Sabine Städing
Magie liegt in der Luft
Mit Vignetten von
Maria Karipidou
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1. Auflage 2016
© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung und -illustration,
Vorsatz und Vignetten: Maria Karipidou
TP · Herstellung: ang
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18491-9
V001
www.cbt-buecher.de
Für Kliff,
ohne den das Schreiben
nie mehr dasselbe sein wird.
Die rote Füchsin saß im Hamburger Hafen auf dem Dach eines Gewürzspeichers und beobachtete ein paar Mäuse beim Spielen. Sie bewegte ihren buschigen Schwanz dabei konzentriert von links nach rechts. Dann machte sie einen Satz und hatte eine Maus zwischen ihren kräftigen weißen Zähnen.
»Du wirst mit jedem Tag besser«, lobte sie die weiße Füchsin, die träge neben ihr in der Sonne döste.
»Iff weif!« Puder setzte die Maus sanft auf das Dach und öffnete das Maul. Eilig flitzte der kleine Nager davon.
Zufrieden ließ sie ihren Blick über die glitzernden Fleete der Elbe gleiten und seufzte.
»Ist es nicht herrlich, hier oben zu sitzen und sich auf die Ferien zu freuen?«
Bonnie, die weiße Füchsin, nickte. »Allerdings. Noch schöner wäre es, wenn es vorher keine Zeugnisse gäbe. Ich bin in Mathe ein Totalausfall. Und noch eine Fünf kann ich mir nicht leisten.«
»Reden wir lieber von etwas anderem. Ich stehe bei Behrends auch auf der Abschussliste. Meine letzte Arbeit war eine Vier minus.«
Eine Weile schwiegen die Fuchsmädchen und hingen ihren düsteren Gedanken nach. Dann stand Puder auf und schüttelte sich.
»Was soll’s? Wir können beide ausgleichen, und im nächsten Jahr machen wir es eben besser.«
»Du hast recht. Vielleicht fällt es meiner Mutter gar nicht auf, dass sich meine Noten verschlechtert haben. Sie hat sowieso nur noch Augen für ihren geliebten Zahnarzt.«
Puder grinste. »Du Glückspilz. Meinem Vater ist gerade erst aufgefallen, dass ich noch immer zur Schule gehe, und er hat sich vorgenommen, die Sache genauestens im Auge zu behalten. Wenn nicht bald eine neue Flamme auftaucht, die ihn auf Trab hält, sehe ich für die Sommerferien schwarz. Dann ist Nachhilfe angesagt.«
»Kann er sich die Nachhilfe überhaupt leisten?«, fragte Bonnie skeptisch.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Puder. Ihr Vater betrieb auf St. Pauli einen knuffigen kleinen Musikclub und kam gerade so über die Runden.
»Wird schon!« Bonnie stupste ihre Freundin aufmunternd mit der Schnauze an. »Dein Vater war noch nie lange solo. Die Frauen stehen auf ihn.«
Von Sankt Katharinen schlug die Turmuhr sechsmal. Jetzt stand auch Bonnie auf. »Was, schon so spät? Ich muss los! Ich habe Mungo versprochen, ihn noch kurz im Schrebergarten seines Opas zu treffen.« Mungo war Chef der Bloodhound-Gang und seit Kurzem Bonnies Freund.
Puder sah ihre Freundin verwirrt an. »Heißt das, ich darf alleine zum Treffen mit den Stadtwölfen gehen?«
Bonnie wedelte vergnügt mit ihrem buschigen Schwanz. »He, ich habe die Wahl zwischen Mungo und einem Eiskeller in Hamburgs Unterwelt. Ich hasse es, durch die stinkende Kanalisation zu kriechen.«
»Mir macht das nichts aus«, erwiderte Puder beinah trotzig.
»Logisch macht es dir nichts aus«, entgegnete Bonnie lachend. »Auf dich wartet ja auch der schnuckelige Silas.«
Seit ihrem Kuss auf dem Dach des Planetariums waren Puder und Silas ein Paar. Wenigstens in Puders Augen. So richtig gefragt, nach dem Motto: »Willst du mit mir gehen? Ja – Nein – Vielleicht«, hatte Silas sie allerdings nicht. Er war ein Stadtwolf. Halb Wolf, halb Mensch konnte er sich in das eine oder andere verwandeln und gehörte genau wie die Foxgirls zu den Halblingen. Oder den »Anderen«, wie sie sich selber nannten.
Puder reckte sich kurz und tippte dann mit der Vorderpfote auf den Boden. Sofort verwandelte sie sich in das Mädchen, das sie eigentlich war. Außer ihrem rot schimmernden Haar verriet nichts mehr die Fuchsmagie, die in ihr steckte.
Bonnie verwandelte sich ebenfalls. Aus der weißen Polarfüchsin mit den umwerfend blauen Augen wurde ein Mädchen mit einem frechen eisblonden Bob.
Puder warf einen letzten Blick über die Fleete und kletterte dann durch eine Luke vom Dach in den Speicher. Einen kurzen Moment lauschten die Mädchen. Dann liefen sie die steilen Treppen der fünf Böden hinunter und schlüpften durch die Tür hinaus auf die kopfsteingepflasterte, enge Straße.
Vor dem Haus herrschte reger Feierabendtrubel. Menschen mit und ohne Aktentaschen hasteten vorbei und freuten sich auf einen gemütlichen Feierabend im Garten oder auf dem Balkon.
»Wir sehen uns morgen!«, sagte Puder.
»Ich hole dich ab«, antwortete Bonnie.
Dann trennten sich ihre Wege. Während Bonnie über die Kornhausbrücke zur U-Bahn lief, machte sich Puder auf den Weg zum Schellfischtunnel, wo sich einer der zahlreichen, gut verborgenen Einstiege zu Hamburgs Unterwelt befand. Sie wartete vor dem verschlossenen Tor, bis sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, und verwandelte sich erneut in die zierliche Rotfüchsin. Ungesehen schlüpfte sie durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe in den düsteren Tunnel. Ihre Augen brauchten bloß einen winzigen Moment, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Schnell und zielstrebig folgte sie dem Weg, den sie in den vergangenen Monaten schon hundertmal gelaufen war.
Auf weichen Pfoten bewegte sie sich leise durch die unterirdischen Kanäle, vorbei an katzengroßen Ratten und den brennenden Tonnen der U-Bahn-Ghule, die in den Seitentunneln hausten. Ghule waren unangenehme Burschen, die nur darauf warteten, Beute zu machen. Tagsüber mischten sie sich unerkannt unter das ahnungslose Volk, um es zu bestehlen. Und nachts gingen sie auf die Jagd. Man sagte, sie würden mit Vorliebe Katzen jagen. Aber es war ein offenes Geheimnis, dass sie auch Babys aus ihren Kinderwagen stahlen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Puder hatte für Ghule nur Verachtung übrig.
Heute schien unter ihnen jedoch eine gewisse Unruhe zu herrschen. Ihre schrillen, sirrenden Stimmen hallten von den gemauerten Wänden wider, dass es nur so in den Ohren schmerzte. Puder nahm sich vor, die Stadtwölfe zu bitten, einmal nach dem Rechten zu sehen.
Sie wollte gerade durch die Katzenklappe schlüpfen, wie Bonnie den Einstieg ins Hauptquartier nannte, als auch von dort leise Stimmen zu hören waren. Aufmerksam spitzte Puder die Ohren. Doch die magische Barriere verhinderte, dass sie einzelne Worte verstehen konnte.
»Was ist heute bloß los?«, murmelte sie und sprang mit Anlauf durch die Klappe, die direkt in das Hauptquartier der Stadtwölfe führte.
Das Hauptquartier der Stadtwölfe befand sich in einem ehemaligen Eiskeller unter der Stadt. Hier hatten sie ihre Zentrale, ausgestattet mit Laptops, Spy-Gads, Geo-Cachern und winzigen Drohnen. Eben allem, was man als Stadtwolf an technischem Gerät so brauchte, um nicht von einem herumstreunenden Dschinn oder Jäger erwischt zu werden. Sowie Puder auf der anderen Seite der Katzenklappe auftauchte, nahm sie ihre menschliche Gestalt an.
Die Stadtwölfe, die sich gerade um Juris Laptop drängten, begrüßten sie bloß mit einem kurzen Nicken. Silas schickte noch ein Lächeln hinterher.
Schweigend trat Puder zu ihnen und warf einen Blick auf den Bildschirm, um den alle herumstanden. Zu sehen war der Hamburger Hafen, aufgenommen von einer Kameradrohne. Für Puders Geschmack nicht besonders spektakulär.
»Verdammter Mist!«, zischte Rufus, der Anführer der Stadtwölfe.
»Ich hätte euch gleich sagen können, dass sie die Aktion nicht einfach auf sich sitzen lassen«, meinte Juri gelassen.
»Shit! Hast du einen Screenshot gemacht?« Silas sah das IT-Genie der Stadtwölfe fragend an.
Juri nickte.
»Was ist passiert?«, wollte Puder wissen.
»Die Medusa liegt seit heute Nachmittag im Hafen«, sagte Silas, als würde das irgendetwas erklären.
»Die wer?«
»Die Medusa.«
»Oh. Ist das nicht diese schreckliche Frau mit dem Schlangenhaupt?«
»Stimmt genau!«, antwortete Rufus an Silas’ Stelle. »Die Medusa gehört Caspar Morosow, dem berühmten Kunstmäzen und sympathischen Multimillionär.«
»Ein zwielichtiger, gefährlicher Typ!«, klärte Silas sie auf. »Besonders für uns.«
»Nie von ihm gehört.«
»Doch, das hast du. Wir kennen ihn allerdings besser unter dem Namen Der Schwarze Abt.«
Puder riss erschrocken die Augen auf. »Der Schwarze Abt! Das ist doch …«
»… der Chef der kryptozoologischen Jäger«, beendete Silas ihren Satz.
»Was hat er hier zu suchen? Ich dachte, wir hätten endlich Ruhe vor den Jägern.«
»Schön wär’s«, murmelte Silas. »Aber es war klar, dass sie irgendwann wiederkommen. Schließlich ist ihnen durch uns ein fettes Geschäft entgangen. Und das können sie unmöglich auf sich sitzen lassen.«
Die kryptozoologischen Jäger waren eine große Gefahr für alle magischen Wesen, die in der Stadt lebten. Sie operierten weltweit, im Auftrag zahlungskräftiger Sammler, die bereit waren, Millionen auszugeben, um ihre Sammlung magischer Wesen mit einem echten Werwolf oder einem Einhorn zu schmücken.
Die Foxgirls hatten mit den Jägern Bekanntschaft gemacht, kurz nachdem die Fuchsmagie auf sie übergegangen war. Und Puder hatte wenig Lust, diese Bekanntschaft aufzufrischen.
»Darf ich mir das Schiff mal ansehen?«, fragte sie.
Bereitwillig traten die Wölfe zur Seite und Juri zoomte das Bild heran.
Puder stockte der Atem. Denn das Schiff, das dort drohend im Hafen lag, sah mit seinen drei Masten und den Kanonen, die seitlich aus dem Schiffsrumpf ragten, aus wie die Black Pearl – das Piratenschiff aus dem Film Fluch der Karibik. Düster und tückisch lag es da und schien nur darauf zu warten, auf Kaperfahrt zu gehen.
»Die Black Pearl hat ihn zu diesem Nachbau inspiriert«, sagte Silas, der ihre Gedanken zu lesen schien.
»Ist der Schwarze Abt an Bord?«, fragte Puder.
»Vermutlich. Wir haben die Ankunft der Medusa leider verpennt. Es ist durchaus möglich, dass er und die Jäger bereits von Bord gegangen sind.«
»Aber warum kommen sie diesmal mit einem Schiff?«, wollte Puder wissen.
»Wie es aussieht, hat der Schwarze Abt die Jagd auf magische Wesen zur Chefsache gemacht und will sie persönlich überwachen«, meinte Silas.
»Und ist gleich mit der gesamten Kommandozentrale angereist«, brummte Juri. »Die geballte Technologie, die nötig ist, um die Magischen aufzuspüren, liegt direkt vor unserer Haustür vor Anker.«
Puder schluckte. Das waren ja schreckliche Neuigkeiten. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie mit dünner Stimme.
Die Stadtwölfe zuckten ratlos mit den Schultern. Keiner sagte ein Wort.
»Jedenfalls lassen wir das Schiff nicht mehr aus den Augen«, brach Silas das Schweigen. »Zurzeit wissen wir nicht einmal, ob überhaupt Jäger an Bord sind.«
»Sieht aus, als würde sich das gerade ändern!« Juri deutete stumm auf den Bildschirm und lenkte die kleine Spionagedrohne per Mausklick um das schwarze Schiff herum. Jetzt konnte man sehen, dass tatsächlich kryptozoologische Jäger an Bord waren. Mehrere Männer in schwarzen, langen Ledermänteln waren gerade dabei, das Schiff über eine hölzerne Gangway zu verlassen.
Auf ihren Mänteln und den schwarzen Stiefeln prangte gut sichtbar der goldene Schakalkopf. Sie sahen aus wie eine Armee von Klonen. Kaum hatten sie festen Boden unter den Füßen, trennten sie sich und schwärmten in Zweiergruppen in alle Himmelsrichtungen aus.
»Das sieht gefährlich aus«, murmelte Silas.
Puder sah ihn ängstlich an. »Was können wir tun?«, fragte sie noch einmal.
»Uns nicht von ihnen erwischen lassen«, antwortete Rufus trocken.
»Ich muss sofort Bonnie anrufen«, murmelte Puder und griff nach ihrem Spy-Gad. Der Spy-Gad war nicht nur eine Art Ortungs- und Bestimmungsgerät für magische Wesen aller Art, sondern auch als Telefon perfekt zu gebrauchen. Er konnte alles, was ein Smartphone so konnte, bloß noch ein bisschen mehr.
Hastig drückte Puder Bonnies Kurzwahl. Dann wartete sie … und wartete … und wartete. Nach einer halben Ewigkeit war Bonnie endlich dran.
»Warum hat das so lange gedauert? Habt ihr geknutscht?«, blaffte Puder ihre Freundin an.
»He, wie bist du denn drauf?«, fragte Bonnie irritiert.
»Tut mir leid, aber es ist total wichtig. Bonnie, du musst auf der Hut sein. Die Jäger sind wieder in der Stadt. Du hättest sie sehen sollen, als sie von Bord gingen. Es waren total viele. Eine ganze Armee …«
»He … he, was redest du da?« Bonnie hielt offenbar die Hand vor das Mikro, denn Puder hörte sie nur noch ganz dumpf.
»Ich kann gerade nicht reden«, flüsterte ihre Freundin. »Hast du gesagt, es wären Jäger in der Stadt? – Die mit einem Dampfer gekommen sind?«
»So ungefähr!«, sagte Puder. »Bloß dass es kein Dampfer war, sondern eine Art Piratenschiff.«
»Alles okay bei dir?«
»Oh Bonnie, hör auf Witze zu machen und pass einfach auf dich auf, okay? Bis später!« Genervt drückte Puder das Gespräch weg.
Die Stadtwölfe hatten die Köpfe wieder zusammengesteckt und drehten sich jetzt zu Puder um.
»Hast du Bonnie erreicht?«, fragte Silas.
Puder nickte. »Sie ist gewarnt.«
»In Ordnung. Ich schlage vor, wir beenden unser Meeting für heute.« Rufus blickte finster in die Runde. »Wir verlassen das Hauptquartier einzeln. Sie müssen uns ja nicht gleich am ersten Tag im Rudel erwischen.«
Er verwandelte sich in einen schwarzen Wolf und Juri, Toby und Emil nahmen ebenfalls Wolfsgestalt an. Nur Silas zögerte noch.
»Was ist?« Rufus blieb stehen und sah ihn aus bernsteinfarbenen Wolfsaugen an.
»Sollten wir nicht auch die anderen Magischen warnen?«
»Logisch!«, knurrte Rufus.
»Okay, dann gehe ich am Japanischen Garten vorbei. Und du könntest den Elbnymphen einen Tipp geben«, sagte Silas und sah Rufus fest in die Augen.
Der Boss der Stadtwölfe schien sich zu ärgern, dass er nicht selbst diese Anweisung gegeben hatte. Trotzdem nickte er kurz mit dem struppigen Kopf und sprang mit einem Satz durch die Katzenklappe davon. Die restlichen Stadtwölfe sahen ihm nach.
»Ich warne die Klabauter«, versprach Emil, bevor er ebenfalls durch die Klappe verschwand.
»Und ich rede mit den Klopfgeistern«, brummte Toby.
»Aber … den Ghulen sag ich nicht Bescheid«, bellte Juri, bevor er verschwand.
»Ich schätze, sie wissen sowieso, was los ist«, rief Puder ihm nach.
Dann waren die Wölfe verschwunden und Silas und Puder blieben allein im Eiskeller zurück.
»Ein ziemlicher Mist, oder?«, fragte Puder und sah Silas bedrückt an.
»Ach was. Ich werde dich einfach beschützen. Allerdings geht das nur, wenn du ganz nah bei mir bist.«
Puder lächelte und trat einen Schritt näher an Silas heran. »Nah genug?«, fragte sie.
Silas schüttelte den Kopf. »Näher!«, raunte er.
Puder machte noch einen Schritt in seine Richtung. »Nah genug?«
Wieder schüttelte Silas den Kopf. »Wie soll ich dich beschützen, wenn du zehn Zentimeter von mir entfernt bist?« Er streckte die Arme aus und zog Puder ganz fest an sich heran. »So ist es nah genug!«, lachte er.
Puder kicherte.
»Du darfst dich unter keinen Umständen weiter von mir entfernen, verstanden«, setzte Silas nach.
»Könnte schwierig werden«, lachte Puder. »Was ist, wenn du zum Klo musst?«
»He, das ist total unromantisch!«
»Tut mir leid. Vielleicht kann ich die Sache wiedergutmachen, indem ich dich zum Japanischen Garten begleite?«, schlug das Foxgirl vor.
»Abgemacht!«, sagte Silas und gab ihr einen so langen Kuss, bis Puder nach Luft schnappte.
»Der war auf Vorrat«, sagte Silas. »Schließlich fangen morgen die Projekttage an, und wir können uns ein paar Tage nicht sehen.« Besorgt sah er ihr in die Augen. »Du passt doch auf dich auf, oder?«
Puder lächelte und küsste ihn auf die Nase. »Logisch«, sagte sie.
Dann verwandelte sich Silas in einen dunkelgrauen Wolf und Puder nahm ihre Fuchsgestalt an. Zusammen verließen sie das Hauptquartier der Stadtwölfe durch die Katzenklappe.
Ihr Besuch im Japanischen Garten war der totale Reinfall. Sie hatten dort kein einziges magisches Wesen angetroffen. Was wirklich ungewöhnlich war, denn normalerweise tummelten sie sich dort zu Dutzenden. Womöglich hatte es sich bereits herumgesprochen, dass wieder Jäger in der Stadt waren.
Puder und Silas blieb nichts weiter übrig, als unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen.
Nachdem sie sich vor Puders Wohnblock voneinander verabschiedet hatten, betrat das Foxgirl das dunkle Treppenhaus und hielt schnuppernd die Nase in die Luft. Seit dem Biss, durch den die Fuchsmagie auf sie übertragen worden war, waren ihre Sinne geschärft. Sie konnte besser hören, sehen und riechen als vorher. Es schien alles in Ordnung. Das Treppenhaus roch ausschließlich nach Frau Paternas stinkender Blumenkohlsuppe.
Eilig lief Puder die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf – und blieb davor wie angewurzelt stehen. Von drinnen war klassische Musik zu hören. Vivaldis »Frühling« aus den »Vier Jahreszeiten«. Sie wusste das so genau, weil sie sich in der Schule gerade damit beschäftigten. Puder runzelte die Stirn. Das war so gar nicht das, was ihr Vater sonst hörte. Und Lichtjahre von dem entfernt, was in seinem Musikclub gespielt wurde. Neugierig schloss Puder die Wohnungstür auf. Sie war auf alles gefasst.
Und das war auch gut so. Denn durch die Rauglasscheibe in der Wohnzimmertür erkannte sie zwei Silhouetten. Die eine klein und grazil, die andere lang und schlaksig. Eindeutig ihr Vater. Aber nein …, das konnte unmöglich ihr Vater sein, denn der tanzte nämlich nicht. Die beiden hinter der Scheibe hielten sich jedoch fest an der Hand, und die Schrittfolge führte sie aufeinander zu und voneinander weg. Und noch einmal, aufeinander zu und voneinander weg. Dann versank die grazile Silhouette in einen tiefen Knicks, während die andere Silhouette applaudierte.
Puder fand, jetzt wäre ein passender Moment, um die Tür zu öffnen und freundlich Hallo zu sagen. Erschrocken fuhren die beiden Tänzer herum, und Puder sah mit Genugtuung, wie ihrem Vater das Blut in den Kopf stieg.
»Störe ich?«, fragte sie unschuldig und musste sich gleichzeitig das Grinsen verkneifen.
»Quatsch!«, erwiderte ihr Vater. Eine Frau versteckte sich beinah schüchtern hinter seinem Rücken. Dann trat sie ganz unvermutet aus seinem Schatten heraus und kam Puder mit ausgestreckter Hand entgegen.
»Wie schön, dich endlich kennenzulernen!« Die zierliche Frau hatte braunes kinnlanges Haar und Augen wie Schokoladenplätzchen.
»Hallo!«, antwortete Puder und reichte ihr die Hand.
Ihr Griff war fest und entschlossen, dauerte aber nur eine Sekunde. Dann ließ sie Puders Hand wieder los und trat zurück.
»Das ist Pia. Sie tanzt Ballett«, erklärte ihr Vater.
»Ah, dann … will ich nicht weiter stören«, sagte Puder.
»Also nicht jetzt, aber generell … tanzt sie Ballett.«
»Klar, logisch«, nickte Puder und zog die Wohnzimmertür schnell hinter sich zu.
Sie ging in ihr Zimmer und musste erst einmal Luft holen. Jetzt ging der Zirkus wahrhaftig schon wieder los. Hätte sie sich vorhin doch bloß keine neue Freundin für ihren Vater gewünscht. Seufzend setzte sie sich an den Schreibtisch und schlug ihr Bio-Buch auf, um Hausaufgaben zu machen. Kurze Zeit später klappte sie es wieder zu. Das Thema Fotosynthese konnte sie irgendwie nicht so richtig fesseln. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu den »Vier Jahreszeiten« und der zierlichen Pia. Sie musste Bonnie unbedingt von der Tanzeinlage berichten.
Also schrieb sie ihr über WhatsApp:
Stell dir vor, mein Vater hat eine Neue. Sie ist von Beruf Ballettmaus.
Dazu schickte sie das Emoji von den zwei Tänzerinnen.
Du Ärmste
kam es unverzüglich zurück.
Ist sie wenigstens nett?
Keine Ahnung, aber sie hat einen Händedruck wie ein Schraubstock.
Ach so. Ich muss dir morgen auch etwas erzählen. Ist etwas komplizierter. Also bis dann.
Puder starrte auf ihr Display. Was sollte das denn? Bonnie konnte doch jetzt unmöglich die Unterhaltung abbrechen.
Was willst du mir erzählen. Und warum erst morgen???
schrieb sie deshalb. Aber Bonnie antwortete nicht mehr.
Also widmete Puder sich wieder der Fotosynthese. Leider konnte sie sich jetzt noch schlechter konzentrieren als vorher. Denn nun wanderten ihre Gedanken nicht nur zum klassischen Ballett, sondern auch noch zu Bonnies komplizierten Neuigkeiten. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie ihre Hausaufgabe fertig hatte.
Am nächsten Morgen war Puder schon vor Bonnie unten im Hof, wo sie sich jeden Tag vor der Schule trafen, und wartete. Die ganze Nacht hatte sie sich gefragt, was Bonnie ihr so Kompliziertes erzählen wollte. Da öffnete sich endlich die Haustür.
»He, seit wann bist du früher im Hof als ich?«, lachte Bonnie und umarmte Puder zur Begrüßung.
»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, was du mir erzählen willst. Eigentlich sollte ich dich dafür schlagen«, antwortete Puder grummelnd.
Bonnie grinste. »Was macht das Balletthäschen?«, fragte sie, als hätte sie Puders Antwort gar nicht gehört.
Die verdrehte die Augen. »Sie schnarcht! Und wenn du mir nicht auf der Stelle erzählst, was es Kompliziertes gibt, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
»Es hat mit Mungo zu tun«, sagte Bonnie geheimnisvoll.
Puder seufzte. »Natürlich. Dass ich nicht von selber drauf gekommen bin.«
»Er bleibt sitzen, wenn wir ihm nicht mit seiner Mathezensur helfen. Und dann fliegt er von der Schule«, flüsterte Bonnie, als würde irgendjemand mithören.
Puder sah sie verständnislos an. »Ähm. Das Schuljahr ist so gut wie gelaufen, selbst wenn wir jeden Tag mit ihm üben würden, könnten wir nichts mehr daran ändern. Abgesehen davon können wir von Glück reden, wenn wir uns in Mathe nicht selber eine Fünf einfangen.«
»Wie kannst du bloß so kaltherzig sein?«, empörte sich Bonnie. »Er hat Mathe-Behrends genau wie wir, und du weißt, wie gemein der sein kann.«
»Das stimmt. Aber leider habe ich keine Idee, wie wir das ändern können.«
»Ach, das ist doch ganz einfach. Wir ändern einfach seine Zensur im Notenbuch, bevor die Zeugnisse geschrieben werden!« Bonnie sah ihre Freundin triumphierend an.
»Wir sollen seine Mathezensur fälschen?«
»Wie kriminell das klingt, wenn du es so komisch betonst«, beschwerte sich Bonnie. »Wir hübschen seine Zensur einfach ein klitzekleines bisschen auf, mehr nicht.«
»Ach, und wie soll das Aufhübschen vor sich gehen? Sollen wir Mathe-Behrends vielleicht bitten, uns kurz sein »Buch der Schrecken« zu leihen?«
»Natürlich nicht. Aber als Foxgirls kommen wir auch durch geschlossene Türen, schon vergessen?«
Puder schnappte nach Luft. In Bonnie steckte mehr kriminelle Energie, als sie es je erwartet hätte.
»Das können wir nicht machen!«, stotterte sie. »Außerdem weiß Mathe-Behrends doch, wem er eine Fünf gegeben hat.«
»Quatsch, der geht doch nächstes Jahr sowieso in Rente.« »Deshalb ist er noch lange nicht blöd«, erwiderte Puder.
»Stimmt, trotzdem schreibt immer noch Mungos Klassenlehrer die Zeugnisse, und der weiß ganz sicher nicht so genau, ob Mungo sich nicht doch mit einer Vier retten konnte«, entgegnete Bonnie.
»Mir ist das zu gefährlich«, brummte Puder. »Die beiden brauchen im Lehrerzimmer doch bloß darüber zu reden, und schon fliegt die Sache auf.«
»Niemand redet freiwillig mit Mathe-Behrends«, sagte
Bonnie, doch es klang nicht besonders überzeugend.
Vor dem Schultor stand die komplette Bloodhound-Gang um ihren Chef herum und versuchte ihn wegen der miesen Mathenoten aufzumuntern. Bonnie gab Mungo zur Begrüßung einen Kuss, die übrigen Bluthunde feixten.
»Na, alles chilli milli bei euch?«, fragte Puder lässig und hätte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen. Denn Mungo sah wirklich unglücklich aus. »Sorry!«, murmelte sie.
Trotzdem warf ihr Bonnie einen bösen Blick zu. Und auch Raphael, Chef der Pauli-Panther, der in stiller Eintracht neben den Bloodhounds stand, verdrehte die Augen. »Mit Anlauf in den Fettnapf«, knarzte er.
»Ich hab’s kapiert, Rapha«, antwortete Puder genervt. Sie und Bonnie gehörten zu den Pauli-Panthern, seit sie denken konnten, und Raphael war ihr ungekrönter Bandenchef.
»Ich glaub nicht, dass du’s richtig kapiert hast«, murmelte Rapha und beugte sich vor, um vertraulich mit Puder zu reden. »Mungo hat zu Hause gerade unheimlich Stress. Wäre er nicht so ein verlauster Bloodhound, könnte er mir glatt leidtun.«
Fragend sah Puder ihn an.
»Sein Alter macht ihm wegen der Mathenoten die Hölle heiß. Und wenn er richtig in Stimmung ist, verdonnert er ihn zu einer Woche Hausarrest. Außerdem rutscht ihm manchmal die Hand aus.«
Erschrocken sah Puder ihn an. Sie kannte Mungos Vater, er war ein echt mieser Typ. Hoch wie breit, mit polierter Glatze. »Bloß wegen der Fünf in Mathe?«, fragte sie.
Raphael nickte. »Er hat ihm sogar gedroht. Wenn er seine Stiefmutter unglücklich macht, weil er sitzen bleibt …. Dann schmeißt er ihn raus.«
»So ein Idiot!«, knirschte Puder und warf einen schnellen Blick auf Mungo. Doch der hatte seinen Arm um Bonnie gelegt und ließ sich nichts weiter anmerken.
»Hat irgendwer Mathe?«, fragte Ella, als sie wenig später in die Klasse kamen. Sie war das Sprachrohr der Hornissen, einer reinen Mädchengang, die von allen nur »Die Chicas« genannt wurden und deren Lebensziel es war, Germany’s Next Topmodel zu werden. Ihre Mitschüler waren in den Augen der Chicas eine Mischung aus Höhlenmenschen und Lurchen. Und dementsprechend verächtlich fielen ihre Urteile über sie aus. Trotzdem gab es immer wieder Jungen und Mädchen, die sich bei ihnen einschmeicheln wollten.
»Hier, du kannst meine Aufgaben haben!«, bot ihr die unscheinbare Nora an und reichte Ella ihr eigenes Matheheft rüber. Wortlos nahm Ella es in Empfang und legte es vor sich auf den Tisch. Sie machte keinerlei Anstalten, irgendetwas daraus abzuschreiben.
»Äm, aber ich brauche das Heft zurück, wenn Herr Behrends kommt und wir die Ergebnisse vorlesen«, meldete sich Nora noch einmal schüchtern.
Ella drehte sich zu ihr um und nickte. »Kriegst du.«
Die Tür ging auf, und zur allgemeinen Verwunderung kam nicht Herr Behrends, sondern ein neuer Lehrer herein, den alle nur vom Sehen kannten.
»Guten Morgen! Ich bin Herr Löffler. Die Vertretung von Herrn Behrends«, stellte er sich vor.
Gemurmel setzte ein, und Ellas Hand schnellte in die Luft. »Was ist denn mit Herrn Behrends los?«, fragte sie und schaffte es, ihrer Stimme einen besorgten Klang zu geben.
»Herr Behrends hat einen Bandscheibenvorfall und wird für eine Weile ausfallen«, erklärte Herr Löffler knapp.
»Oooh …«, murmelte die Klasse pflichtschuldig.
Bonnie blinzelte Puder zu. »Kommt er denn vor den Ferien noch einmal in die Klasse?«, fragte sie. »Wegen der Zeugnisse, meine ich.«
Der neue Lehrer sah Bonnie belustigt an. »Nein, das wird er wohl nicht schaffen. Zurzeit sieht es eher nach einer langwierigeren Geschichte aus.« Herr Löffler machte eine Pause. »Aber keine Angst. Eure Mathenoten stehen ja schon fest. Herr Behrends wird mir in den nächsten Tagen sein »Buch der Schrecken« übergeben!« Er lächelte gewinnend in die Runde. »So, und jetzt lasst uns mit dem Vergleichen der Hausaufgaben anfangen.«
Bonnie strahlte Puder an und die lächelte zurück. Besser konnte sich die Sache ja gar nicht entwickeln. Nora wurde hinter ihrem Rücken langsam nervös. »Äm, Ella … Ella … mein Heft«, zischelte sie. Doch Ella hörte sie leider nicht.