Ebook Edition

Ulrike Herrmann

Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung

Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können

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ISBN 978-3-86489-643-9

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Die Krise der heutigen Ökonomie
2 Ein Philosoph entdeckt die Wirtschaft: Adam Smith
Die Mutter bleibt der wichtigste Mensch – ein Leben lang
Eine Eliteuniversität enttäuscht: Adam Smith langweilt sich in Oxford
Wirtschaft in Glasgow: Monopole und Sklavenhandel
Begegnung mit der Konkurrenz: die Physiokraten
Das Werk eines Pensionärs: Der Wohlstand der Nationen
Smith fordert den Freihandel – und wird Zollbeamter
3 Vom Bäcker bis zum Freihandel: Der Wohlstand der Nationen (1776)
Der Irrtum der Merkantilisten: Gold macht nicht reich
Das zentrale Prinzip: Die Arbeitsteilung erklärt (fast) alles
Gemeinnutz durch Eigennutz: Wie die Makroökonomie entdeckt wurde
Ein Rätsel, das ein Rätsel bleibt: Wie entstehen Preise und Gewinne?
Das Los der Arbeiter: Reicher als »viele Könige in Afrika«
Freihandel weltweit: Die Anfänge der Globalisierung
Kolonien und Sklaverei: Ausbeutung macht ärmer
Die Brücke von Smith zu Marx: David Ricardo (1772–1823)
4 Ein Kommunist analysiert den Kapitalismus: Karl Marx
Unkonventionelle Ehe: Jenny ist älter
Das Erbe von Hegel: Die Dialektik des Prozesses
Marx erfindet das Proletariat
Mehr als nur »ein Talent«: Friedrich Engels
Die Lage der arbeitenden Klassen in England
Die Revolution war schneller: Das Kommunistische Manifest
Das Elend des Exils: London
Von Marx zum Marxismus
5 Der Sozialismus wird wissenschaftlich: Das Kapital (1867)
Ausbeutung ist fair: Die Logik des »Mehrwerts«
Kapital ist kein Besitz, sondern ein Prozess
Die Dialektik des Kapitals: Konkurrenz endet im Monopol
Irrtum I: Die Arbeiter sind nicht verelendet
Irrtum II: Ausbeutung gibt es – aber nicht den Mehrwert
Irrtum III: Geld ist keine Ware
Auch ein Genie darf irren: Die Bedeutung von Marx
6 Der Kapitalismus interessiert nicht: die Neoklassiker
Nur der subjektive Nutzen zählt
Ein Rätsel, das ein Rätsel bleibt: Wo kommen die Preise her?
Die Realität wird ignoriert: Großkonzerne sind angeblich unwirtschaftlich
Schumpeter spottet über die Neoklassik: nur »Jammergestalten«
Krisen? Welche Krisen?
7 Wo bleibt das Geld?! John Maynard Keynes
Die Eltern sind stolz: Keynes schafft es nach Eton
Ein fähiger Mathematiker, aber kein Genie
Nichts zu tun im India Office: Keynes schreibt seine Dissertation
Reparationen sind unbezahlbar: Keynes verfasst einen Bestseller
Als Dozent verdient er zu wenig: Keynes wird Spekulant
Der private Keynes: Bloomsbury und Lydia Lopokova
Keynes’ langer Abschied von der Neoklassik
Unheilbar krank
8 Sicher ist nur die Unsicherheit: Die allgemeine Theorie (1936)
Die Neoklassik versteht ihre eigene Theorie nicht
Sparen ist keine Tugend – sondern gefährlich
Kleiner Exkurs: Wo kommt das Geld her?
Das ungelöste Rätsel der Neoklassik: Wie funktioniert der Zins?
Es zählt nicht der Zins – sondern die Spekulation
Der Homo oeconomicus hat keine Chance – weil es das Risiko nicht gibt
Die Übermacht der Finanzmärkte
Versagt der Markt, muss der Staat eingreifen
Kein Freihandel mit Geld
9 Der heutige Mainstream: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
Mitten im »Wirtschaftswunder«: Die Neoliberalen planen ihren Siegeszug
Ein Lobbyist der Industrie: Ludwig Erhard
Die Wende von 1973: Das Finanzkasino öffnet wieder
Milton Friedman: die »Konterrevolution« gegen Keynes
Der Monetarismus versagt – aber die Finanzmärkte boomen
Eine falsche Theorie wird teuer: Die Finanzkrise kostet Billionen
Nach der Krise ist vor der Krise
10 Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können
Anmerkungen
Literatur

1 Einleitung: Die Krise der heutigen Ökonomie

Warum sind die Reichen reich und die Armen arm? Wie funktioniert Geld? Woher kommt das Wachstum? Wann kommt es zu Wirtschaftskrisen? Wieso gibt es Arbeitslosigkeit? Schon Kinder stellen diese Fragen – aber die Ökonomen können sie nicht eindeutig beantworten. Oft ignorieren sie diese Fragen sogar und schrauben lieber an mathematischen Modellen, die mit der Realität nichts zu tun haben.

Die Ökonomie steckt in der Krise. Selbst Laien fällt auf, dass die herrschenden Wirtschaftstheorien nicht stimmen können. Die britische Königin Elisabeth II. regiert seit mehr als sechzig Jahren, aber denkwürdige Zitate hat sie kaum geliefert. Eine Frage ist jedoch in Erinnerung geblieben, die sie nach dem Finanzcrash 2008 stellte: »Wie konnte es passieren, dass niemand diese Krise vorhergesehen hat?«

Nicht weniger legendär ist die Antwort der britischen Ökonomen. Sie gaben in einem dreiseitigen Brief zu: »Um die Sache zusammenzufassen, Ihre Majestät; hier hat die kollektive Vorstellungskraft vieler kluger Menschen versagt.«1

Nicht nur die Queen wundert sich, warum »viele kluge Menschen« keine besseren Theorien produzieren. Auch Kanzlerin Angela Merkel kann mit vielen Ratschlägen nichts anfangen, die sie von Wirtschaftswissenschaftlern erhält. Im Sommer 2014 war sie nach Lindau eingeladen, wo sich die Nobelpreisträger für Ökonomie trafen. Die Kanzlerin schonte die Herren nicht. Höflich, aber bestimmt warf sie ihnen vor, einen absurden Wahrheitsanspruch zu vertreten. Die Ökonomen sollten »die Ehrlichkeit haben, die Fehlerquoten oder die Unschärfen anzugeben, wenn man es nicht ganz genau weiß«.2

Leider sitzen die Wirtschaftswissenschaftler nicht isoliert in einem Elfenbeinturm, wo sie keinen Schaden anrichten können. Im Gegenteil, sie sind so mächtig wie keine andere Disziplin. Sie gehören zu den obersten Politikberatern und sind in allen Expertengremien vertreten. Es ist nicht übertrieben: Die Irrtümer der Ökonomen kosten nicht nur Milliarden, sondern sogar Menschenleben.

Selbst berühmte Volkswirte sind inzwischen überzeugt, dass ihr Fach mit einer rationalen Wissenschaft nichts mehr zu tun hat, sondern sich in quasi-religiöse Sekten zerlegt, die doktrinäre Glaubenssätze verbreiten. So stellte der US-amerikanische Ökonom Paul Romer kürzlich fest: »Die Ökonomie funktioniert nicht mehr, wie es bei einer wissenschaftlichen Disziplin üblich sein sollte. Dieses Problem scheint sich zu verschärfen.« Und er warf seinen Kollegen vor, »wie auf einem inter-religiösen Treffen« nur noch »Dogmen zu rezitieren« und dafür »andächtige Stille« zu erwarten.3

Enttäuscht ist auch der Nachwuchs. Viele Studenten ahnen, dass ihnen die Volkswirtschaftslehre ein Zerrbild der Wirklichkeit vermittelt. Sie haben sich in einem Netzwerk Plurale Ökonomik zusammengeschlossen, um die einseitige Lehre zu reformieren. Denn in ihrem Studium kommen wichtige Themen nicht vor. Sie lernen nichts über das Geldsystem und auch nichts über die Wirtschaftsgeschichte. Stattdessen wird nur eine einzige Theorie gelehrt: die sogenannte Neoklassik, die vor allem auf mathematische Modelle setzt.

Es gehört zu den Wundern der Mainstream-Ökonomie, dass sie unbeirrt an ihren Dogmen festhält, obwohl mehrere Finanzkrisen gezeigt haben, dass diese Modelle nicht stimmen können. Doch die Neoklassik hat sich unangreifbar gemacht – indem sie den Markt der Lehrbücher beherrscht. Wer die Studenten in den ersten Semestern prägt, muss sich um seine Anhänger nicht mehr sorgen. Die Theorieschlacht ist gewonnen.

Zum Dogmatismus der Mainstream-Ökonomie gehört, dass sie die wichtigsten Theoretiker ihres eigenen Faches einfach ignoriert. Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes werden an den Universitäten kaum, verzerrt oder gar nicht mehr gelehrt. Dabei haben diese Theoretiker ihre Disziplin begründet und umgewälzt. Auch andere Ökonomen waren wichtig, aber nur diese drei haben die Koordinaten ihres Faches jeweils neu definiert. Ohne sie gäbe es die moderne Volkswirtschaftslehre überhaupt nicht.

Doch Mainstream-Ökonomen tun gern so, als wären Smith, Marx und Keynes »überholt« und nur noch Gespenster der Geschichte. Dabei wird der beliebte Trick benutzt, dass automatisch als »modern« gilt, was in der Gegenwart verfasst wird. »Heutig« ist, was heute entsteht. Doch diese Tautologie verdeckt, dass sich in der Ökonomie ein beispielloser Vorgang abspielt: Die meisten Theoretiker sind direkt in eine Art fiktives Mittelalter zurückgekehrt. Die heutige Ökonomie tut so, als wären Smith, Marx und Keynes gestrig – dabei halten sie sich selbst im Vorgestern auf.

In der Ökonomie hat sich eine Schule durchgesetzt, die ihre Modelle so konstruiert, als würde die Wirtschaft nur aus Tauschhandel bestehen und als hätte es die Industrialisierung nie gegeben. Es mag ungeheuerlich klingen, aber die meisten Volkswirte haben keinen Begriff davon, was es bedeutet, in einem voll ausgereiften Kapitalismus zu leben, in dem Großkonzerne herrschen und Banken das Geld aus dem Nichts schöpfen. Daher sind diese Ökonomen stets so verblüfft und überfordert, wenn es zu Finanzkrisen kommt.

Die Irrwege der Mainstream-Ökonomen lassen sich jedoch nur verstehen, wenn man die Alternativen kennt: also Smith, Marx und Keynes. Wie alle Theoretiker waren sie Kinder ihrer Zeit, so dass manche ihrer Ideen durch die historische Entwicklung widerlegt wurden. Aber anders als die heutigen Ökonomen haben sie die wesentlichen Fragen gestellt – und sich in der realen Welt umgesehen. Deswegen sind ihre Analysen noch immer aktuell, und selbst ihre Irrtümer verraten mehr über den Kapitalismus und seine dynamische Geschichte, als es die Theorien der Mainstream-Ökonomen jemals könnten.

Der Titel meines Buchs ist also durchaus ironisch gemeint: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung zielt direkt auf Mainstream-Ökonomie, die noch immer so tut, als könnte man sich in die heile Welt der kleinen Wochenmärkte zurückziehen, wo nur Äpfel und Birnen gehandelt werden.

Aber natürlich spielt der Titel auch darauf an, dass es nicht so einfach ist, den Kapitalismus abzuschaffen – eine Erfahrung, die schon Marx machen musste. Der Kapitalismus ist ein totales System, das nicht nur die Wirtschaft, sondern alle Lebensbereiche durchdringt. Aber genau deswegen ist er so spannend. Das Abenteuer namens Kapitalismus lässt sich am besten erfahren, wenn man seine klügsten Theoretiker kennt. Also Smith, Marx, Keynes.4