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Der Autor
Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Unter dem Pseudonym Virginia Doyle hat er mehrere historische Kriminalromane verfasst.

Das Buch
1903: Aus dem verruchten Hafenviertel St. Pauli ist eine Vergnügungsmeile erster Güte geworden. Besucher aus allen Volksschichten amüsieren sich in Volkstheatern, Operettenhäusern, Varietés, riesigen Bierhallen und mondänen Cafés. Der Mord an einer Tänzerin der Revue »Die rote Katze« ist der erste Fall für den jungen Polizisten Heinrich Hansen, der nach Jahren auf See an seinen Geburtsort St. Pauli zurückkehrt. Als so genannter »Vigilant«, als verdeckter Ermittler, macht sich Hansen in den Straßen seiner alten Heimat auf die Suche nach dem Mörder.

Robert Brack schreibt als Virginia Doyle

Die rote Katze

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

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Ungekürzte Ausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Januar 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Charlotte Gutberlet

ISBN 978-3-95819-022-1

Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Tänzerin blickte in den Spiegel. Was ist schon dabei, dachte sie. Wenn man so hübsch ist wie ich, darf man sich drei Liebhaber leisten. Sie sehen so lustig aus, diese Männer mit den Schnurrbärten im Gesicht. Und jeder Bart ist anders als der andere, fühlt sich anders an.

Selbst wenn sie die Augen schließen würde und einer der drei Herren käme herein, so vermutete sie, würde sie spätestens beim ersten Kuss wissen, um welchen Verehrer es sich handelte. Am Kitzeln der Barthaare würde sie es erkennen. Ganz bestimmt.

Sie musterte ihr geschminktes Gesicht. Ich sehe aus wie ein liebes Kätzchen, dachte sie, ich kann schnurren. Und sie schnurrte sich etwas vor. Ich kann aber auch frech sein. Sie verzog das Gesicht und miaute. Und böse kann ich werden! Sie fauchte und hob die Arme. Sogar Krallen zeigen! Sie bewegte die Tatzen, als wollte sie jemandem die Augen auskratzen. Und süß bin ich auch und anschmiegsam. Das lassen sich die Herren was kosten. Sie drehte den Oberkörper nach rechts und nach links. Vielleicht sollte ich das Dekolleté noch etwas erweitern. Das macht Appetit.

Es klopfte an der Garderobentür. Sie lächelte verführerisch und klimperte mit den langen Wimpern. Da kommt schon der Erste. Ach, diese Männer! Geben nie Ruhe. Wollen immer dabei sein, wenn man sich umzieht. Nun ja, warum nicht. Andererseits sind sie geradezu verrückt nach diesem Kostüm. Was diese Männer nur an Katzen finden? Sie sind wirklich wie kleine Buben. Der eine markierte gern den verspielten Kater auf der Suche nach einem Napf mit süßer Sahne. Der andere kroch gern auf sie zu, miaute und ließ sich am Kinn kraulen.

»Momentchen!«, rief sie. »Ich ziehe mich um.«

Es klopfte noch einmal, entschiedener. Sie kuschelte sich in ihren Morgenmantel, drehte sich auf ihrem Schminkstühlchen um und schloss die Augen. Wollen wir doch mal sehen, ob das mit dem Barterkennen wirklich funktioniert.

»Herein!«, rief sie fröhlich.

Sie hörte, wie der Türknauf betätigt wurde. Die Musik aus dem Ballsaal des Varietés schwoll an, die Tür fiel ins Schloss, die Musik wurde wieder leiser.

Wer es wohl war? Hauptsache, er nahm sie nicht gleich in die Arme. Am Griff waren sie allemal auseinander zu halten. Der eine packte sie gern an den Schultern und zog sie an seine Brust. Der zweite fasste sie gern im Nacken, ehe er sie küsste. Dem dritten wiederum schien es zu genügen, vor ihr auf die Knie zu gehen.

»Nicht anfassen!«, sagte sie, während die Stiefelschritte näher kamen. »Erst küssen!«

Sie reckte ihre Katzenschnauze in die Richtung, aus der sie ihren Besucher erwartete.

Da war er. Sie spürte den Bart. Er kitzelte ihre Oberlippe.

»He!« Sie lachte. Es war ein harter Kuss. Aber seltsam, sie konnte sich einfach nicht entscheiden, wem der Bart gehörte.

»Noch mal«, hauchte sie.

Sie spürte etwas Kratziges am Hals und breitete die Arme aus. Doch es kam kein Kuss mehr. Stattdessen merkte sie, wie dies dünne, kratzige Etwas sich enger schnürte. Sie kicherte. Was sollte das nun wieder für ein Spaß werden? Sie schnurrte. Dann stockte ihr der Atem.

»Ach!«, stieß sie hervor. »Das tut weh«, wollte sie hinzufügen, aber ihr blieb die Luft weg.

Sie riss die Augen auf. Er war über ihr. Nur ein schwarzer Schatten. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Er stieß ihren Oberkörper zurück. Der Schmerz an ihrem Hals wurde unerträglich. Sie versuchte, den Übermächtigen mit ihren Tatzen abzuwehren. Sie strampelte. Sie schlug mit den Krallen zu, hörte einen erstickten Schmerzenslaut. Jetzt drückte sein schwerer Brustkorb sie nieder. Sie strampelte heftiger, bekam keine Luft mehr, bäumte sich auf, wurde abermals nach hinten gestoßen. Sie rutschte vom Hocker, und er fiel mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Der Druck auf ihren Hals verstärkte sich, ihr war, als würde er entzwei geschnitten.

Das Letzte, was sie hörte, war ein Ächzen und Stöhnen, sie spürte, wie ihre Zunge anschwoll und sich wie ein fetter Wurm den Weg durch die zusammengepressten Lippen bahnte. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Der Mörder blieb noch eine Weile auf ihr liegen und schnaufte. Schließlich rappelte er sich auf, hob sie hoch, schaute in ihr blau angelaufenes Gesicht, verzog den Mund und legte sie bäuchlings auf den Schminkhocker. Er lockerte die Schlaufe und nahm den Draht ab, der tief in das Fleisch seines Opfers einschnitt, rollte sein Mordwerkzeug auf und stopfte es in den Ärmel.

Er richtete sich zu voller Größe auf und starrte in den Spiegel. Er sah ein heftig atmendes Raubtier, einen keuchenden Kater, der seiner Natur gefolgt war und mitleidlos ein wehrloses Tier geschlagen hatte.

Aber er würde seine Beute liegen lassen, würde nicht mehr mit ihr spielen. Er musste schleunigst verschwinden. Er schlich zur Tür, zog sie einen Spaltbreit auf und spähte in den Korridor. Er schlüpfte nach draußen und zuckte zusammen. Die gegenüberliegende Tür wurde aufgezogen, und das überraschte Gesicht eines Mannes erschien.

Der Kater schlug zu. Der Mann sank zu Boden. Der Kater horchte. Schritte näherten sich. Wo jetzt hin? Nur nicht mit der Leiche erwischt werden! Hastig zerrte der Kater den Ohnmächtigen ins gegenüberliegende Zimmer und schloss die Tür.

Erster Teil

Heinrich Hansen kehrt heim

»St. Pauli! Eldorado des Vergnügens! Wie soll ich dich beschreiben, wo beginnen, Deine Herrlichkeiten, Abwechslungen und Eigenthümlichkeiten aufzuzählen? Du bist das Wunderland des Fremdlings, der mit pochendem, fast ängstlichem Herzen sich hinauswagt in das offene Meer des wogenden und rauschenden Vergnügens.«

Johannes Meyer
»St. Pauli, wie es leibt und lebt«

ERSTES KAPITEL

Bootsmann auf Landgang

Als das Krokodil das Maul aufriss, lehnte sich die dralle Brünette gegen Hansens Schulter und raunte ihm heiser ins Ohr: »Hallo, Seemann.« Das Krokodil schnappte zu. Heinrich Hansen rückte ein Stück zur Seite, und die Brünette setzte sich neben ihn auf den Seesack. Das Untier erwischte mit den Zähnen den Rockzipfel seines Widersachers.

»O Gott, der arme Kleine!«, rief die Frau aus und klammerte sich an Hansens muskulösen Oberarm.

Der clevere Kasperl hob seine Klatsche und verpasste dem Krokodil einen gezielten Schlag zwischen die Augen. Das Tier biss ins Leere.

»Bravo!« Die Brünette ließ sich sanft zur Seite fallen.

»Hoppla, schöne Frau!« Hansen warf ihr einen kurzen Blick zu, fand, dass sie eine Zuckerschnute mit Stupsnase hatte, und legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Na erlauben Sie mal«, sagte sie nachlässig.

Mit einem lauten Brüllen nahm das Krokodil Reißaus. Der siegreiche Kasperl stieg in eine imaginäre Höhle und rettete die Prinzessin.

»Ein Pfundskerl«, sagte Hansens neue Bekanntschaft.

Hansen rückte ein Stück von ihr ab, fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich, um sie in Augenschein zu nehmen.

»Na, wo kommst du denn her?«, fragte er grinsend.

»Aus Wunstorf. Und du?«

»Direkt von allen sieben Meeren.«

»Oh!« Sie machte große Augen und legte den Zeigefinger an die Wange. »Wenn du mir jeden Abend von einem Meer

erzählst, dann könnten wir eine ganze Woche zusammen fröhlich sein.«

Hansen stand auf. Die Menge der Zuschauer, die sich vor dem Kasperltheater auf dem Spielbudenplatz zusammengefunden hatte, zerstreute sich.

Er deutete auf seine Uniform. »Marine«, sagte er, »nicht Handelsmarine. Uns zahlen sie nicht so viel Heuer wie den Zivilisten.«

Sie biss sich in die Unterlippe, sah jetzt noch mehr nach Zuckerschnute aus. »Ach, nein?«

»Außerdem bin ich gerade mit allen militärischen Ehren entlassen worden, heute am 23. Juli 1903«, erklärte Hansen und blinzelte über die Brünette hinweg Richtung Reeperbahn, wo die letzten Strahlen der Abendsonne die zahllosen Fenster der mehrstöckigen Bierpaläste, Cafés und Konzerthäuser vergoldeten.

»Na, herzlichen Glückwunsch. Wie viele Ehren sind das denn so ungefähr?«

Er sah sie freundlich an, verwundert über so viel Hartnäckigkeit. »Für alle sieben Meere reichen sie nicht aus.«

»Vielleicht für den Atlantik und den Pazifik und den Stillen Ozean?«

»Pazifik und Stiller Ozean sind das Gleiche, Kindchen.«

Sie zog einen Schmollmund. »Also für Pazifik und Atlantik?« Hansen schüttelte seufzend den Kopf. Sie gefiel ihm schon,

diese kleine Dralle. Aber hatte er nicht genug Dummheiten hinter sich mit solchen Frauen, die sich allzu schnell an einen ranschmissen?

»Die Südsee vielleicht?« Die Brünette deutete mit ihrem Schirmchen zwischen den Passanten hindurch zu Umlauff’s Weltmuseum, vor dem ein grimmiger Gorilla Wache hielt.

»Nicht mal die Nordsee, Zuckerschnute.«

Sie lächelte, als er sie so nannte, spannte ihren Schirm auf und blickte kokett über seinen mit Spitzen besetzten Rand hinweg.

»Die Ostsee ist doch auch ganz hübsch.« Als sie sah, dass er auch

das nicht gelten ließ, dachte sie kurz nach und fügte hinzu: »Der Bodensee?«

Hansen musste lachen. »Bestenfalls das Steinhuder Meer.« Sie sprang wütend auf. »Also nein, das ist mir zu pütscherig.«

»Tja«, sagte Hansen und zuckte bedauernd mit den Schultern,

»fürs Pütscherige sind wir wohl beide nicht gemacht.«

»Sicherlich nicht.« Sie hob die Zuckerschnute, zeigte ihm die kalte Schulter und stolzierte davon, geradewegs auf einen Herrn in Gehrock und Zylinder zu, der die überlebensgroße Statue einer halb nackten afrikanischen Kriegerin studierte, deren Speer auf Umlauff’s Gorilla gerichtet war.

»Wirklich schade«, murmelte Hansen, »aber mehr als ahlen Aal hat Steinhude nun mal nicht zu bieten.«

Er schulterte seinen Seesack, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Was die Zuckerschnute nun mit dem Zylinder anfing, sollte ihm einstweilen egal sein.

»Sankt Liederlich, du hast mich wieder«, murmelte Hansen vor sich hin, als er den Spielbudenplatz entlangschlenderte. »Dann lass dich mal ins Visier nehmen!« Der »Scheele Hein«, wie ihn seine Kameraden auf See scherzhaft getauft hatten, weil er erstaunlicherweise über ein blaues und ein grünes Auge verfügte, kniff zuerst das linke, dann das rechte Auge zu und drehte sich einmal um die eigene Achse.

»Donnerwetter, was bist du groß geworden!« In den sechs Jahren seiner Abwesenheit hatte sich einiges verändert. Die stattlichen Häuser, die den baumbestandenen Platz säumten, waren teilweise umgebaut worden, das eine oder andere kleinere Gebäude hatte einem mächtigeren Etablissement Platz gemacht.

Hansen blieb vor Umlauff’s Weltmuseum stehen und betrachtete amüsiert den ausgestopften Gorilla, der unter einer Topfpalme stand und mit erhobenem Arm Richtung Reeperbahn

deutete. »Na, alter Junge«, brummte er, »was sollst du denn vorstellen? Willst du mir den rechten Weg zeigen? Da mach dir mal keine Sorgen, Heinrich Hansen weiß schon, wo es langgeht, und deine Südsee kenn ich auch wie meine Westentasche!«

Aber konnte er das auch noch von seiner alten Heimat sagen? Er schaute sich neugierig um: Das trichterförmige Dach von Hornhardt’s Etablissement markierte noch immer den Anfang der Reeperbahn, die große Central-Halle stand noch an ihrem Platz, und das Panopticum war auch noch da. Im Orchestrion-Saal wurden neuerdings lebende Bilder gezeigt, las er auf einem Plakat.

Mit den wiegenden Schritten des Seemanns, der sich erst wieder an den festen Boden unter den Füßen gewöhnen muss, ging er weiter. »Sieh mal an, die große weite Welt hat Einzug gehalten«, murmelte er, als er den Schriftzug der Amerika-Bar entdeckte. »Da sind wir ja noch nie gewesen. Bis Neff Jork haben wir es denn doch nicht geschafft.« Sein Blick fiel auf eine wohlbekannte schlaksige Figur im Schatten der öffentlichen Bedürfnisanstalt. »Mensch, der Hannes steht ja immer noch da rum. Und renoviert worden ist er auch nicht.«

Der Bootsmann nahm Kurs auf die gebeugte Figur im fadenscheinigen braunen Mantel. »Mal sehen, ob der mich noch kennt.« Als er vor ihm stand, grüßte er freundlich: »Moin, Otto!« Er wusste ja, dass der Mann, den alle als Cigarren-Hannes kannten, in Wahrheit Otto Meyer hieß.

Hannes lugte unter seiner Schiebermütze zu ihm hoch und verzog keine Miene, als der Seemann vor ihm stehen blieb. »Twee Stück fofftein«, sagte er mechanisch und zog die Holzkiste hervor, die er unter den Arm geklemmt bei sich trug.

»Na, Otto«, sagte Hansen. »Wunderst dich wohl, dass jemand deinen richtigen Namen kennt, was?«

Hannes kniff die Augen unter den buschigen Brauen zusammen und verzog den schiefen Mund.

»Bin eine Weile weg gewesen. Sie haben mich in eine Uniform gesteckt und einen Mann aus mir gemacht, einen Bootsmann,

um genau zu sein. Sechs Jahre war ich fort, na ja, eigentlich noch länger, um ehrlich zu sein, und bin dabei um die halbe Welt geschippert. Tja, jetzt wieder heim auf’n Kiez und seh alles mit neuen Augen. Und der Kiez hat auch ein paar neue Augen gekriegt.« Hansens Blick wanderte die Häuserfront entlang. »Große Augen.«

Hannes klappte den Deckel der Zigarrenkiste auf. »Havannas mit Plünn’n, twee Stück fofftein.«

»Hast Recht, Otto«, sagte Hansen. »Was interessiert dich das Geschwätz von irgend so einem Bootsmann. Kannst dich nicht mehr an mich erinnern. Willst lieber deine Zigarren loswerden. Aber ich rauch ja nicht.«

Ungerührt drehte Hannes die Kiste um, klappte den Boden auf, der ebenfalls ein Deckel war. »Darf’s für’n Groschen mehr sein?«

Heinrich Hansen musste grinsen. Den Trick hatte er schon als Junge bewundert. Hannes behauptete, die unten liegenden Exemplare seien die Besseren. Kunden, die einen Unterschied zwischen den Sorten nicht feststellen konnten, stießen jedoch auf taube Ohren, wenn sie kritisch nachfragten. Hannes erklärte dann nur kurz und bündig und in schönstem Platt, er habe den Kasten ja umgedreht, und die jetzt oben liegenden seien zweifellos länger gelagert und deshalb auch teurer.

»Lass man, Hannes. Ich wollte bloß mal guten Tag sagen, nichts für ungut. Tschüs.«

Hansen tippte sich an die Mütze, aber Otto Meyer alias Cigarren-Hannes hatte sich schon abgewandt und ging o-beinig auf eine Gruppe gut gekleideter Herren zu, denen er sein Kistchen hinhielt und sie klagend aufforderte: »Nu kauft mir doch mal ne Zigarre ab!«

Kennt den lütten Hein nicht mehr, dachte Hansen. Er hob den Seesack über den Kopf auf die andere Seite, weil seine linke Schulter schon schmerzte, und ging weiter. Vor dem Ernst-Drucker-Theater drehte er sich neugierig nach einigen Backfischen in hellen Sommerkleidern um, die kichernd an ihm vor-

beieilten, und blieb abrupt vor dem letzten Gebäude der Häuserreihe stehen, einem kastenartigen Bau mit vier Säulen, zwischen denen drei Treppen hinauf zum Eingang führten. Im Gegensatz zu den Vergnügungsetablissements wurde es vom Passantenstrom durch einen schmiedeeisernen Zaun vom Trottoir abgegrenzt. Man hätte zwischen den Zäunen Tische aufstellen können wie bei einem Kaffeehaus. Aber der Ernst des klotzigen Gebäudes sprach dagegen. Es sah aus wie ein Militärposten. Über den Säulen stand in großen Lettern: POLIZEI-BEZIRKS-GEBAEUDE.

Zwei Beamten in tressenbesetzten Uniformen, mit Säbeln an den Seiten und Pickelhauben auf den Köpfen, stiegen gemächlich die Treppe hinunter. Na, dachte Hansen, wenn ich mir die beiden da so angucke, scheint mir der Unterschied zwischen Militär und ziviler Ordnungsmacht nicht sehr groß zu sein. Aber das werden wir ja bald aus eigener Anschauung kennen lernen.

Fünf Schritte später, er wollte gerade nach links abbiegen, um am Polizeigebäude entlang die Davidstraße hochzugehen, zögerte er. Dann wandte er sich nach rechts.

»Einen Teufel werde ich tun«, murmelte er vor sich hin.

Er hatte eigentlich vorgehabt, in die Fußstapfen unzähliger Seemänner vor ihm zu treten und sich eine Unterkunft in einer Matrosenpension zu suchen. Bei Knut Wiberg hatte er anfragen wollen. Der hatte seine Mutter gekannt und würde ihm bestimmt einen guten Preis machen – das war der Gedanke gewesen, der ihn die Davidstraße ansteuern ließ. Aber nun verspürte er Widerwillen. Nicht nur gegen den bärtigen, Tabak kauenden, redseligen Knut Wiberg, sondern überhaupt gegen alle, die er zweifellos bald treffen würde und die ihn erkennen und ausfragen würden. Noch war er nicht so weit. Im Augenblick hatte er keine Lust, sich für seine Abwesenheit zu rechtfertigen, und genauso wenig wollte er begründen, wieso er nach sechs Jahren die Marine verlassen hatte, um nach St. Pauli zurückzukehren.

Er brauchte Zeit. Er wollte sich erst mal wieder zurechtfinden in dieser schillernden Welt, die einst seine Heimat gewesen war

und ihm nun überraschend fremd vorkam. Und dazu benötigte er eine ruhige Unterkunft, musste sich einquartieren unter Leuten, mit denen ihn nichts verband.

Wieder kniff der Scheele Hein erst das eine, dann das andere Auge zusammen. »Nu lass dich mal bloß nicht ins Bockshorn jagen, so groß ist St. Pauli wirklich nicht«, sagte er zu sich, um sich zu ermuntern. Er holte tief Luft und wandte sich nach rechts. An der Reeperbahn musste er abwarten, bis zwei klingelnde Straßenbahnen und ein stöhnender Motorwagen vorbeigerattert waren, dann überquerte er die Fahrbahn.

Hansen bog in die Seilerstraße ein und ging langsam die Haustüren ab. Beinahe neben jedem Eingang prangten Messingschilder und wiesen auf diverse Unterkünfte in den verschiedenen Stockwerken hin. Die meisten Türen waren offen, davor standen hier und da Männer oder Frauen in legerer bis freizügiger Kleidung, rauchten und unterhielten sich.

Künstler, dachte Hansen bei sich. Das war ein ganz anderer Menschenschlag als die Offiziere und Matrosen, mit denen er die letzten Jahre verbracht hatte. Die mussten sich die Jacken und Röcke nicht vorschriftsgemäß zuknöpfen, die standen in Hemdsärmeln herum oder trugen Filzpantoffeln unter der Abendgarderobe, weil sie noch ein paar Minuten Zeit hatten, um vor dem Gang zur Arbeit eine Pfeife zu rauchen und ein Schwätzchen zu halten. Mindestens die Hälfte davon waren Frauen. Allein diese Tatsache würde für Abwechslung und angenehmen Nervenkitzel sorgen.

Vor einem Eingang lehnte ein dünner Mann in Frack und Zylinder am Treppengeländer. In der rechten Hand hielt er eine Zigarre, die er ab und zu zum Mund führte, mit der linken warf er nachlässig drei verschiedenfarbige Bälle in die Luft. Offenbar musste er gar nicht hinsehen, die Bälle flogen wie von allein nach oben, fielen wieder in die Hand zurück und flogen wieder hinauf.

Als der Mann bemerkte, dass Hansen ihn interessiert anblickte, steckte er sich die Zigarre in den Mund und hob mit einer flotten Handbewegung den Zylinder. Auf seinem Kopf saß ein weißes Kaninchen. Er setzte den Hut wieder auf, lüftete ihn erneut, und das Kaninchen war verschwunden. Die bunten Bälle flogen weiter in gleichmäßigem Takt auf und ab.

Hansens Blick fiel auf das Messingschild neben dem Jongleur:

»Hôtel Schmidt« stand darauf. Er blieb stehen.

»Das teuerste Haus am Platze«, sagte der Jongleur und blies Rauchringe in die Luft, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. »Aber die Chefin ist eine Wucht. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Ist noch was frei?«, fragte Hansen.

»Kann sein«, sagte der Jongleur. Er hatte jetzt fünf Bälle in der Luft, die er mit beiden Händen warf. Die Bälle verschwanden, und nun hatte der Mann zwei brennende Zigarren im Mund stecken. Eine davon hielt er Hansen hin: »Rauchen Sie?«

Hansen hob abwehrend die Hand. »Nein, lassen Sie das!«

Er wandte sich ab und wollte die Treppenstufen zum Eingang hinaufsteigen. Die Zigarren lösten sich in Luft auf. Der Zylinder stieg wie von Geisterhand bewegt in die Luft, überschlug sich dreimal und landete auf Hansens Kopf. Zuvor war wundersamerweise seine Mütze fortgeflogen, um auf dem Kopf des Artisten zu landen.

Hansen drehte sich um. Der Jongleur begann, die Kopfbedeckungen in immer schneller werdendem Tempo zu tauschen. Mit einem Mal hatten sie beide rote Pudelmützen auf dem Kopf. Hansen starrte den Jongleur an, der seinen verdutzten Gesichtsausdruck imitierte und flink Hut und Mütze hinter dem Rücken hervorzauberte und ihm hinhielt. »Welche Kopfbedeckung sagt Ihnen also mehr zu, mein Herr?« Hansen deutete auf sein Bootsmannkäppi, und die Mütze hüpfte unversehens in die andere Hand; nun befand sich der Zylinder vor seinem ausgestreckten Zeigefinger. Und schwupp tauschten die Kopfbedeckungen wieder den Platz.

»Kann ich meine Pudelmütze wiederhaben?«, fragte der Artist.

Hansen zog die Mütze ab und hielt sie ihm hin. Eine Sekunde später saß sein Käppi wieder auf seinem Kopf, der Zylinder auf dem des Jongleurs, und beide Pudelmützen waren verschwunden.

»Zweiter Stock«, sagte der Mann. »Aber Vorsicht, Madame hat einen wogenden Busen.«

Hansen betrat das Gebäude, in dem es nach Wachs roch. Eine steile Stiege führte nach oben. Funzelige Gaslampen beleuchteten das Treppenhaus. Neben dem Aufgang hing ein weiteres Messingschild: »Ermine Schmidt, Hôtel garni, Rezeption 2. Stock, bitte klingeln«. Wo er klingeln sollte, wusste er nicht. Jedenfalls war kein Klingelknopf zu sehen.

Im ersten Stock hörte er die Klänge einer Klarinette. Er warf einen Blick in den Flur. Auf der linken Seite trippelte eine Balletttänzerin auf Zehenspitzen hin und her, drehte eine Pirouette und verschwand hinter einer Tür. Auf der rechten Seite saßen zwei junge Männer in Hemdsärmeln vor einem hochkant gestellten Koffer und spielten Karten.

Er hörte Stimmen, die aus geöffneten Zimmertüren in den Flur drangen, und irgendwo weit entfernt eine Sängerin, die sich an einer Opernarie versuchte. Hansen stieg die nächste Treppe hinauf.

Neben der gardinenverhangenen Glastür im zweiten Stock befand sich ein Klingelknopf ohne Messingschild. Er drückte darauf, und ehrwürdiges Glockengeläut ertönte wie aus weiter Ferne.

Ein Dunst nach Gebratenem hing in der Luft, ein Luftzug ließ die Gardine hinter der Glastür leicht erzittern. Sonst geschah nichts. Er wartete. Nach einer Weile klingelte er ein zweites Mal. Wieder ertönte der Glockenklang. Die Gardine zitterte heftiger, schwere Schritte näherten sich, der Dielenboden knarrte. Hinter der verhangenen Glastür zeichneten sich die Umrisse einer ausladenden Gestalt ab. Die Klinke senkte sich, die Tür ging auf, und

Hansen stand einer Frau gegenüber, die ein paar Zentimeter größer war als er und auch breiter. Sie trug ein silbergraues Kleid mit schwarzen Streifen, und ihr Busen war monströs.

Sie musterte ihn aus schwarzen Augen unter buschigen Brauen und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: »Na, junger Mann, wie haben Sie sich denn hierher verlaufen?«

Hansen ertappte sich dabei, dass er kurz davor war zu salutieren. Er riss sich zusammen. Immerhin war er Bootsmann, und das hier bestenfalls ein weiblicher Feldwebel aus der Halbwelt.

»Guten Tag«, sagte er. »Mein Name ist Hansen. Ich suche ein Zimmer.«

»Fürs Militär haben wir hier keinen Platz. Dies ist ein künstlerisches Hotel.«

»Ich bin ausgemustert«, erklärte Hansen.

Das schien Ermine Schmidt wenig zu beeindrucken. »So?«

»Ich verlasse die Marine auf eigenen Wunsch.«

»Na!« Was immer das auch heißen sollte.

»Ich hab nichts gegen ein bisschen Trubel, und exerzieren werde ich auch nicht. Ist noch was frei?«

»Exerzieren, paradieren, kanonieren«, sagte Ermine Schmidt.

»Wir hatten noch nie einen Seemann im Haus, und wenn es nach mir geht, bleibt das auch so. Die Leute hier arbeiten nämlich hart. Da wird nicht gebummelt. Und wenn einer mal was trinkt, dann höchstens so viel, dass er am nächsten Tag nicht vom Hochseil fällt oder vom Pferd. Was ihr Matrosen an Land sucht, weiß man ja.«

»Bootsmann, gnädige Frau, und ich hab schon eine neue Stellung in Aussicht.«

»Darf man fragen, was für eine Stellung das ist?«

»Bei der Polizei.«

»Als was?«

»Schutzmann, Kriminalpolizei, um genau zu sein.«

Das schien ihr Interesse zu wecken. Sie dachte nach, neigte sich leicht nach vorn und sagte mit gesenkter Stimme: »Ein Schutzmann?«

Hansen nickte.

Sie winkte ihn herein. »Komm man.«

Er folgte ihr in ein Zimmer, das neben dem Rezeptionspult vom Flur abging. Auf einem dicken Teppich standen zwei geblümte Sessel vor einem Tischchen, dahinter ein dunkler Schrank mit Glastüren, die dicke Bücher vor dem Verstauben bewahren sollten, und am Fenster ein Sekretär mit einem Hocker davor.

Hansen stellte seinen Seesack neben den Sessel und setzte sich, nachdem Ermine Schmidt ihm zugenickt und es sich selbst bequem gemacht hatte.

Sie beugte sich nach vorn, und Hansen hatte Sorge, das eng sitzende Kleid könnte jeden Augenblick aufplatzen und all jene Geheimnisse preisgeben, die Frau Schmidt nur mühsam zu verbergen vermochte. Vom Fenster her strömte ein laues Abend-üftchen ins Zimmer und verfing sich in üppigen Vorhängen.

»Ist das wirklich eine reelle Tatsache?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Hansen sah sie fragend an.

»Das mit dem Posten bei der Polizei.«

»Aber ja.«

»Vielleicht kommt ja noch was dazwischen.« Sie wiegte den Kopf zweifelnd hin und her. »Die nehmen ja nicht jeden.«

»Man muss Unteroffizier sein und mindestens sechs Jahre gedient haben«, sagte Hansen. »Das bin ich, und das hab ich.«

»Na, aber ob Sie dann hier in der Gegend Ihren Posten bekommen? Ich muss ja an die Zukunft denken. Was soll ich Ihnen ein Bett beziehen, wenn Sie morgen schon wieder auf und davon sind? Im Übrigen, wohnt ihr nicht auf der Wache?«

»Äh, ich denke, das trifft nur auf die Uniformierten zu, und auch nur zeitweise.«

»Ich meine ja nur. Was nützt mir ein Udel im Haus, wenn er ständig ausgeflogen ist.«

»Ich soll mich auf der Bezirkswache in der Wilhelminenstraße melden.«

»Das ist ja gleich um die Ecke.«

»Eben.«

Ermine Schmidt musterte den Bootsmann a. D. in ihrem Sessel noch einmal ausgiebig und nickte versonnen. Er merkte, wie es in ihr arbeitete, und spürte, dass sie ihn auch hinsichtlich seiner Qualitäten als Mann taxierte. Sie schien zu einem positiven Ergebnis gekommen zu sein und rieb sich unbewusst die langen, aber im Vergleich zu ihrer sonstigen Erscheinung eher schmal wirkenden Hände.

»Wenn es also eine reelle Tatsache ist «

»Das ist es ganz bestimmt, Frau Schmidt.«

»Dann würde ich  ich habe nämlich eigentlich kein Zimmer mehr frei  dann müsste ich Ihnen dieses Zimmer hier abtreten. Ein Bett würde natürlich hereinkommen, und ein Kleiderschrank.«

»Es ist ein schönes Zimmer, Frau Schmidt.«

»Natürlich wohne ich hier auf diesem Flur. Sie würden sich also anpassen müssen.«

»Wenn es nicht zu anstrengend wird, Frau Schmidt.«

Sie hob drohend den Zeigefinger. »Und Frechheiten werden nicht geduldet.«

»Selbstverständlich nicht, Frau Schmidt.«

»Dann verstehen wir uns ja, Herr Hansen. Ich berechne Ihnen die Hälfte von dem, was die Künstler zahlen müssen. Weil Sie ja solide sind.«

Hansen war erstaunt. Als er den Betrag hörte, verschwand sein Erstaunen. Entweder schwindelte sie ihn an, oder sie zog den anderen Mietern das Fell über die Ohren. Er willigte ein, zwei Wochen im Voraus zu bezahlen. Ächzend erhob sich Ermine Schmidt aus ihrem Sessel. Hansen stand auf und blieb kerzengerade stehen.

»Den Sack können Sie schon mal hier lassen. Wenn Sie später wiederkommen, ist das Zimmer fertig. Aber vor neun Uhr wird das nichts.«

»Geht in Ordnung, Frau Schmidt. Und wie ist es mit Damenbesuch?«

Sie blickte ihn durchdringend an.

»Herr Hansen, selbst wenn Sie jahrelang auf See gewesen sind, dürfte es sich bis zu Ihnen herumgesprochen haben, dass man auf St. Pauli zu den Mädchen geht, nicht umgekehrt. Halten Sie sich bitte daran!«

»Jawohl, Frau Schmidt.«

»Die Künstlerinnen, die sich hier im Haus befinden, sind nicht das, was Sie glauben. Also Finger weg!«

»Jawohl, Frau Schmidt.«

»So, und nun stehlen Sie mir bitte nicht weiter meine Zeit, ich habe zu tun.«

Er verabschiedete sich und stieg gut gelaunt die Treppe hinunter. Im ersten Stock war niemand mehr zu sehen, und auch der Jongleur vor der Haustür war verschwunden.

Die Dämmerung brach herein, und sein Magen knurrte.

Nicht weit von seiner neuen Unterkunft entfernt, in der Heinestraße, fand er ein Speiselokal im Souterrain, das einen halbwegs ordentlichen Eindruck machte. Er bestellte Pannfisch mit Kartoffeln und Eiern sowie ein großes Glas Barmbeker Bier.

Nach dem zweiten Glas verließ er die Kneipe und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, gemächlich zur Reeperbahn und bemühte sich, gelassen zu wirken. Tatsächlich war er schwer beeindruckt. Während seiner Abwesenheit hatten sich die bunten Lichter St. Paulis stark vermehrt. Es schien beinahe so, als seien Reeperbahn und Spielbudenplatz jetzt heller erleuchtet als bei Tageslicht.

Der Trubel hatte zugenommen. Menschenmassen strömten in die Kaffeehäuser, Bierpaläste, Varietéhallen und Theaterfoyers. Droschken und andere Kutschen, Trambahnen und Motorwagen standen sich auf der Straße gegenseitig im Weg. Die Luft an diesem Sommerabend schien leicht zu vibrieren von der Fröhlichkeit der Passanten, die sich hierhin und dahin wandten, auf der

Suche nach Amüsement, Zerstreuung, Aufregung, vielleicht sogar nach rauschhaftem Spaß oder lasterhaftem Vergnügen.

Heinrich Hansen spürte, wie ihn die Atmosphäre fröhlicher Sorglosigkeit ansteckte, aber gleichzeitig stieg ein Gefühl von Beklemmung in ihm hoch. Er war jetzt nicht mehr der Bengel, der sich keck zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchschlängelte, der bei einem Grünhöker frech einen Apfel stibitzte oder einen weggeworfenen Zigarrenstummel aufsammelte. Er war jetzt einer von denen, die ihm früher als anonyme Masse vorgekommen waren, als Parallelwelt der Großen. Ihm und seinen Freunden waren die meisten von ihnen ein Rätsel gewesen, das sie aber geflissentlich ignorierten, indem sie so taten, als seien die Erwachsenen die Dummen und sie diejenigen, die durch ihre Frechheit was loshatten. Was störten da schon ein paar Ohrfeigen vom Kellner, wenn sie dem Gast einer Bierhalle das Glas entwendeten, während er sich gerade einer verführerischen Dame mit Kirschmund zuwandte, oder das Geschimpfe einer Kaffeehauskellnerin, der sie den Zucker von der Anrichte klauten?

Hansen lächelte wehmütig: Jan, Hein, Klaas und Pit hatten immer alles im Griff gehabt. Und wenn es einmal nicht ganz so klappte, wie es sollte, waren sie stolz auf die blauen Flecken, roten Striemen oder blutigen Nasen, die sie sich eingefangen hatten.

Er näherte sich dem Millerntor, schlenderte an Ludwig’s Concerthaus vorbei, das jetzt im Lichterschein wie ein Märchenschloss wirkte, von dessen höchstem Giebel ein steinerner Vergnügungsengel einladend seinen Arm hob. Hier war das Publikum wesentlich feiner gekleidet als in den Seitenstraßen des Viertels, und eine lange Reihe von Pferdedroschken wartete auf zahlungskräftige Fahrgäste.

Auf der anderen Seite ragte der »Trichter« in den noch nicht ganz dunklen Abendhimmel, dessen Lichterglanz den des gegenüberliegenden Konzerthauses noch übertraf. Blasmusik aus dem Biergarten schallte ihm entgegen.

Hinter dem Trichter führte eine schmale Straße in die zweite Reihe des Vergnügens. Am Circusweg herrschte noch der altbekannte Budenzauber. Unter Lichtergirlanden standen Zelte, Bretterverschläge und notdürftig überdachte Stände, an denen süße, saure und salzige Spezialitäten angeboten wurden, dazwischen Schieß- und Wurfbuden und als spezielle Attraktionen das große doppelstöckige Karussell und die in weitem Bogen auf und ab rumpelnde Bergbahn. Als Hansen das letzte Mal hier gewesen war, wurde die Bahn noch mithilfe einer schnaufenden Dampfmaschine angetrieben. Inzwischen war auch diese Attraktion elektrifiziert worden. Sie rumpelte immer noch, aber durchaus eleganter.

Unter einer Linde blieb er stehen. Verliebte Paare flanierten an ihm vorbei. Er erinnerte sich noch, wie viel Überwindung es ihn früher gekostet hatte, ein paar Geldstücke für eine heiß ersehnte Fahrt auf einem Pferd der oberen Etage des Karussells oder einem Waggon der Bergbahn zu ergattern. Er zuckte mit den Schultern. Das war lange her. Sein Blick schweifte über den Rummelplatz und blieb an einem Plakat hängen, das an der Seite eines Schießstandes prangte:

»Sich’res Auge, ruhig Blut

Wer hier Schießt, der Triefft gut.«

Auch nach all den Jahren hatte es der Inhaber noch immer nicht für nötig befunden, die Werbeschrift den orthographischen Regeln anzupassen.

Vor dem Stand machte ein Mann in bürgerlicher Kleidung ein ziemliches Aufhebens um die Qualität der zu wählenden Waffe, während seine matronenhafte Frau gelangweilt über die vorbeiströmenden Menschen hinwegsah. Mach dir doch nicht so viel Mühe, dachte Hansen, die Gewehrläufe sind sowieso alle verzogen, wenn du triffst, ist es purer Zufall, kein Geschick. Ja, ja, wenn das der Kaiser wüsste!

Der Mann schoss daneben und begann zu lamentieren. Der Schießbudenbesitzer erklärte ihm wortreich, wie er hätte schie-

ßen sollen, und forderte ihn auf, es noch mal zu versuchen. Der enttäuschte Schütze kramte ungeduldig in seiner Manteltasche nach Münzen, während seine Frau sehnsüchtig einem vorbeispringenden jungen Mädchen nachschaute.

Neben ihr tauchte eine Dame mit einem Schirmchen in der Hand auf, das sie nun zusammenklappte und gelangweilt auf die Schulter legte. Die andere Hand stemmte sie in die Hüften und blickte sich um. Sie trug einen elegant geschnittenen Staubmantel mit Kapuze und einen mit Stoffblumen verzierten Hut. Sie war teurer gekleidet, als er sie in Erinnerung hatte. Es war die Brünette mit der Zuckerschnute. Ein kleiner Dicker stolperte auf sie zu und reichte ihr ein Lebkuchenherz. Bevor sie den Liebesbeweis in Empfang nahm, warf Zuckerschnute einen Blick über ihn hinweg zu Hansen und zwinkerte ihm zu.

Hansen wandte sich grußlos ab. Er ärgerte sich über sie und fragte sich, warum. Weil sie einen anderen Verehrer aufgegabelt hatte? Was ging ihn das an! Und überhaupt: Wie man Mädchen ihrer Sorte rumkriegte, hatte er in den Häfen der Welt gelernt.

Vielleicht sollte er jetzt besser etwas trinken gehen, in einem ruhigen Lokal in einer Seitenstraße, wo niemand ihm zuzwinkerte oder ihn auf anstrengende Gedanken brachte. Nach all den Monaten auf See, eingepasst als mechanisches Rädchen in das Getriebe des Panzerkreuzers, als nur einer von über fünfhundert Soldaten, fühlte er sich inmitten des lebendigen Trubels mit einem Mal sehr fremd.

Neben dem Lebkuchenstand saß eine Alte auf einem Baumstumpf, vor sich ein Fass mit sauer eingelegten Gurken. Hansen blieb stehen und kaufte zwei schöne dicke Exemplare. Dann wandte er sich um und ging zurück zur Schießbude. Dort hing Zuckerschnute am Arm ihres Kavaliers, der mit zweifelndem Blick das vor ihm liegende Gewehr musterte, und verlangte von ihm, dass er ihr eine Rose, eine Pfauenfeder und einen japanischen Fächer schoss.

Hansen baute sich vor ihnen auf, sagte: »Entschuldigung« und drückte dem verdutzten Paar jeweils eine Essiggurke in die

Hand. »Herzlichen Glückwunsch, und ich wünsche auch noch viel Vergnügen.« Damit drehte er sich um und ging fort.

Als er das gemurmelte Dankeschön des Mannes hinter sich hörte, runzelte er die Stirn. Dann aber vernahm er den Fluch der Brünetten und grinste.

Gut gelaunt machte er sich auf den Weg in die spärlich erleuchteten Seitenstraßen.

Bei Renning, einer schlicht eingerichteten Kneipe in der Silbersackstraße, trank er zwei Glas Bier und einen Kümmel und hörte den Werftarbeitern zu, die sich über die miserablen Arbeitsbedingungen bei Blohm & Voss beklagten.

»Eine Giftbude ist das!«, ereiferte sich einer. »Wir kriegen den ganzen Dreck ab, der uns die Gesundheit ruiniert, und keinen kümmert’s!«

»Und das für dreiunddreißig Pfennige die Stunde, zehn Stunden am Tag«, sagte ein anderer.

Seltsamerweise wirkte ihre Empörung beruhigend auf Hansen. Er fühlte sich auf einmal wohl in seiner Haut. Nach all den Jahren des zackigen Militärdienstes in den engen, winkeligen Stahlgängen des Panzerkreuzers war er endlich wieder unter Zivilisten in der normalen Welt angekommen. Dies waren keine salutierenden Marionetten, die in einem schwimmenden Bunker wie mechanische Ameisen zu funktionieren hatten, dies waren lebendige Menschen mit ernsten Problemen. Sie taten nicht so, als würden sie an einem eingebildeten Krieg um die Weltherrschaft teilnehmen, sie kämpften täglich um ihre Existenz.

Zwar sympathisierte er mit ihnen, aber dennoch hatte er nichts mit ihnen gemein. In der Situation, in der er sich befand, fühlte er sich auf angenehme Art entwurzelt. Er gehörte keiner Klasse an, hatte keinen festen Wohnsitz, keine Freunde, keine Familie, er war ein Vagabund. Vielleicht nur für einen Abend oder zwei, aber es war ein angenehmes Gefühl von Freiheit.

Sein Blick traf sich mit dem eines anderen Mannes, der ebenfalls allein an einem Tisch saß und Pfeife rauchend den Gesprächen zuhörte. Als Hansen den schlecht rasierten Mann mit dem schäbigen Pullover unter dem staubigen Mantel selbstbewusst musterte, schlug dieser die Augen nieder. Kurz darauf zahlte er sein Bier, setzte die Schirmmütze auf und verließ das Lokal.

Jetzt, da die Arbeiter dazu übergegangen waren, über gewerkschaftliche Angelegenheiten zu diskutieren, zahlte Hansen und ging. Er überquerte die trubelige Reeperbahn, lief durch die Talstraße, warf einen Blick hinauf zum zweiten Stock des grünen Hauses, von dessen Balkon Lilo Koester ihm früher manchmal zugewinkt hatte, im Sommer im hellen Kleid, im Frühjahr und im Herbst in einem Matrosenkostüm.

Der Balkon lag im dunklen Schatten der Nacht. Wohnte sie noch dort? Er merkte, dass sein Bild von der kleinen Lilo auf dem Balkon nicht mit dem Bild der frechen Herumtreiberin von sechzehn Jahren zusammenpasste, die er zuletzt gekannt hatte. Wie sie jetzt wohl aussah? Vielleicht war sie ja dick geworden und schleppte schreiende Blagen mit sich herum.

Er bog in die Eckernförder Straße und kam über die Heinestraße wieder zu seiner Unterkunft. Der Eingang des Hôtel Schmidt wurde von einer flackernden schmiedeeisernen Lampe beleuchtet. Er stieg die Stufen hinauf und betätigte den Türklopfer.

Ein Mann öffnete, steckte den Kopf durch den Spalt und rief theatralisch: »Ausgebucht, besetzt, nichts mehr frei, bitte wandeln Sie ein Haus weiter, dort wird Ihnen aufgetan.«

»Ich hab hier schon ein Zimmer«, sagte Hansen.

»Oh, und da kennen wir uns nicht?« Der Mann machte ein übertrieben erstauntes Gesicht.

»Ich bin heute erst eingezogen. Frau Schmidt hat mir ein Zimmer im zweiten Stock zurechtgemacht.«

»Aha, Sie sind also intim mit Ermine, das macht Sie zu einer Respektsperson. Bitte einzutreten, der Herr!«

Die Tür ging auf. Hansen trat in den spärlich erleuchteten Flur, und der Mann rollte beiseite. Hansen starrte ihn erstaunt an. Er rollte tatsächlich. Auf einem Rad.

»Können Sie sich kein ganzes Fahrrad leisten?«, fragte Hansen irritiert, weil der Mann ihn jetzt Pedale tretend umrundete.

»Ha! Sie haben Humor. Das gefällt mir. Aber lassen Sie sich nicht stören. Ich übe nur für mein nächstes Engagement.«

Der Radartist stoppte vor dem Treppenaufgang und deutete den Weg an: »Bitte sehr, stets zu Diensten. Man nennt mich auch den flotten Arthur.«

»Heinrich Hansen«, sagte Hansen und tippte sich an die Mütze.

»Der blaue Heinrich, ein Marine-Imitator.« Arthur rollte auf seinem Rad davon.

Hansen stieg kopfschüttelnd die Treppe hinauf.

»Schicke Uniform!«, rief der Artist ihm hinterher.

Ein dezentes Licht leuchtete im zweiten Stock hinter der Gardine. Hansen drückte die Klinke herunter und trat ein. Das Licht kam von einer Leselampe auf dem Rezeptionspult. Die Tür daneben war halb offen. Dies war sein Zimmer. Er ging hinein und betätigte den Lichtschalter. Ein viel zu heller Kronleuchter flammte auf. Elektrisches Licht war nicht immer ein Segen.

Hansen begutachtete das Bett mit der dicken Daunendecke, den breiten Schrank, den er niemals würde füllen können, und den zierlichen Sekretär, der anstatt eines normalen Tisches vor dem Fenster stand. Auf dem Sekretär ein Ständer mit Kerze, davor ein Hocker. Er zog eine Schublade auf und legte Kerze samt Ständer hinein. Der Bücherschrank mit den Glastüren war noch da, aber die Schlüssel waren abgezogen worden. Bettlektüre war im Zimmerpreis also nicht inbegriffen.

Auf der einen Seite des Bettes befand sich ein Nachtschränkchen, ein kleiner Sessel auf der anderen, und ein neues Bild hing über dem Kopfende des Bettes. Das Gemälde ein Motiv, das er so ähnlich von diversen Marinepostkarten kannte, nur dass dies hier allen Ernstes in Öl gemalt war: Ein Unteroffizier der deutschen Flotte, wahrscheinlich sollte es ein Obermaat sein, saß mit einem braun gebrannten Mädchen unter einem Mangobaum auf Tahiti oder einer anderen Insel der Südsee. Im Hintergrund stieß ein Kriegsschiff eine schwarze Rauchwolke in den blassblauen Himmel, und über der Idylle flatterte die Flagge der Kaiserlichen Marine.

Seine Zimmerwirtin verfügte entweder über einen eigenwilligen Sinn für Romantik oder über eine gute Portion hintergründigen Humor.

Er schmiss den Seesack aufs Bett, zog ihn auf, drehte ihn um und schüttete den Inhalt aus. Er machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten in den Schrank zu räumen. Einen zerknitterten Briefumschlag, in schiefen Druckbuchstaben adressiert an »Gefr. Heinrich Hansen, zur See, Kanonenboot ›Iltis‹, Ostasien-Geschwader«, strich er glatt und legte ihn in die Schublade des Nachtschränkchens.

Im Unterzeug und auf nackten Sohlen schlich er über den Flur, auf der Suche nach dem Badezimmer. Er fand eine winzige Toilette ohne Waschbecken. Zurück im Zimmer löschte er das Licht und stieg ins Bett. Die Decke war zu schwer, die Matratze zu weich. Stöhnend wälzte er sich in eine bequeme Position, lauschte den Klängen einer Zither, die irgendwo im Haus gespielt wurde, und schlief ein.