Prolog I

Juli des Jahres 372 menschlicher Zeitrechnung

1

Die Axt greifen.

Ausholen.

Zuschlagen.

Mehr war es nicht, aber wenn er nicht vollkommen konzentriert bei der Sache blieb, traf der Axthieb nicht sein Ziel, und die harte Baumrinde ließ seine Arme mit einem heftigen Rückstoß abprallen. Nur wenn er Atmung, Rhythmus, Geschwindigkeit, Gewichtsverlagerung, jeden dieser Faktoren perfekt kontrollierte, traf die volle Wucht der schweren Axtklinge auf den Baumstamm und erzeugte einen wohltönenden, hellen Klang.

Obwohl er sich darüber im Klaren war, lief es in der praktischen Umsetzung nicht so wie geplant. Bald schon käme der zweite Sommer, seit Eugeo im Frühling seines zehnten Lebensjahrs diese Berufung verliehen worden war. Trotzdem gelang ihm solch ein perfekter Hieb höchstens in einem von zehn Fällen. Der alte Garitta, der ihn als sein Vorgänger den Umgang mit der Axt gelehrt hatte, hatte mit jedem Hieb getroffen und nie erschöpft gewirkt, egal wie oft er die schwere Axt geschwungen hatte. Eugeo dagegen wurden nach nur fünfzig Schwüngen die Hände taub, seine Schultern schmerzten, und er konnte die Arme nicht mehr heben.

»Drei…undvierzig! Vier…undvierzig!«, zählte er laut mit, um sich selbst anzufeuern, während er mit der Axt auf den riesigen Baumstamm schlug. Schweiß trübte ihm die Sicht und machte seine Handflächen rutschig, wodurch seine Trefferrate nur noch weiter sank. Halb verzweifelt packte er die Holzfälleraxt noch fester und legte das ganze Gewicht seines Körpers in den Schwung.

»Neun…undvierzig! Fünf…zig!«

Der letzte Hieb verfehlte sein Ziel und traf weit neben der tiefen Kerbe im Stamm mit einem unangenehmen metallischen Geräusch auf die Baumrinde. Der Rückstoß war so heftig, dass er Sterne sah. Erschöpft ließ Eugeo die Axt fallen, taumelte ein paar Schritte zurück und plumpste in das weiche Moos.

Schwer atmend saß er da, als er von rechts eine belustigte Stimme hörte: »Von den fünfzig Hieben hörten sich nur drei richtig an. Mal überlegen, das macht dann insgesamt 41, oder? Ich schätze mal, das Silalwasser geht heute auf dich, Eugeo.«

Die Stimme gehörte einem Jungen in seinem Alter, der ein kleines Stück weiter auf dem Boden lag. Eugeo konnte nicht gleich antworten, er griff im Sitzen nach seiner ledernen Feldflasche. Gierig trank er das inzwischen lauwarme Wasser und verschloss die Flasche wieder fest, als er sich endlich besser fühlte. Dann antwortete er: »Pah, du hast doch selbst auch erst 43 Treffer. Die hab ich im Nu aufgeholt. Los, du bist dran … Kirito.«

»Ja, ja.«

Kirito, Eugeos bester Freund aus Kindertagen und Partner bei dieser langweiligen Aufgabe seit dem Frühling des vergangenen Jahres, wischte sich die schweißnassen, schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, streckte beide Beine nach oben und schwang sich auf die Füße. Statt die Axt aufzuheben, stemmte er die Hände in die Hüften und sah nach oben. Eugeo folgte seinem Blick gen Himmel.

Der Sommerhimmel war im Juli erstaunlich blau, und von hoch oben fluteten die hellen Strahlen der Sonnengöttin Solus. Doch durch die ausladenden Äste des großen Baumes fiel fast kein Licht zu Eugeo und Kirito auf den Boden.

Der Baum verschlang mit seinen unzähligen Blättern unentwegt gierig den Segen der Sonnengöttin, während seine Wurzeln ununterbrochen die Gnade der Erdgöttin Terraria aufsogen. Die Kerbe, die Eugeo und Kirito so mühevoll in den Stamm schlugen, heilte sich stetig wieder von selbst. Egal wie sehr sie sich tagsüber anstrengten: Wenn sie nach einer Nacht am nächsten Morgen hierher zurückkamen, hatte der Baum die Kerbe vom Vortag zur Hälfte wieder gefüllt.

Mit einem kleinen Seufzer wandte Eugeo seinen Blick vom Himmel ab und wieder dem Baum zu.

Die Dorfbewohner nannten den Baum in der sakralen Sprache »Gigas Cedar«, was so viel bedeutete wie »gigantische Zeder«. Er war ein wahres Ungeheuer mit einem Stamm von vier Mer Durchmesser und mindestens siebzig Mer Höhe bis zu den obersten Ästen.

Selbst der Glockenturm der Kirche, des höchsten Gebäudes im Dorf, erreichte nur ein Viertel davon. Gegenüber Eugeo und Kirito, die in diesem Jahr endlich auf über anderthalb Mer gewachsen waren, wirkte der Baum wahrhaftig wie ein Gigant aus der Antike.

Wenn Eugeo auf die Kerbe im Stamm sah, fragte er sich unweigerlich, ob es nicht mit menschlichen Kräften ganz und gar unmöglich war, diesen Riesen zu fällen. Die keilförmige Kerbe hatte endlich eine Tiefe von fast einem Mer erreicht, aber der Stamm hatte noch dreimal so viel Dicke übrig.

Im Frühling vergangenen Jahres war er mit Kirito zusammen zum Dorfvorsteher beordert worden, der ihnen die Berufung als Kerber der Gigas Cedar verliehen hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er ihnen die ermüdend lange Geschichte des Baumes erzählt.

Lange bevor das Dorf Rulid errichtet worden war, hatte die Gigas Cedar schon ihre Wurzeln in dieser Gegend ausgebreitet. Seit der Zeit der ersten Siedler hatten die Dorfbewohner fortwährend mit der Axt den Stamm bearbeitet. Sein Vorgänger Garitta war der Kerber der sechsten Generation gewesen, womit Eugeo und Kirito also die siebte Generation waren. Die Dörfler hatten über dreihundert Jahre daran gearbeitet, diese Kerbe zu schlagen.

Dreihundert Jahre!

Für Eugeo, der damals gerade erst zehn Jahre alt geworden war, war das eine geradezu unvorstellbare Zeitspanne. Das hatte sich natürlich auch nach seinem elften Geburtstag nicht geändert. Er verstand lediglich, dass seit der Generation seiner Eltern, seiner Großeltern und auch den Generationen davor die Kerber unzählige Male die Axt geschwungen und so diese Kerbe von nicht einmal einem Mer Tiefe hervorgebracht hatten.

In feierlichem Tonfall hatte ihnen der Dorfvorsteher erklärt, warum der Riesenbaum so unbedingt gefällt werden musste.

Durch ihre riesige Gestalt und überbordende Lebenskraft raubte die Gigas Cedar der Umgebung in einem extrem weiten Umfeld den Segen sowohl der Sonnengöttin als auch der Erdgöttin. Wo der Schatten des Riesenbaumes hinfiel, trugen die gesäten Samen keine Früchte.

Dorf Rulid lag an der nördlichen Grenze des Nordreichs Norlangarth, einem der vier Kaiserreiche, in die die Menschenwelt unterteilt war. Mit anderen Worten, es war buchstäblich das Ende der Welt. Im Norden, Osten und Westen war es von steilen Gebirgshängen umgeben, sodass den Bewohnern nichts anderes übrig blieb, als den Wald im Süden zu roden, um die Felder- und Weidenflächen zu vergrößern. Da die Gigas Cedar jedoch am Waldrand ihre Wurzeln ausbreitete, war keine Weiterentwicklung des Dorfes möglich, bevor nicht etwas gegen diesen Störenfried unternommen wurde.

Allerdings war das Holz des Riesenbaumes so hart wie Eisen und rauchte nicht einmal, wenn es in Brand gesteckt wurde. Zudem streckten sich die Wurzeln ebenso tief ins Erdreich, wie der Baumwipfel nach oben ragte. Also benutzten die Dorfbewohner die Drachenknochenaxt, die ihnen von den Gründern hinterlassen worden war und selbst Eisen schneiden konnte, um eine Kerbe in den Stamm zu schlagen. Diese Berufung musste Generation für Generation weitergegeben werden …

Die Stimme des Dorfvorstehers hatte vor Bedeutungsschwere dieser Berufung gezittert, als er seine Erzählung beendet hatte. Eugeo hatte vorsichtig nachgefragt, ob man nicht einfach die Gigas Cedar ignorieren und den Wald weiter südlich roden könne. Da hatte der Dorfvorsteher ihnen mürrisch erklärt, dass das Fällen des Baumes der innigste Wunsch ihrer Vorfahren gewesen war und es im Dorf Brauch war, in jeder Generation zwei Kerber mit dieser Berufung zu betrauen. Daraufhin hatte Kirito mit nachdenklichem Gesicht gefragt, warum ihre Vorfahren überhaupt an diesem Ort ein Dorf errichtet hatten. Für einen Moment hatten dem Dorfvorsteher die Worte gefehlt, bevor er sowohl Kirito als auch Eugeo mit der geballten Faust einen Schlag auf den Kopf verpasst hatte.

In den vergangenen fünfzehn Monaten waren die beiden also abwechselnd mit der Drachenknochenaxt die Gigas Cedar angegangen. Doch ihre Axtschwünge waren wohl noch zu ungeübt, um die Kerbe in dem dicken Stamm merklich zu vertiefen. Wahrscheinlich war es auch nicht wirklich verwunderlich, dass zwei Kinder innerhalb eines Jahres keinen großen Fortschritt erreichten, wenn es dreihundert Jahre gebraucht hatte, um die bisherige Kerbe zu schlagen. Dennoch war es extrem frustrierend, kein Erfolgserlebnis bei der Arbeit zu haben.

Wenn sie wollten, konnten sie sich jederzeit nicht nur durch bloßen Augenschein, sondern in einer noch deutlicheren Form von dieser deprimierenden Tatsache überzeugen.

Kirito, der neben ihm stumm die Gigas Cedar anstarrte, schien das Gleiche zu denken. Er ging schnell zum Stamm hinüber und streckte die linke Hand danach aus.

»Hey, lass das, Kirito. Der Dorfvorsteher hat dir doch verboten, ständig auf die Lebensspanne des Baums zu gucken«, rief ihm Eugeo nervös zu.

Kirito drehte sich mit seinem gewohnt frechen Grinsen zu ihm um und erwiderte gespielt unschuldig: »Das letzte Mal habe ich vor zwei Monaten geguckt. Das ist nicht ständig, nur gelegentlich mal.«

»Du bist echt unverbesserlich … Warte, lass mich auch sehen.«

Eugeos Atmung hatte sich endlich wieder beruhigt. Er schwang sich wie Kirito auf die Füße und lief zu seinem Freund.

»Bist du bereit? Ich öffne es jetzt«, sagte Kirito leise. Er streckte Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand aus und zog die anderen Finger ein. Dann zeichnete er die Form einer gewundenen Schlange in die Luft. Es war eine stark vereinfachte Version des Symbols der Göttin der Schöpfung.

Nachdem er das Symbol gezeichnet hatte, tippte Kirito ohne zu zögern mit den Fingerspitzen auf den Stamm der Gigas Cedar. Es ertönte nicht das trockene Knacken, das eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern ein heller, leiser Klang, als hätte man auf Tafelsilber geschlagen. Dann erschien ein kleines, leuchtendes Fenster, das aus dem Inneren des Stammes hervorzukommen schien.

Allem, was zwischen Himmel und Erde existierte, gleich ob beweglich oder unbeweglich, wurde von der Schöpfungsgöttin Stacia eine »Lebensspanne« verliehen. Insekten und Wiesenblumen erhielten nur eine kurze, Katzen und Pferde eine längere, und Menschen wurde eine noch weitaus größere Lebensspanne gewährt. Die Bäume im Wald und die moosbewachsenen Felsen hatten eine noch um ein Vielfaches längere als die Menschen. Die Lebensspanne aller Existenzen wuchs vom Moment des Entstehens bis zu einem bestimmten Zeitpunkt an, erreichte ihren Zenit und nahm dann wieder ab. Wenn die Lebensspanne schließlich erschöpft war, taten Menschen und Tiere ihren letzten Atemzug, Pflanzen verdorrten, und Felsen verwitterten.

Die verbliebene Lebensspanne wurde in einem »Stacia-Fenster« in sakraler Schrift angezeigt. Jeder mit der gebührenden sakralen Kraft konnte es durch das Zeichnen des Symbols und Antippen des Objekts aufrufen. Die Fenster von Dingen wie Kieselsteinen oder Gras konnte fast jeder aufrufen, bei Tieren wurde es schon schwieriger. Die Fenster von Menschen konnten ohne ausreichend Kraft für ein elementares Studium der sakralen Künste nicht geöffnet werden. Zudem war es natürlich furchterregend, sein eigenes Fenster anzusehen.

Für gewöhnlich waren die Fenster von Bäumen einfacher zu sehen als die der Menschen, doch bei der dämonischen Gigas Cedar war der Schwierigkeitsgrad so hoch, dass Eugeo und Kirito das Fenster erst seit einem halben Jahr aufrufen konnten.

Man erzählte sich, dass es dem Meister der Sakral-Künste, der den Rang des Senators der zentralen Axiom-Kirche in der Zentralstadt Centoria innehatte, nach einem sieben Tage und sieben Nächte dauernden Ritual gelungen war, das Fenster der Erdgöttin Terraria selbst aufzurufen. Doch beim ersten Blick auf die Lebensspanne der Erde war der Meister in Panik verfallen und hatte den Verstand verloren, dann war er irgendwohin verschwunden.

Seit Eugeo davon gehört hatte, hatte er nicht nur etwas Angst davor, sein eigenes Fenster anzusehen, sondern auch die von großen Objekten wie der Gigas Cedar. Doch Kirito kümmerte sich nicht darum. Gerade näherte er sein Gesicht in freudiger Erwartung dem leuchtenden Fenster. Obwohl Kirito sein bester Freund war, konnte Eugeo ihn manchmal nicht ganz begreifen. Aber am Ende gewann die Neugier, und er lugte ebenfalls von der Seite auf das Fenster.

In dem blassviolett leuchtenden, rechteckigen Fenster reihten sich seltsame Zeichen aus geraden und gekrümmten Linien aneinander. Es war die sakrale Schrift des Altertums, von der Eugeo lediglich die Zahlen lesen konnte. Die Zeichen zu schreiben, war verboten.

»Hmm …« Eugeo ging die Zahlen eine nach der anderen mit dem Finger durch. »235…542.«

»Ja … wie viel war es vorletzten Monat?«

»Ich glaube … etwa 235.590.«

Als Kirito das hörte, hob er in einer übertriebenen Geste die Hände und fiel auf die Knie. Dann raufte er sich die Haare. »Nur fünfzig?! Wir haben uns zwei Monate lang abgerackert und nur fünfzig von über 230.000 geschafft! So werden wir es im Leben nicht schaffen, den Baum zu fällen!«

»Na, das ist doch auch unmöglich«, antwortete Eugeo nur mit einem gequälten Grinsen. »Vor uns haben schon sechs Generationen von Kerbern dreihundert Jahre lang daran gearbeitet, und sie haben nur ein Viertel geschafft … Grob überschlagen wird es, mal überlegen … wohl noch neunhundert Jahre dauern.«

»Du bist doch echt ein …«

Den Kopf in die Hände gestützt starrte Kirito zu ihm hoch, dann packte er ihn plötzlich an den Beinen. Eugeo verlor durch den Überraschungsangriff das Gleichgewicht und fiel rücklings in das weiche Moos.

»Warum bist du immer so ein Streber!? Überleg dir lieber mal, was wir gegen diese unfaire Aufgabe machen können!«, sagte Kirito gespielt ärgerlich, aber mit einem breiten Grinsen, während er rittlings auf Eugeo saß und ihm die Haare zerzauste.

»Hey, was soll das denn?!« Eugeo packte seinen Freund an den Handgelenken und zog ruckartig daran. Als sich Kirito dagegen stemmte, nutzte Eugeo den Schwung, um mit einer halben Drehung obenauf zu kommen.

»Das kriegst du zurück!«, rief er lachend und zog mit seinen schmutzigen Händen an Kiritos Haaren. Im Gegensatz zu seinem weichen, flachsfarbenen Schopf standen Kiritos schwarze Haare eigenwillig vom Kopf ab, was den Angriff nicht besonders sinnvoll machte. Notgedrungen ging er zu einer Kitzelattacke über.

»Uargh, du … das ist u… unfair …!«, japste Kirito außer Atem und strampelte wild.

Eugeo drückte ihn zu Boden und kitzelte ihn nur noch mehr, als plötzlich hinter ihm eine spitze Stimme rief: »Hey! Ihr macht ja schon wieder blau!«

Augenblicklich stoppten Eugeo und Kirito mitten in ihrer Rangelei.

»Urgs …«

»Au backe …«

Beide zogen die Köpfe ein und wandten sich der Stimme zu.

Auf einem Felsen ein Stück entfernt stand eine Person, die ihre Hände in die Hüften gestemmt hatte und sich in die Brust warf. Eugeo grinste angespannt und sprach sie an: »Oh … hi, Alice. Du bist aber früh dran heute.«

»Bin ich nicht. Es ist die gleiche Zeit wie sonst auch.«

Die Person beugte sich vor, wobei ihr langes, zusammengebundenes Haar selbst in dem wenigen Licht, das durch den Baumwipfel fiel, in einem hellen Gold glänzte. Das Mädchen, das jetzt leichtfüßig vom Felsen sprang, trug eine weiße Schürze über einem strahlend blauen Kleid. In ihrer rechten Hand hielt sie einen großen Weidenkorb.

Ihr Name war Alice Zuberg. Sie war die Tochter des Dorfvorstehers und wie Eugeo und Kirito elf Jahre alt.

In Rulid oder vielmehr dem gesamten nördlichen Grenzland war es Brauch, dass allen Kindern im Frühling ihres zehnten Lebensjahres eine »Berufung« verliehen wurde, für die sie dann in die Lehre gingen. Alice war die einzige Ausnahme und besuchte weiterhin die Schule der Kirche. Da sie von allen Dorfkindern als Begabteste im Umgang mit den sakralen Künsten galt, erhielt sie Privatunterricht von Schwester Azalia, um ihr Talent zu fördern.

Doch auch mit ihrem angeborenen Talent und als Tochter des Dorfvorstehers war Rulid kein so wohlhabendes Dorf, dass man ein Mädchen von elf Jahren den ganzen Tag nur lernen lassen konnte. Jeder, der dazu in der Lage war, musste mitarbeiten, um die Feldfrüchte und Nutztiere fortwährend vor Dürren, Dauerregen und Schädlingen – kurzum, den Streichen des dunklen Gottes Vector – zu schützen, damit alle Dorfbewohner die strengen Winter überstehen konnten.

Eugeos Familie besaß ein Getreidefeld auf dem urbar gemachten Land südlich des Dorfes. Sein Vater Orick war Bauer wie schon Generationen vor ihm. Er gab zwar vor, sich darüber zu freuen, dass sein drittältester Sohn Eugeo als Kerber der Gigas Cedar ausgewählt worden war, aber innerlich bedauerte er es. Natürlich wurde Eugeo als Kerber aus den Geldmitteln des Dorfes bezahlt, doch das änderte nichts daran, dass sein Vater einen Arbeiter weniger hatte, um das Feld zu bestellen.

Traditionsgemäß wurde dem ältesten Sohn einer Familie die gleiche Berufung wie dem Vater verliehen. In den Bauernfamilien traten grundsätzlich auch die Töchter und jüngeren Söhne in dessen Fußstapfen. Das Kind eines Händlers wurde Händler, die Nachkommen von Wachen übernahmen die Bewachung, und das Kind des Dorfvorstehers erbte dessen Position. Rulid hatte diese Tradition seit der Gründung des Dorfes vor Hunderten von Jahren nahezu unverändert bewahrt. Die Erwachsenen sagten, dass eben dies dem Dorf den Schutz der Göttin Stacia sicherte, doch Eugeo hatte seine Zweifel daran, auch wenn er sie nicht in Worte fassen konnte.

Er war sich nicht sicher, ob die Erwachsenen das Dorf nun vergrößern oder alles beim Alten lassen wollten. Wenn sie wirklich das Ackerland erweitern wollten, hätte man auch einen kleinen Umweg um diesen lästigen Baum machen und den Wald weiter im Süden roden können. Doch offenbar kam nicht einmal der Dorfvorsteher, der von ihnen der Weiseste sein sollte, auf die Idee, die Vielzahl an alten Traditionen zu überdenken.

Daher blieb Rulid immer ein armes Dorf, ganz gleich, wie viel Zeit ins Land ging. Selbst Alice als Tochter des Dorfvorstehers konnte nur am Vormittag lernen. Nachmittags musste sie sich um das Vieh kümmern oder das Haus putzen. Und ihre erste Aufgabe des Tages war es, Eugeo und Kirito ihr Mittagessen zu bringen.

Mit dem Korb an ihrem Arm sprang Alice behände von dem großen Felsen. Mit ihren tiefblauen Augen blickte sie streng auf Eugeo und Kirito, die ihre Rangelei unterbrochen hatten. Bevor ihr kleiner Mund wieder anfing zu schimpfen, richtete sich Eugeo rasch auf und schüttelte leicht den Kopf.

»Wir machen gar nicht blau! Wir sind mit der Arbeit für den Vormittag schon fertig!«, rechtfertigte er sich hastig, und Kirito pflichtete ihm eifrig bei.

Alice bedachte die beiden mit einem weiteren scharfen Blick, dann seufzte sie resigniert.

»Wenn ihr nach der Arbeit noch genug Kraft habt, euch zu prügeln, sollte ich Garitta vielleicht Bescheid sagen, dass er eure Schläge pro Tag erhöhen soll.«

»Alles, nur das nicht!«

»Nur ein Witz. Kommt, lasst uns schnell essen. Heute ist es so warm. Wir sollten essen, bevor es verdirbt.«

Alice stellte den Korb auf dem Boden ab und holte ein großes weißes Tuch heraus, das sie aufschlug und an einer ebenen Stelle ausbreitete. Schnell zog sich Kirito die Schuhe aus und sprang auf das Tuch, gefolgt von Eugeo. Vor den beiden hungrigen Arbeitern wurde eine Speise nach der anderen aufgereiht.

Das heutige Menü bestand aus Pasteten gefüllt mit gepökeltem Fleisch und Bohnen, dünn geschnittenen Scheiben Schwarzbrot belegt mit Käse und Räucherfleisch, verschiedenen Sorten Trockenfrüchte und diesen Morgen frisch gemolkener Milch. Abgesehen von der Milch waren es haltbare Speisen, aber die sengende Julisonne raubte dem Essen erbarmungslos »Leben«.

Kirito und Eugeo wollten sich schon auf das Essen stürzen, doch Alice hielt sie zurück wie Hunde, die man nur auf Kommando fressen ließ. Schnell zeichnete sie ein Symbol in die Luft und überprüfte die Fenster der Speisen nacheinander, angefangen mit der Milch im Tonkrug.

»Oha, die Milch hält nur noch zehn Minuten und die Pastete fünfzehn. Dabei bin ich so gerannt … Also beeilt euch ein bisschen beim Essen. Aber vergesst nicht, ordentlich zu kauen.«

Essen, dessen Lebensspanne abgelaufen war, war verdorben. Schon ein Bissen verursachte jedem, der keinen unempfindlichen Magen hatte, sofort Bauchschmerzen und andere Symptome. Kirito und Eugeo wünschten sich hastig einen guten Appetit und bissen in ihre großen Stücke der Pastete.

Für eine Weile aßen sie nur schweigend. Nicht nur die beiden ausgehungerten Jungen, sondern auch Alice langte mit einem für ihren schmalen Körperbau überraschend gesunden Appetit zu. Zuerst verschwanden die drei Pastetenstücke, dann wurden die neun Schwarzbrote mit einem Krug Milch hinuntergespült. Erst dann seufzten die drei zufrieden.

»Wie hat es euch geschmeckt?«, fragte Alice mit einem Seitenblick zu Eugeo, der so ernsthaft wie möglich antwortete: »Die Pastete heute war lecker. Du bist echt viel besser geworden, Alice.«

»Findest du? Ich habe das Gefühl, dass noch irgendetwas fehlt.«

Während Alice beschämt zur Seite sah, warf Eugeo Kirito einen kurzen Blick zu, und sie grinsten sich verstohlen an. Angeblich bereitete Alice seit letztem Monat die Lunchpakete für die beiden zu, doch es war offensichtlich, wann sie dabei Hilfe von ihrer Mutter Sadina erhielt und wann nicht. Keine Fähigkeit konnte ohne lange Jahre der Übung gemeistert werden – aber Eugeo und Kirito waren inzwischen klug genug, das nicht laut auszusprechen.

»Allerdings«, sagte Kirito, während er eine gelbe Marigo aus dem Behälter mit den Trockenfrüchten griff, »würde ich so ein leckeres Essen schon gern in Ruhe essen. Wieso wird das Essen gleich schlecht, wenn es heiß ist?«

»Wieso …?«, schnaubte Eugeo und zuckte übertrieben mit den Schultern. »Du redest vielleicht komisches Zeug. Weil sich im Sommer eben von allem die Lebensspanne schneller verkürzt. Fleisch, Fisch, Gemüse, Früchte – alles verdirbt, wenn man’s stehen lässt.«

»Ja, aber wieso? Im Winter kann man rohes, gepökeltes Fleisch draußen lagern, und es hält sich mehrere Tage.«

»Na, weil … es im Winter kalt ist«, erwiderte Eugeo, worauf Kirito wie ein trotziges Kind den Mund verzog. In seinen für die nördliche Region ungewöhnlich dunklen Augen blitzte es provokativ.

»Genau! Das Essen hält länger, weil es kalt ist, und nicht, weil Winter ist. Wenn man das Essen also kalt halten würde, müssten unsere Lunchpakete auch im Sommer länger halten.«

Jetzt hatte Eugeo die Nase voll und trat Kirito leicht vors Schienbein.

»Du sagst das so, als sei nichts dabei. Wie willst du es kalt halten, wenn es im Sommer nun mal heiß ist? Willst du’s etwa mit einer verbotenen Wettermanipulation schneien lassen? Dann stehen morgen gleich die Integrationsritter aus Centoria auf der Matte und nehmen dich mit.«

»Hmm, ich frage mich, ob es da keinen einfacheren Weg gibt …«, murmelte Kirito und zog eine Grimasse.

Da fiel ihm Alice ins Wort, die bisher still ihren langen Zopf um den Finger gewickelt hatte. »Interessant.«

»Fang du nicht auch noch an, Alice.«

»Ich sage doch nicht, dass wir die verbotene Kunst benutzen sollten. Man müsste schließlich nicht gleich das gesamte Dorf einfrieren. Es würde doch reichen, wenn es nur im Korb kalt wäre, oder?«

Was sie sagte, war eigentlich ganz selbstverständlich. Eugeo und Kirito sahen sich an und nickten beide gleichzeitig. Mit unbeteiligter Miene fuhr Alice fort: »Es gibt vieles, das auch im Sommer kalt ist. Wasser aus einem tiefen Brunnen zum Beispiel oder Silve-Blätter. Wenn man so etwas mit in den Korb packen würde, müsste das Innere doch kühl halten?«

»Oh … stimmt«, sagte Eugeo und grübelte mit verschränkten Armen.

Mitten auf dem Platz vor der Kirche war ein sehr tiefer Brunnen, der zur Zeit der Gründung von Rulid gegraben worden war. Das Wasser aus diesem Brunnen war selbst im Sommer so kalt, dass einem die Hände wehtaten. Und die Blätter der seltenen Silve-Bäume in den nördlichen Wäldern gaben einen stechenden Geruch ab und wurden kalt, wenn sie gepflückt wurden. Daher wurden sie als Heilmittel bei Prellungen geschätzt. In der Tat schien es möglich, das Lunchpaket beim Transport kühl zu halten, wenn man einen Krug mit dem Brunnenwasser füllen und die Pasteten in die Blätter wickeln würde.

Doch Kirito, der ebenfalls kurz darüber nachgedacht hatte, schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, das allein wird wahrscheinlich nicht reichen. Das Brunnenwasser wird schon eine Minute nach dem Schöpfen lauwarm, und die Silve-Blätter sind nur ein bisschen kühl. Ich glaube nicht, dass man den Korbinhalt damit von Alice’ Haus bis zur Gigas Cedar kühl halten könnte.«

»Und welche Möglichkeit soll es sonst geben?«, fragte Alice schmollend, weil ihre gute Idee so heruntergemacht wurde.

Kirito fuhr sich schweigend durchs Haar, dann murmelte er: »Eis. Mit genug Eis könnte man das Lunchpaket kühlen.«

»Also weißt du …« Alice schüttelte demonstrativ den Kopf, um ihren Überdruss zu verdeutlichen. »Es ist Sommer. Wo willst du denn jetzt Eis herbekommen? Nicht einmal auf dem großen Markt in der Zentralstadt gibt es welches«, belehrte sie ihn wie eine Mutter ihr unverständiges Kind.

Eugeo dagegen hatte eine bange Vorahnung und sah Kirito nur stumm an. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass sich sein Freund meist irgendeinen Unfug ausgedacht hatte, wenn er dieses Leuchten in den Augen hatte und so redete. Er erinnerte sich noch gut, wie sie einmal bis zu den Bergen im Osten gereist waren, um Honig von Kaiserbienen zu holen, oder wie sie im Kellergewölbe der Kirche einen Krug mit Milch zerbrochen hatten, deren Lebensspanne vor hundert Jahren abgelaufen war.

»Na ja, ist doch egal, wir essen einfach schnell auf. Außerdem müssen wir so langsam mit der Nachmittagsschicht anfangen, sonst kommen wir wieder erst spät nach Hause«, versuchte Eugeo das beunruhigende Thema zu beenden, während er schnell die leeren Teller in den Korb räumte. Doch als er das abenteuerlustige Glitzern in Kiritos Augen sah, wusste er mit Gewissheit, dass seine Befürchtung sich bewahrheitete.

»Also, was ist dir dieses Mal wieder eingefallen?«, fragte er resigniert.

Kirito grinste und antwortete: »Hey … erinnert ihr euch noch an die Geschichte, die uns Eugeos Großvater mal vor Ewigkeiten erzählt hat?«

»Hm …?«

»Welche Geschichte …?«, fragte auch Alice verwundert.

Eugeos Großvater, der vor zwei Jahren seine Lebensspanne vollendet hatte und zur Göttin Stacia gerufen worden war, hatte die verschiedensten Sagen und Märchen hinter seinem weißen Bart verwahrt. Während er gemütlich in seinem Schaukelstuhl im Garten gewippt hatte, hatte er den drei Kindern zu seinen Füßen die eine oder andere davon erzählt. Er hatte Hunderte von Geschichten gekannt, seltsame, aufregende oder auch gruselige, und Eugeo konnte beim besten Willen nicht sagen, welche davon Kirito nun meinte. Sein schwarzhaariger Freund räusperte sich und hielt einen Finger hoch.

»Es gibt doch nur eine über Eis im Sommer. ›Bercouli und der weiße …‹«

»Jetzt hör aber auf, das ist doch wohl ein Witz!«, unterbrach ihn Eugeo kopfschüttelnd und winkte vehement mit beiden Händen ab.

Es hieß, Bercouli sei unter allen Gründern von Rulid der fähigste Schwertkämpfer gewesen, und er war der erste Hauptmann der Wache gewesen. Da er vor dreihundert Jahren gelebt hatte, waren nur mündliche Überlieferungen seiner unzähligen Heldengeschichten geblieben, und Kirito hatte auf die fantastischste davon angespielt.

Eines Tages im Hochsommer bemerkte Bercouli einen großen, transparenten Stein, der im Fluss Rul östlich vom Dorf auf und ab trieb. Als er den Stein aufhob, erkannte er zu seiner Überraschung, dass es ein Eisklumpen war. Verwundert folgte Bercouli dem Fluss stromaufwärts, bis er am Grenzgebirge ankam. Dort folgte er einem schmaleren Wasserlauf. Schließlich gelangte er an den Eingang einer riesigen Höhle.

Ein eisiger Wind wehte ihm entgegen, als Bercouli in die Höhle trat. Er überwand viele Gefahren und erreichte endlich einen großen Raum am tiefsten Punkt der Höhle. Dort erblickte er einen imposanten weißen Drachen, von dem man sagte, er würde die Grenzen der Menschenwelt schützen. Der Drache hatte sich auf einem Berg aus unzähligen Schätzen zusammengerollt. Als Bercouli bemerkte, dass der Drache zu schlafen schien, schlich er sich kühn näher heran. Da entdeckte er inmitten der Schätze ein prächtiges Langschwert und musste es unbedingt haben. Vorsichtig nahm er das Schwert, um den Drachen nicht zu wecken, und wollte sich gerade aus dem Staub machen – so die Geschichte in groben Zügen. Der Titel dieser Geschichte war »Bercouli und der weiße Drache des Nordens«.

Selbst ein Schelm wie Kirito konnte unmöglich beabsichtigen, die Gebote des Dorfes zu brechen und den Nordpass zu überqueren, um einen echten Drachen zu suchen. So hoffte Eugeo inständig, als er unsicher fragte: »Also willst du die Rul beobachten und darauf warten, dass Eis vorbeitreibt …?«

Aber Kirito schnaubte und sagte leichthin: »Wenn wir darauf warten, ist vorher der Sommer vorbei. Ich will nicht Bercouli nachahmen und den weißen Drachen finden. Laut der Geschichte sollen gleich hinter dem Eingang riesige Eiszapfen von der Höhlendecke hängen. Zwei oder drei davon sollten reichen, um es zu testen.«

»Ja, aber …«, stammelte Eugeo und sah sprachlos zu Alice, in der Hoffnung, dass sie diesen Draufgänger zurechtweisen würde. Dann sah er das ungewöhnliche Leuchten in ihren blauen Augen und ließ innerlich entmutigt die Schultern hängen.

Zu ihrem Missfallen wurden Eugeo und Kirito als größte Lausebengel des Dorfes angesehen und von den Alten täglich mit Stoßseufzern, Ermahnungen und Tadeln bedacht. Nur wenige wussten, dass die Musterschülerin Alice sie im Hintergrund heimlich zu ihren zahlreichen Untaten anstiftete.

Die legte jetzt einen Finger an die gespitzten Lippen und schwieg einen Moment nachdenklich, dann blinzelte sie einmal und verkündete dann: »Keine schlechte Idee.«

»Also, weißt du, Alice …«

»Es ist zwar verboten, dass wir Kinder allein den Gebirgspass überqueren. Aber erinnert euch mal an die genaue Formulierung. Die Regel lautet: ›Ohne die Begleitung eines Erwachsenen dürfen Kinder den Gebirgspass nicht zum Spielen überqueren.«

»Äh … war das so?«, sagte Eugeo und wechselte einen Blick mit Kirito.

Die Gebote des Dorfes, offiziell als »Richtlinien für die Dorfgemeinde von Rulid« bezeichnet, waren auf einer verstaubten, zwei Cen dicken Sammlung von Pergamenten aus Schafsleder niedergeschrieben, die im Haus des Dorfvorstehers verwahrt wurde. Wenn die Kinder anfingen, in die Schule der Kirche zu gehen, wurden ihnen als Erstes diese Gebote eingebläut. Auch danach ließen ihre Eltern und die Älteren keine Gelegenheit aus, um ihnen mit »In den Geboten steht dieses« und »Laut der Gebote jenes« in den Ohren zu liegen. Jetzt, wo sie elf Jahre alt waren, hatten die Gebote sich ihnen gründlich eingebrannt – zumindest hatten sie das geglaubt, aber Alice hatte allem Anschein nach sogar den exakten Wortlaut sämtlicher Gebote auswendig gelernt.

Sie hat doch wohl nicht auch noch das Grundgesetzbuch des Kaiserreichs, das doppelt so dick ist wie die Gebote des Dorfes … oder das Ding, das sogar noch umfangreicher ist …, überlegte Eugeo und taxierte Alice mit einem starren Blick, bis sie sich räusperte und in belehrendem Ton fortfuhr: »Versteht ihr? Das Gebot untersagt uns, zum Spielen hinzugehen. Aber die Suche nach Eis wäre kein Spiel. Wenn dadurch die Lunchpakete länger haltbar gemacht werden, helfen wir damit nicht nur uns, sondern allen Arbeitern auf den Feldern und Viehweiden, oder nicht? Also sollte das als Teil unserer Arbeit interpretiert werden.«

Nach dieser eloquenten Rede wechselten Eugeo und Kirito erneut einen Blick. Das anfängliche Zögern, das er in den dunklen Augen seines Freundes erkannte, schmolz bald dahin wie das Eis im sommerlichen Fluss.

»Ja, genau. Du hast vollkommen recht!«, stimmte er mit ernstem Gesicht und verschränkten Armen zu. »Und weil es Arbeit ist, ist es auch kein Verstoß gegen das Gebot, wenn wir über den Pass zum Grenzgebirge gehen. Sogar der alte Barbossa sagt das ständig. ›Arbeit heißt nicht nur, die befohlenen Pflichten auszuführen, sondern sich eigenständig Aufgaben zu suchen, wenn man Zeit hat.‹ Wenn wir Ärger kriegen, berufen wir uns einfach darauf.«

Die Barbossas waren eine reiche Bauernfamilie, die das größte Getreidefeld in Rulid besaßen. Das Familienoberhaupt Nigel Barbossa war ein breitschultriger Mann um die fünfzig, der offenbar noch nicht zufrieden damit war, dass seine Ernte die der meisten anderen Bauern im Dorf um ein Vielfaches überstieg. Jedes Mal, wenn er Eugeo auf der Straße traf, stichelte er: »Na, hast du diese verdammte Zeder immer noch nicht gefällt?« Gerüchten zufolge hatte er beim Dorfvorsteher bereits ein Vorrecht auf das Land eingefordert, das mit der Fällung der Gigas Cedar urbar gemacht werden würde. Eugeo dachte bei diesen Begegnungen immer bei sich: Deine Lebensspanne wird schon lange vorher erschöpft sein.

Die Worte des alten Nigel als Entschuldigung vorzuschieben, wenn sie für ihre Überquerung des Gebirgspasses Ärger bekämen, war ein sehr verlockender Gedanke. Aber Eugeo übernahm seit jeher die Rolle des Vernünftigen in ihrer Dreiergruppe und konnte nicht anders, als Einspruch zu erheben.

»Aber zum Grenzgebirge zu gehen, verstößt nicht nur gegen die Gebote des Dorfes … sondern auch gegen Ihr-wisst-schon-was. Auch wenn wir den Pass überqueren, dürfen wir nur bis zum Fuß der Berge, aber nicht in die Höhle …«

Bei diesen Worten sahen Alice und Kirito zumindest ein wenig ernüchtert aus.

Mit dem von Eugeo erwähnten »Ihr-wisst-schon-was« waren weder die Gemeinde-Richtlinien von Rulid noch die Grundgesetze des Kaiserreichs Norlangarth gemeint, sondern die absolut unumstößlichen Gesetze, die mit noch weitaus größerer Autorität das gesamte Volk der großen Menschenwelt beherrschten – der »Tabu-Index«.

Proklamiert wurde dieser Index von der Axiom-Kirche, die ihren Sitz in der Zentralstadt Centoria in einem hohen Turm hatte, der fast bis zum Himmel reichte. Nicht nur im Nordreich, wo Eugeo und die anderen lebten, sondern auch in den Kaiserreichen im Osten, Süden und Westen waren jede Stadt und jedes Dorf mit einem Exemplar dieser in schneeweißes Leder gebundenen Wälzer ausgestattet.

Im Gegensatz zu den Dorfgeboten und Gesetzen des Kaiserreichs waren im Tabu-Index, wie der Name schon sagte, ausschließlich verbotene Handlungen aufgelistet. Es umfasste weit über tausend Einträge, angefangen mit solchen universalen Tabus wie »Auflehnung gegen die Kirche«, »Mord« und »Diebstahl« bis hin zu Unterpunkten wie Obergrenzen für die Jagd nach Tieren und Fischen oder auch Futter, das nicht an die Nutztiere verfüttert werden durfte. Natürlich lehrten die Schulen den Kindern auch das Schreiben und Rechnen, aber das Hauptaugenmerk lag darauf, ihnen den gesamten Tabu-Index einzuschärfen. Tatsächlich war es sogar per Tabu verboten, den Index nicht an der Schule zu unterrichten.

Trotz der absoluten Autorität des Tabu-Index und der Axiom-Kirche gab es offenbar auch Orte, an die sich ihr Einfluss nicht erstreckte. Hinter dem Grenzgebirge, das die Menschenwelt umgab, lag das Reich der Finsternis – das in der sakralen Sprache »Dark Territory« genannt wurde. Daher war das Verbot, in das Grenzgebirge zu gehen, im Index recht weit oben aufgeführt. Und das war der unumstößliche Grund, dass sie nur bis zum Fuß der Berge, nicht aber in die Höhle gehen konnten, wie Eugeo angemerkt hatte.

Selbst Alice würde nicht gegen den Tabu-Index verstoßen wollen, immerhin war schon der Gedanke daran ein schwerwiegendes Tabu. Eugeo starrte seine Freundin an.

Alice dachte für einen Moment still nach, wobei sie ihre langen Wimpern wie feine, goldene Fäden im Sonnenlicht flirren ließ. Schließlich hob sie ruckartig den Kopf, und in ihren Augen blitzte es provokativ.

»Eugeo. Du hast dir das Verbot schon wieder falsch eingeprägt.«

»Wie …? Qu… Quatsch.«

»Kein Quatsch. Paragraph 1, Absatz 3, Satz 11 vom Tabu-Index besagt: ›Niemand darf das Grenzgebirge um die Menschenwelt überqueren.‹ Aber mit ›überqueren‹ ist natürlich gemeint, über den Berg zu steigen. Das schließt nicht das Betreten der Höhle ein. Wir wollen ja gar nicht auf die andere Seite des Gebirges, sondern Eis holen. Und nirgendwo im Tabu-Index steht: ›Du darfst im Grenzgebirge nicht nach Eis suchen.‹«

Aber bis jetzt sind wir immer nur bis zu den Zwillingsteichen an der Rul weit vor dem Nordpass gegangen. Wir kennen die Wege dahinter nicht, und um diese Jahreszeit sind am Flussufer die ganzen nervigen Insekten …, überlegte Eugeo immer noch zögerlich, als Kirito ihm gerade so kräftig auf den Rücken schlug, dass sich seine Lebensspanne nicht verkürzte, und rief: »Siehst du, Eugeo, Alice lernt mehr als alle anderen im Dorf, wenn sie das sagt, ist es auch so! Dann ist es entschieden. Am nächsten freien Tag gehen wir den weißen Drach… ich meine, die Eishöhle suchen!«

»Dann sollte ich unseren Proviant wohl besser aus Zutaten zubereiten, die lange halten.«

Eugeo sah seine beiden Freunde an, deren Gesichter vor Aufregung glühten. Mit einem tiefen, innerlichen Seufzer stimmte er müde zu: »Okay.«