Eckhard Roediger
Besser leben lernen
Innere Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Für Lukas, Simon und Lea
und alle Kinder dieser Welt,
auf dass sie ihren Weg
in ein gutes Leben
finden mögen.
Geleitwort
Vorwort
Verstehen
Was macht uns glücklich?
Freiheit und Verantwortung
Entwicklung zur Gesundheit
Das Problem der inneren Anspannung
Wir leiden an unseren Vorstellungen
Biografische Gesetzmäßigkeiten im Lebenslauf
Erster Lebensabschnitt – »Das Wachstum«
Zweiter Lebensabschnitt – »Die Blütezeit«
Dritter Lebensabschnitt – »Die Reifezeit«
Vierter Lebensabschnitt – »Ernten und Welken«
Skizze eines spirituell erweiterten Verständnis des Menschen
Die Ebenen menschlichen Seins
Über die Entstehung von Stress
Wie können wir gesünder mit Stress umgehen?
Unser Seelenleben
Die Bedeutung einer bewussten Gedankenführung
Woher kommen Intuitionen?
Denken schafft Wirklichkeit
Intuitionen müssen geprüft werden
Erlebnisse müssen gedanklich verdaut werden
Gedanken zur Willensfreiheit
Eine Pause einschieben zwischen Wahrnehmen und Handeln
Das Denken muss aktiver ergriffen werden
Der menschliche Organismus
Die Welt wirkt über die Sinne in uns hinein
In uns muss die Außenwelt überwunden werden
Versuch einer Annäherung an das Wesen des »Bösen«
Lernen und Gedächtnis
Wie wurden wir, wer wir sind
Wie können wir Schemata verändern?
Schemata erkennen und benennen
Schemata anerkennen und verändern – sich von ihnen trennen
Verändern
Bedeutung der Achtsamkeitshaltung
Im Denken können wir etwas Neues ermöglichen
Auf die richtige Einstellung kommt es an
Achtsamkeit und Akzeptanz in der christlichen Mystik
Kraft durch Vertrauen
Die Bedeutung der Meditation
Achtsamkeit im Alltag
Spannungsreduktion durch Akzeptanz
Lenkung der Aufmerksamkeit
Neuformung
Die Überwindung der Selbstbezogenheit – der Blick in die Umwelt
Wie können wir Kraft auftanken?
Die drei Quellen der Kraft
Die inneren Bilder und Gedanken pflegen
Das Vertrauen auf eine höhere Macht – das innere Gebet
Die richtige Einstellung zum Tun
Innerer Dialog
Wie lassen sich bessere Lösungen finden?
Selbstbewusstsein durch die Akzeptanz aller Teile
Innere Kompromisse finden
Ins Tun kommen
Steigerung der Denkkraft
Stabilisierung oder Training
Schritte zu einem selbstbestimmten Leben
Ziele neu definieren
Wer wagt, gewinnt
Warum ist es so wichtig, Dinge aufzuschreiben?
Eine gute Planung ist das halbe Leben
Zwölf Schritte zur guten Selbstorganisation
Warum Belohnungen so wichtig sind
Was geschieht eigentlich beim Training?
Der Unterschied von Denken und Wollen/Tun
Ins Tun kommen
Über das Wesen der Kraft
»Leistung« muss sich lohnen
Soziale Aspekte
Glück – Sinn – Beziehung
Auf welche Grundsätze können wir unser Verhalten gründen?
Was können und müssen wir tun, um unser Zusammenleben positiv zu gestalten?
Wertschätzung
Wertschöpfung und Gemeinschaftsbildung
Über die Bedeutung von Ritualen für eine gute Selbstentwicklung
Wie können wir zum Mitfühlen kommen?
Die überpersönliche Dimension des Schmerzes
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …«
Anhang
Die Jahrsiebte im Einzelnen
Meditationsanleitung
Body-Scan
Vipassana-Meditation
Meditation mit inneren Bildern
Tagesplan
Verzeichnis der Übungen und Sinnsprüche
Literaturempfehlungen
Impressum
Gegenwärtig suchen viele Menschen nach einer Identität und Spiritualität, die sich nicht einem bestimmten Religionsbekenntnis verpflichtet fühlt, sondern primär wissenschaftlich ausgerichtet ist. Man möchte glauben, was man versteht – und verstehen, was man glaubt. Dieses aber soll so allgemein gültig und verständlich sein, dass es von jedem nachvollzogen werden kann. Das ist jedoch nur dann erreichbar, wenn dabei einerseits das Zentralmenschliche angesprochen wird und andererseits für die ganz persönlichen eigenen Lebensfragen konkrete Antworten gefunden werden können.
Der Psychiater und Psychosomatiker Eckhard Roediger gibt mit Besser leben lernen ein Instrument an die Hand, das für diese Wegsuche geeignet ist. Schon nach wenigen Seiten ist klar, warum es sich lohnt, dieses Buch gründlich zu lesen: Es gibt zum einen die Möglichkeit, in Begleitung eines erfahrenen Kenners von Leib und Seele die eigenen Lebensfragen, Probleme, Haltungen und Wünsche neu und bewusst aus aufschlussreichen Blickwinkeln anzuschauen. Zum anderen bietet es Gelegenheit, in prägnanter Kürze vieles aufzunehmen und zusammen zu sehen, was einem sonst in umfangreichen Werken unterschiedlicher Autoren geboten wird.
Das Buch ist für Menschen geschrieben, die auf der Suche sind nach mehr Lebensqualität, Selbsterkenntnis und Menschenverständnis. Es lädt ein zu einem kreativen Dialog mit dem Autor, dem ich engagierte Leser wünsche.
Dornach, im Sommer 2006
Dr. med. Michaela Glöckler
Warum dieses Buch? Gibt es nicht schon genug Ratgeber dieser Art? Marktwirtschaftlich gesehen gäbe es die vielen Ratgeber sicher nicht, wenn sie nicht auch jemand kaufen würde. Die Nachfrage scheint also grundsätzlich da zu sein. Es gibt lebenspraktische Ratgeber, wie man sich durch gute Ernährung und Bewegung fit halten kann. Auch darüber, was man für sein seelisches Gleichgewicht, seine spirituelle Entwicklung oder einen besseren Umgang mit anderen Menschen tun kann. Was bringt nun dieser Ratgeber Neues?
Dieses Buch versucht im ersten Teil eine Brücke zu schlagen zwischen den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Gehirnforschung und der Psychologie und altem Wissen aus dem Buddhismus und der christlichen Mystik über die spirituelle, d. h. geistige Entwicklung des Menschen. Diese Verbindung bzw. Durchdringung ist nicht selbstverständlich, leben doch die meisten Menschen heute mit einem gespaltenen Weltbezug: Zum einen »glauben« sie an die Ergebnisse der Naturwissenschaft und deren Modelle vom Menschen und der Natur, zum anderen an Gott. In der alle zwei Jahre stattfindenden ALLBUS-Erhebungen des Kölner Zentralarchivs für empirische Sozialforschung gaben 2002 knapp 40 % an, mindestens einmal pro Woche zu beten. 50 % gehen mehrmals pro Jahr in die Kirche, 25 % glauben an einen persönlichen Gott, zusätzlich 40 % an ein höheres Wesen im Allgemeinen. Nur 18 % glauben ausdrücklich nicht an Gott. Die Zahlen liegen in den westlichen Bundesländern allerdings deutlich höher als in den östlichen. Diese Spaltung wird im Alltag nicht weiter hinterfragt – wir leben einfach mit einer »doppelten Buchführung«.
Dieses Buch versucht die möglichen Übergänge von der naturwissenschaftlichen zu einer geistigen Welt zu umreißen. Mit einem analytisch-abstrakten Denken ist dieser Übergang nicht nachzuvollziehen, denn dann bleibt man in den alten, geformten Denkkategorien stecken. Um die Übergänge vom Stofflich-Festen zum Geistig-Nichtstofflichen zu verstehen, muss das Denken beweglicher gemacht werden. Wie das geht, versucht das Buch im zweiten Teil anschaulich und erlebbar zu machen. Die eingestreuten meditativen Sprüche mögen Ihnen dabei ebenso helfen, die Gedanken zu verlebendigen, wie die Meditationsanleitung im Anhang. So kann jeder individuell erleben, dass eine naturwissenschaftlich-rationale Weltsicht quasi bruchlos mit einer spirituellen Orientierung und Praxis verbunden werden kann und wie man aus »reiner Vernunft« auf einen persönlichen spirituellen Weg als Grundlage für eine größere Lebenszufriedenheit finden kann. Weitergehende Anregungen dazu finden Sie u. a. in den Büchern von Georg Kühlewind.
Versuchen Sie also, sich einfach einmal von den im ersten Teil dargestellten Gedanken führen zu lassen und sie innerlich mitzubewegen, das Gefühl mitschwingen zu lassen und zu schauen, ob in Ihnen ein sogenanntes Evidenzgefühl entsteht, d. h. ob Ihnen das Dargestellte »einleuchtet«. Aber Sie sollen die Inhalte nicht einfach glauben, sondern prüfen Sie bitte die Gedanken an Ihren Wahrnehmungen im Alltag!
Leider wird Ihnen dieses Wissen allein wenig helfen, glücklicher zu werden, denn Wissen allein ändert nichts! Glück fällt uns nicht zu und hängt auch nur wenig von den äußeren Umständen ab, wie Sie im ersten Kapitel gleich genauer sehen werden. Glück muss erarbeitet bzw. »erübt« werden. Daher enthält dieses Buch im zweiten Teil zahlreiche Übungen, durch die Sie Ihre guten Vorsätze auch tatsächlich verwirklichen können. Die Übungen basieren auf Anregungen Rudolf Steiners bzw. sind buddhistischen und christlich-mystischen Schulungsanweisungen entnommen. Der Anhang enthält ein Verzeichnis aller Übungen und Meditationen, damit Sie die einzelnen Übungen im Text leichter finden.
Das Buch soll so geschrieben sein, dass es jeder ohne Vorkenntnisse verstehen kann. Es erlaubt bildlich gesprochen einen einfachen bzw. sicheren Einstieg am Ufer, führt aber für gute Schwimmer auch in tiefere Gewässer. Gehen Sie so weit mit, wie Sie mögen; überspringen bzw. überlesen Sie getrost Passagen, die etwas kompliziert sind. Mutige »Hochseeschwimmer« (oder besser »Tiefseetaucher«, die gerne den Dingen auf den Grund gehen), können beim Verfasser die Literatur, auf die sich bezogen wird, erhalten. Zur Vertiefung sind im Anhang die erwähnten Bücher aufgeführt.
Nun möchte ich an dieser Stelle allen danken, die zur Entstehung des Buches beigetragen haben. Das sind zunächst alle Patienten, an denen ich in den täglichen Patientenvorträgen in unserer Klinik die Inhalte »ausprobiert« habe und die mich durch ihre Fragen zu immer neuen Ideen und Bildern inspirierten. Außerdem meinem Lehrer und Freund Achim Noschka für seine geduldigen Unterweisungen, meinem Kollegen Markus Pawelzik für seine Anregungen aus der positiven Psychologie und meiner Kollegin Michaele Quetz für die Ergänzungen zur biografischen Entwicklung. Last but not least gebührt mein Dank meiner hervorragenden Sekretärin Anke Heidelberg und dem Verlag für die Realisierung, denn auch bei Büchern nutzen die guten Ideen nichts, wenn sie nicht geduldig zu Papier gebracht werden. Ihnen, meinen lieben Leserinnen und Lesern, danke ich, dass Sie sich an dieses Buch heranwagen, und wünsche Ihnen viele Anregungen und Freude beim Lesen.
Eckhard Roediger, im Sommer 2006
Wenn man die Menschen fragte, würden sie sich wohl alle ein gutes bzw. glückliches Leben wünschen. Derzeit haben wir, zumindest in Deutschland, relativ gute äußere Bedingungen, um glücklich zu sein. Überraschenderweise sind aber gerade wir nicht besonders glücklich. Im Gegenteil: Depressionen nehmen seit den sechziger Jahren stetig zu und treten in immer jüngerem Lebensalter auf. Der durchschnittliche Beginn hat sich vom 30. Lebensjahr auf das ca. 15. Lebensjahr vorverlagert. Die Anzahl der Suizidversuche im Teenageralter hat sich in dieser Zeit vervierfacht.
Überraschenderweise hängt die Lebensqualität bzw. das subjektiv erlebte Lebensglück auch nicht vom finanziellen Hintergrund ab. Eine Untersuchung in Amerika zeigte, dass die Reichen keineswegs glücklicher sind als Menschen mit einem niedrigen Einkommen. Weltweit gilt, dass ab einem Jahreseinkommen von 20.000 Dollar die Lebenszufriedenheit nicht mehr mit dem Einkommen verbunden ist. Wenn man dem entgegenhält, wie sehr sich Menschen bemühen, mehr Geld zu verdienen, ist das ein überraschender Widerspruch. Auf der anderen Seite scheinen wir jedoch auch einen Sinn dafür zu haben, dass Geld tatsächlich nicht glücklich macht. Denn wir wünschen unseren Mitmenschen in der Regel zum Geburtstag keinen materiellen Wohlstand, sondern Gesundheit, Zeit und Freunde. Damit liegen wir sicher richtiger.
Glaubt man den Forschungsergebnissen der Psychologie, so ist aber nicht einmal körperliche Gesundheit sehr eng mit der Lebenszufriedenheit verbunden. Überraschenderweise ist die Lebenszufriedenheit von Menschen ein Jahr nach einem Lottogewinn in Millionenhöhe ebenso wieder auf dem Ausgangsniveau wie ein Jahr nach einer bleibenden Verstümmelung durch einen Unfall (z. B. eine Querschnittslähmung).
Entgegen unserer Erwartung zeigt sich hier deutlich, wie wenig unser Lebensglück von äußeren Umständen abhängt. Dies sollte uns nachdenklich machen. Offensichtlich sind andere Faktoren bedeutsamer als die äußeren, die wir so gerne für unsere Stimmungen verantwortlich machen, sei es das Wetter, die Nachbarn, der verlorene Partner oder Arbeitsplatz oder die bösen Schwiegereltern.
Was macht uns denn dann glücklich, wenn nicht Geld oder Gesundheit? Dass diese Frage nicht so einfach zu beantworten ist, zeigt die Flut von Ratgebern zum Lebensglück (dem mit diesem Buch nun auch noch ein weiteres Exemplar hinzugefügt wurde). Um der Frage auf den Grund zu gehen, greifen wir noch einmal auf die Forschungsergebnisse der sogenannten »positiven Psychologie« zurück, die versucht zu erforschen, was Menschen glücklich macht. Diesen Erkenntnissen zufolge setzt sich das Lebensglück bzw. die Lebenszufriedenheit aus verschiedenen Komponenten zusammen: Nur etwa 10 % hängen von unseren äußeren Lebensumständen ab, 50 % von unserer genetisch-konstitutionellen Veranlagung und etwa 40 % von unseren selbst bestimmten Aktivitäten.
Abb. 1
Vor allem auf diese letztgenannten 40 Prozent bezieht sich dieses Buch. Betrachtet man das Glückserleben genauer, kann man laut Markus Pawelzik (unter Bezug auf Martin Seligman) zufolge drei Bereiche unterscheiden, die insgesamt zum guten Lebensgefühl beitragen (siehe Abb. 1.):
1. Kurze Momente des Glücks bzw. des lustvoll-freudigen Erlebens stellen ein Element der Lebenszufriedenheit dar. Das sind genau die Momente, die uns die Werbung verkaufen will. Dieses Erleben steht oft in Verbindung mit intensiven Körperprozessen oder starken Sinneswahrnehmungen, also Kulturgenüssen, Reiseeindrücken, Festen oder anderen besonderen Aktivitäten, lustvoll erlebten Körperbetätigungen oder Ähnlichem. Diese »Gipfelerlebnisse« halten jedoch nur kurz an und die Erlebensintensität ist rasch wieder vorbei. Danach bleibt nicht selten ein Gefühl von Leere, das nach einer intensiveren Wiederholung des Erlebnisses ruft. Dies kann zu Suchttendenzen führen.
Die Fähigkeit zu diesem körperlichen Glückserleben ist stark verbunden mit der Art und Weise, wie das sogenannte »Belohnungszentrum« in der Tiefe unseres Gehirns arbeitet. Durch die Stimulation dieser Nervenzellen lässt sich elektrisch, mechanisch oder chemisch ein Lustgefühl auslösen. An dieser Stelle setzt auch die chemische Drogenwirkung an. Das grundlegende Funktionsniveau dieser Struktur bzw. ihre Reaktionsbereitschaft auf äußere Reize ist stark konstitutionell angelegt. Sie ist die körperliche Grundlage dessen, was uns als schwermütige Menschen oder »Ulknudeln« begegnet.
2. Unter diesen Gipfelerlebnissen liegt eine Ebene von grundlegender positiver Stimmung. Diese hängt weniger von äußeren Situationen als von der inneren Einstellung ab. Hiermit ist zum Beispiel die Tendenz gemeint, mit der wir auf andere Menschen oder Aufgaben zugehen, zum Beispiel mit einer gewissen Offenheit bzw. Grundsympathie. Diese Stimmungsebene ist stark von den früheren Erlebnissen in der Biografie abhängig und kann als Urvertrauen oder positives Grundgefühl beschrieben werden. Hier finden auch gelernte Lebensregeln, Selbsteinschätzungen bzw. Selbstbewertungen Eingang, zum Beispiel: »Das ist jetzt zwar dumm gelaufen, aber das werde ich schon noch hinbekommen!« Erich Fromm hat in seinem Buch Die Kunst des Liebens ausführlich beschrieben, dass Liebe keine Frage des richtigen Objektes, sondern der richtigen Einstellung zu den anderen Menschen ist. Eine Grundhaltung von Offenheit, Interesse am anderen, die Fähigkeit zu staunen und sich auf Neues einzulassen prägt diese Stimmungsebene. Stimmungen sind allerdings nicht völlig stabil, sondern unterliegen gewissen Schwankungen. Hier spielen auch Körperprozesse hinein (z. B. hormonelle Schwankungen).
3. Die dritte Ebene – und das ist die sicher derzeit in der Öffentlichkeit am wenigsten beachtete – ist die der grundlegenden Werte und Tugenden. Werte und Tugenden sind gedanklich vermittelt und stellen gewissermaßen den festen, tragenden Untergrund unserer Lebenseinstellung dar. Sie bleiben auch in Zeiten körperlicher Krisen oder sozialer Erschütterungen stabil, d. h. sie sind unabhängig von kurzfristigen äußeren Einflüssen. Gerade dadurch entwickeln sie ihre Tragekraft. Werte und Tugenden sind kulturell vermittelt und haben nichts mehr mit unseren persönlichen Körperprozessen zu tun. Sie stellen den Bezug zu unserer Umwelt her und machen uns erst zu sozialen Wesen. Diese Einbindung in die sozialen Strukturen ist ein wichtiges Element für langfristige Lebenszufriedenheit und Glück.
Wir befinden uns also in einem Spannungsfeld von intensivem, momentanem Selbsterleben auf der einen und überdauerndem tragendem Weltbezug auf der anderen Seite. In diesem Spannungsfeld – bzw. in einer guten Mischung dieser beiden Pole – entstehen Glück und Lebenszufriedenheit.
Dieses Buch möchte Ihnen diese Hintergründe ausführlicher darstellen und Wege aufzeigen, diese Balance zu finden und zu gestalten, indem es Ihnen in allen drei Bereichen hilft, Ihr »Glück zu machen«.
Ausgangspunkt solcher Überlegungen sind nicht selten Momente, in denen das Lebensglück gerade bedroht erscheint – also sogenannte Krisen.
Krisen hindern uns vorübergehend daran, unser Leben so zu leben, wie wir es spontan wollen. Das heißt, sie »kränken« uns und können zu Krankheiten führen. Andererseits sind Krisen eine Chance, uns zu besinnen und darüber nachzudenken, was wir eigentlich im Leben erreichen wollen. Ebenso erinnert uns der Gedanke an den Tod daran, dass unser Leben begrenzt ist. Ein interessantes (und bekanntes) Gedankenspiel zu diesem Thema ist: »Wie würdest du dein Leben gestalten, wenn du wüsstest, dass du nur noch ein oder zwei Jahre zu leben hättest?!« Diese Frage hilft uns, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Aus dieser Perspektive können Krisen zu einem Aufwach- oder Besinnungspunkt im Alltagstrott werden, damit wir unserem Leben neue Impulse geben und aktiv für eine bessere Lebensqualität sorgen können.
Wir müssen uns an dieser Stelle aber prüfen, ob wir bereit sind, geduldig und ausdauernd an uns selbst und unserer persönlichen Entwicklung zu arbeiten, oder ob wir insgeheim auf eine »Abkürzung« zum Lebensglück hoffen. Es werden viele Kurse und Behandlungsmaßnahmen angeboten, die so etwas suggerieren. Aber nur da, wo wir ausdauernd an uns selbst arbeiten, entwickeln wir eigene Fähigkeiten. Dort, wo wir durch andere etwas bekommen, ist das Glück nur »geborgt«. Etwas salopp ausgedrückt: »Nur selber essen macht stark.«
Im Gegensatz zum Tier ist die Lebensentwicklung des Menschen letztlich nicht vorgezeichnet: Das Tier kann im Rahmen seiner angelegten Möglichkeiten ausreifen, sich aber nicht darüber hinaus entwickeln. Im Gegensatz dazu ist das Leben des Menschen nur zum Teil durch Erbanlagen und Umweltbedingungen vorgegeben. Daneben ist der Mensch auch freigelassen und kann ganz neue Impulse in seinem Leben verwirklichen, die im Sinne einer individuellen Entwicklung über das Vorgegebene weit hinausgehen können.
Ohne an dieser Stelle tiefer in die gegenwärtig kontrovers geführte Diskussion um die Willensfreiheit des Menschen einzusteigen, sei hier zunächst nur kurz darauf verwiesen, dass der Mensch zumindest über eine gewisse »praktische Willensfreiheit« verfügt, wenn man ihn beispielsweise mit den Tieren vergleicht. Diese sind weitgehend von Instinkten bzw. Reflexen gesteuert, zumindest solange sie nicht von Menschen dressiert werden. Um den Unterschied des Entwicklungspotenzials zwischen Tier und Mensch zu veranschaulichen, sei auf ein einfaches Bild zurückgegriffen: Die meisten von Ihnen werden die Situation kennen, dass Menschen ein neugeborenes Kind auf dem Arm wiegen und fragen, was wohl aus dem Kind werden möge. Diese Frage verweist darauf, dass dieses Kind verschiedene Lebenswege ergreifen kann. Dabei spielen selbstverständlich auch die Einflüsse eine Rolle, denen dieses Kind ausgesetzt sein wird. Dennoch ist nicht vorhersehbar, wozu es das Kind »bringen wird«. Stellen Sie sich demgegenüber einen Bauern vor, der am Morgen in seinen Stall geht und ein neugeborenes Lamm auf den Arm nimmt und sich versonnen fragt, was aus diesem Lamm wohl werden möge … Die individuellen Entwicklungsspielräume von uns Menschen sind ungleich größer als die der Tiere!
Aber diese Entwicklung geschieht nicht von allein. Sie braucht einen »Architekten«, der die Verantwortung übernimmt. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen, sind zwei Seiten derselben Medaille. In unserem westlichen Bewusstsein wird eher die Freiheit betont, die Verantwortlichkeit hingegen leicht übersehen.
Freiheit bedeutet nicht nur die Wahlmöglichkeiten des Individuums. Wenn der Mensch in seiner Entwicklung zumindest teilweise frei ist, so heißt das, dass er auch von außen beeinflussbar ist (z. B. durch Werbung oder Erziehung). In gewisser Weise sind die Tiere durch ihre Anlagen und Instinkte geschützt, während der Mensch verführbar ist und auf Abwege geraten kann. So können Einseitigkeiten in der Lebensführung Keime zu Krankheiten werden. Wir haben zum Beispiel den Sinn für die Qualität von Nahrungsmitteln, einen natürlichen Lebensrhythmus oder soziale Instinkte verloren. Im Gegensatz zum Tier ist im Menschen die Möglichkeit zur Erkrankung (insbesondere zur seelischen) bereits in seiner Konstitution angelegt. Im Altertum bestand ein ausgeprägteres Bewusstsein dafür als heute, dass seine geistigen Erkenntnismöglichkeiten den Menschen aus dem Schutz und der Sicherheit der Natur herausführen. In der Bibel ist dieser Zusammenhang in der Vertreibung aus dem Paradies sinnbildlich beschrieben, nachdem der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte.
Wir haben die Freiheit, ein gesundes oder krankmachendes Leben zu führen. Umfassender ausgedrückt: Wir stehen zwischen Gut und Böse, wie es in den Epen des Faust oder Peer Gynt dargestellt ist. In einem Meditationsspruch von Rudolf Steiner klingt der Gedanke, dass Gesundheit erst errungen werden muss, so:
Es war in alten Zeiten,
da lebte in der Eingeweihten Seelen
kraftvoll der Gedanke,
dass krank von Natur aus
ein jeglicher Mensch sei.
Und Erziehen ward angesehen
gleich dem Heilprozess,
der dem Kinde mit dem Reifen
die Gesundheit zugleich erbrachte
für des Lebens vollendetes Menschsein.
Dieser Gedanke ist zugegebenermaßen ungewohnt und erklärungsbedürftig: Eine gesunde Lebensführung ist eine Gratwanderung bzw. verlangt eine Balance zwischen verschiedenen Extremen, die sich jeweils kurzfristig angenehm anfühlen mögen, aber als anhaltende Einseitigkeiten in Krankheitszustände führen. Eine gute Erziehung soll uns auf diesen Lebensweg vorbereiten. Wir wissen aber alle, wie wenig Raum einer »Erziehung zum gesunden (hygienischen) Leben« eingeräumt wird. Hygiene meinte in früherer Zeit eine umfassende Erziehung zur körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit. Heute ist der Begriff zum »Händewaschen vor dem Essen« degeneriert.
Durch die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Medizin in den letzten 150 Jahren sind diese feineren Zusammenhänge etwas aus dem Bewusstsein geraten. Die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Medizin spielten sich vor allem im Bereich der körperlichen Seite des Menschen ab (zum Beispiel bei der Wundversorgung, den Operationstechniken, der medikamentösen Behandlung). Die seelisch-geistige Seite trat in der Medizin in den Hintergrund, wenn man einmal von der Psychoanalyse absieht. Entsprechend hatten philosophische Modelle Konjunktur, die die stofflich-leibliche Seite des Menschen in den Vordergrund stellten und alle seelisch-geistigen Tätigkeiten ausschließlich auf verfeinerte körperlicher Vorgänge (Emergenzen) zurückführten. Es überwogen die Krankheitsvorstellungen vom »an sich gesunden Menschen, der durch Außeneinwirkungen (Keime oder Umwelteinflüsse) krankgemacht wird« (sogenannter pathogenetischer Ansatz). Im Sinne dieses Krankheitsverständnisses ist es konsequent, Infekte überwiegend mit Antibiotika zu behandeln, um die krankmachenden Keime zu töten.
Mit der »Einführung des Subjektes in die Forschung« nach dem Zweiten Weltkrieg durch Victor von Weizsäcker gibt es wieder Konzepte, diese Einseitigkeit aufzulösen. Ausgehend von der Frage, warum bei vergleichbarer Belastung manche Menschen erkranken und andere nicht, wurde in den letzten Jahrzehnten der Einfluss des einzelnen Menschen auf den Krankheitsverlauf wieder deutlicher. Denn bereits die nahe liegende Frage, warum sich nicht alle Menschen in einem Bus anstecken, lässt ahnen, dass Faktoren im einzelnen Menschen wesentlich mitentscheiden, ob es zu einer Erkrankung kommt oder nicht. Die neueren Ergebnisse der Traumaforschung bestätigen dies: Ob ein Ereignis zu einer Traumatisierung führt oder nicht, hängt vor allem davon ab, über welche Konstitution und welche Bewältigungskräfte, sogenannte Ressourcen, der betroffene Mensch verfügt.
Solche wissenschaftlich untersuchten Ressourcen bzw. Schutzfaktoren sind (nach Ulrich T. Egle) zum Beispiel:
Bereits Viktor E. Frankl wies als KZ-Überlebender in seinem Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen darauf hin, dass diejenigen überlebten, die sich gedanklich auf eine andere Welt jenseits der KZ-Situation ausrichteten und daraus Hoffnung und Kraft zum Überleben zogen.
Aaron Antonowsky befasste sich systematisch mit diesen Fragen und beobachtete in den siebziger Jahren bei seinen Forschungen, dass ein kleiner Teil von Holocaust-Überlebenden sich besser mit dem Erlebten abzufinden vermochte. Er versuchte herauszufinden, was diesen Menschen half, gesund zu bleiben, und formulierte daraus seinen salutogenetischen (gesundheitsfördernden) Ansatz, in dessen Mittelpunkt der Kohärenzsinn (sense of coherence) steht.
Dieser Kohärenzsinn ist ein durchgängiges Lebensgefühl, das bereits bei jungen Menschen angelegt wird und sich als tragendes Fundament durch das ganze Leben zieht. Wichtige Elemente sind die Fähigkeit, frühere Erfahrungen positiv zu verarbeiten, Konfliktfähigkeit, die Fähigkeit, soziale Bezüge positiv zu gestalten, sowie das Gefühl, in soziale Gemeinschaften eingebunden zu sein.
Zum Kohärenzsinn gehört somit ein individuell gefundenes Wertesystem, aber eben auch die Fähigkeit zur aktiven Problembewältigung. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass zum Beispiel Manager, die einen hohen Kohärenzsinn haben, besser mit schwierigen Problemen und Rückschlägen umgehen können. Die anerkannte Fachzeitschrift American Psychologist veröffentlichte im Januar 2003 ein Themenheft, in dem wissenschaftliche Untersuchungen bestätigten, das regelmäßige Kirch- oder Gottesdienstbesucher ein niedrigeres allgemeines Erkrankungsrisiko haben und Religion oder Spiritualität – vermittelt durch eine gesündere Lebensweise – vor Gefäßerkrankungen schützt. Bereits 1989 nannte George Vaillant »die Teilnahme an spirituellen Vereinigungen« als eine wichtige Rückfall verhindernde Bedingung bei Alkoholabhängigen. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse bekommt das Bibelwort: »Dein Glauben hat dich geheilt« im Sinne der Ressourcenaktivierung eine aktualisierte Bedeutung. In diesem Buch sollen Kenntnisse vermittelt und Übungswege aufgezeigt werden, um unser geistiges Potenzial als Ressource für eine bessere Lebensqualität zu nutzen.
Wir Menschen sind alle um eine gewisse innere Ausgeglichenheit bemüht. Sicher und gelassen fühlen wir uns, wenn das, was wir erleben, mit dem im Einklang ist, was wir uns vorstellen und erwarten (siehe Abb. 2 auf Seite 32). Weicht das, was wir erleben, deutlich von unseren Erwartungen ab, entstehen innere Spannungen, die uns unangenehm sind. Daher suchen wir Wege, diese Spannungen zu vermindern.
Gelingt es uns nicht, durch Aktivitäten die Spannung aufzulösen, suchen wir nach anderen Wegen zur Spannungsminderung. Dabei können wir zum Beispiel stimmungsverändernde Stoffe zu uns nehmen (Alkohol, Medikamente, Drogen).
Eine anhaltende innere Spannung kann aber auch zu seelischen Symptomen (z. B. Ängsten, Depressionen, Zwängen oder impulsiven Handlungen) oder körperlichen Funktionsstörungen führen (z. B. Bauchkrämpfen, Atemnot, Schlafstörungen, Schwindel oder Schmerzen).
All diese Symptome gehen mit vermehrtem Stresserleben und entsprechenden körperlichen Veränderungen (z. B. Verschiebungen im vegetativen Nervensystem oder bei der Hormonausschüttung) einher. Bestehen diese Veränderungen dauerhaft, richtet sich der Körper darauf ein und die zunächst rückbildbaren funktionellen Störungen können zu Schäden der Körperstrukturen führen, die dann nicht immer völlig rückbildbar sind. Aus diesem Grunde ist es wichtig, langfristig bessere Lösungen zur Spannungsreduktion zu finden (siehe Abb. 2 auf Seite 32).
Dieses Spannungsfeld kann nun, wiederum durch Pole dargestellt, in zwei grundsätzlich unterschiedlichen Richtungen angegangen werden (siehe Abb. 3 auf Seite 33).
In der Regel wollen Menschen die Welt so, wie sie sie sich wünschen und denken, dass sie dann glücklich wären. Das liegt nahe und entspricht dem, was Jean Piaget ein alloplastisches Lösungsmodell nennt. Man macht sich die Welt passend oder – biblisch gesprochen – untertan.