hole ein weiteres Mal tief Luft und drücke mich mit beiden Armen aus dem Sessel hoch. Sofort beschweren sich meine Zehen: Hey, warum quetschst du uns in ein Dreieck? Ein Fuß ist nicht dreieckig! Ich kenne Modenschauen aus dem Fernsehen. Ich habe Next Top Model gesehen. Ich weiß, dass Models nicht wie normale Menschen laufen. Als Clara Keys bei der Victoria’s Secret Show war, hat sie diese Über-Kreuz-Schritte gemacht. Soll ich die auch versuchen? Oder einfach nur darauf achten, mir nicht die Beine zu brechen.
Ich nehme die Tür ins Visier und laufe los. Meine Knöchel fühlen sich sehr wackelig an. Der eine Schuh ist etwas zu groß und scheint mir gleich vom Fuß fallen zu wollen. Auf einmal bin ich wieder vier, trage meinen Peppa-Wutz-Schlafanzug und lache mich tot, während ich in Mums riesigen Stöckelschuhen umherstakse. Dads Schnappschuss davon steht zu Hause auf dem Kaminsims.
»Guck nach vorne, meine Schöne, nicht auf deine Füße«, ruft Maggie, als ich bei der Tür ankomme.
Ich drehe mich um und trete den Rückweg an. Da knickt mein linker Fuß um und ich gerate ins Stolpern.
»Keine Fäuste machen, Liebes. Du siehst aus, als würdest du eine Schlägerei anfangen wollen.« Auf meine Hände habe ich überhaupt nicht geachtet. »Lass die Arme schwingen. Entspann das Gesicht.«
Die zweite Runde laufe ich etwas lässiger. Lege sogar ein bisschen an Tempo zu.
»Alles klar, Herzchen, das reicht erst mal«, sagt Maggie. »Gott segne dich, du hast es ehrlich versucht.«
»War ich so schlecht?«
Tom lächelt mich an. »Es war in Ordnung. Wir haben schon viel Schlimmeres gesehen.«
»Absolut«, stimmt Ro zu. »Das lässt sich hundertprozentig noch hinbiegen.«
Endlich sagt auch Mum was. »Bedeutet das, Sie wollen Jana … einstellen?«
Tom, Ro und Cheska schauen zu Maggie, die sich in einer dramatischen Pause suhlt. »Mrs Novak, ich sage das nur selten, deswegen erlauben Sie mir bitte, es zu genießen. Ich lasse Ihre Tochter nicht eher gehen, bis sie bei uns unterschrieben hat. Wenn es sein muss, verbarrikadiere ich höchstpersönlich diese Tür.« Maggie grinst mich verschmitzt an. Dann lehnt sie sich über den Couchtisch und nimmt meine beiden Hände in ihre. »Jana, Darling, es wäre eine verdammte Ehre für uns, dich bei Prestige Models unter Vertrag zu nehmen. Was sagst du?«