Kann ein Duft Geschichte aufbewahren? Zwei Parfums, das französische Chanel Nº 5 und das sowjetische Rotes Moskau, liefern Karl Schlögel den Stoff, die europäischen Abgründe des 20. Jahrhunderts aus ungewohnter Perspektive zu erzählen. Durch die Turbulenzen der Revolution gelangte die Formel für einen Duft, der zum 300. Kronjubiläum der Romanows kreiert worden war, nach Frankreich. Er lieferte die Grundlage für Coco Chanels Nº 5 und für sein sowjetisches Pendant, das bis heute unter dem Namen Rotes Moskau produziert wird. Verantwortlich für die Parfumindustrie war Polina Shemtschushina, Frau des Außenministers Molotow. Sie fiel später einer Säuberungskampagne zum Opfer, während Coco Chanel mit den deutschen Besatzern kollaborierte. Ein unscheinbarer Zufall führt Karl Schlögel zu Entdeckungen, die unsere Vorstellung vom »Zeitalter der Extreme« um erstaunliche Details bereichern.
KARL SCHLÖGEL
DER DUFT DER IMPERIEN
Chanel No5 und Rotes Moskau
Carl Hanser Verlag
In memoriam
Karl Lagerfeld
(1933–2019)
INHALT
Eine außerplanmäßige Recherche
Der Duft des Imperiums oder wie aus dem »Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina II.« von 1913 nach der Russischen Revolution Chanel No 5 und das sowjetische Parfum Rotes Moskau werden
Geruchslandschaften. Prousts Madeleine und die Geschichtsschreibung
Wenn »das schwächste Glied in der Kette des Imperialismus reißt« (Lenin). Die Welt der Düfte und die olfaktorische Revolution
Abschied von der belle époque und Kleider für den Neuen Menschen. Chanels und Lamanowas Doppelrevolution
Chanel’s Russian Connection
French Connection in Moskau? »Vaterland der Werktätigen« und Michail Bulgakows Spur
Auguste Michels unvollendetes Projekt: ein Parfum der Marke »Palast der Sowjets«
Der verführerische Duft der Macht. Coco Chanel und Polina Shemtschushina-Molotowa. Zwei Karrieren im 20. Jahrhundert
Aus der anderen Welt: Der Rauch der Krematorien und der Geruch der Kolyma
Nach dem Krieg. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. New Look und Stiljagi
Nachtrag: Olga Tschechowa, die Grande Dame des deutschen Films, die Kosmetik und der Traum von der ewigen Jugend
How One World Smells
Nicht nur das Schwarze Quadrat: Malewitschs Flakon
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Register
EINE AUSSERPLANMÄSSIGE RECHERCHE
Es war in meinem Leben nicht vorgesehen, mich einmal mit Gerüchen, Düften oder gar Parfums zu beschäftigen. Dass die Teilung der Welt in Ost und West auch eine Teilung der Geruchswelten war, wusste jeder, der vor dem Fall der Berliner Mauer einmal den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße passiert hat. Aber auf meiner wissenschaftlichen Agenda standen andere Stoffe und Themen obenauf. Es gab keinen Vorsatz und kein Projekt, eine Forschungslücke zu füllen oder Belege für einen neuen kulturwissenschaftlichen »turn« beibringen zu müssen. Meine Kenntnisse der Welt der Düfte waren mehr als bescheiden, entsprachen vermutlich der durchschnittlichen Erfahrung eines Mannes, der nur das Allernotwendigste parat hat, wenn es um Seifen, Deodorants, Cremes oder Duftwässer geht. Die Berührung mit der Welt der Odeurs war eher marginal, punktuell: beim Durchqueren der Parfümerieabteilung der großen Kaufhäuser – sie liegen meist im Erdgeschoss und lassen sich kaum umgehen –, beim Gang zum Gate am Flughafen, das man nur erreicht, wenn man die Zone der Duty-Free-Shops passiert. Mehr noch als die Düfte oder die seltsame Melange von Düften wirkte das Licht und das Glitzern der Kristalle, des Regenbogens aus Farben, Spiegeln und Glas, und das vollendete Make-up der Frauen, die hier nicht Personal und Bedienung waren, sondern Models, lebendige Verkörperungen der Eleganz. Man fühlte sich in dieser Glitzerwelt der unendlich abgestuften Skalen von Farben und Nuancen immer sehr fremd.
Es gab dennoch einen starken Impuls, die Skrupel zu überwinden und ohne Vorkenntnisse sich in diese spezielle Sphäre vorzuwagen. Es ist ja eine Art Selbstermächtigung, wenn sich jemand das Recht herausnimmt, über etwas zu schreiben, von dem er bis dahin kaum eine Ahnung hatte. Stärker als alle Bedenken war ein erster Impuls, von dem sich herausstellte, dass es sich um mehr als nur einen bloßen Eindruck gehandelt hatte, nämlich um die Verfolgung einer Spur, der nachzugehen einen eigenen Drive, einen eigenen Sog entwickelt, der erst verschwindet, erlischt, wenn sie freigelegt und herauserzählt ist.*
Am Anfang war ein Duft, der überall da in der Luft lag, wo es in der Sowjetunion besonders festlich zuging; das konnte im Moskauer Konservatorium, im Bolschoi-Theater, bei der Verabschiedung von Absolventen an der Universität oder bei einer Hochzeitsfeier sein. Das etwas süße, schwere Aroma verband sich in meiner Erinnerung mit einem eher gesetzten Publikum, poliertem Parkett, strahlenden Lüstern, wenn das Publikum in den Pausen im Theaterfoyer zirkulierte. Ich begegnete diesem Duft auch später, in der DDR, vorzugsweise bei offiziellen Empfängen, im Umkreis deutsch-sowjetischer Begegnungen oder in Offizierskasinos. Diesem Duft nachzugehen, vielleicht die Marke ausfindig zu machen stand am Anfang, und alles Weitere ergab sich wie von selbst, eins nach dem anderen. Erste Recherchen ergaben, dass der Duft von einem Parfum namens Rotes Moskau stammte. Nun kennen wir die Karriere des so erfolgreichen Chanel No 5, aber kaum die Geschichte des populärsten sowjetischen Parfums. Es zeigte sich, dass beide auf eine gemeinsame ursprüngliche Komposition zurückgehen, komponiert von französischen Parfümeuren im Zarenreich, von denen der eine – Ernest Beaux – nach Revolution und Bürgerkrieg nach Frankreich zurückkehrte und auf Coco Chanel traf, während der andere – Auguste Michel – in Russland blieb, bei der Gründung der sowjetischen Parfümindustrie mitwirkte und aus dem »Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina das Rote Moskau schuf. Beide Parfums stehen für die Entstehung neuer Duftwelten, für radikal unterschiedlich verlaufende Biografien, für kulturelle Milieus im Paris und Moskau der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch für den verführerischen Duft der Macht: Coco Chanel , die sich mit den Deutschen im besetzten Paris einließ, und – weit weniger bekannt – die Karriere Polina Shemtschushinas, der Ehefrau des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow und Volkskommissarin, die zeitweilig auch für die sowjetische Kosmetik- und Parfümerieindustrie zuständig war. Coco Chanel setzt sich nach dem Krieg vorübergehend in die Schweiz ab, Polina Shemtschushina-Molotowa wird im Zuge der antisemitischen Kampagne der späten 1940er Jahre für fünf Jahre in die Verbannung geschickt und lernt den »Geruch der Lager« kennen. Chanel reüssiert in den 1950er Jahren in der Pariser Modeszene, Shemtschushina lebt zurückgezogen an der Seite ihres Mannes in Moskau und bleibt bis zu ihrem Tod im Jahre 1970 eine überzeugte Stalinistin. Eine Nebenspur der Recherche führte zur »Grande Dame des deutschen Films«, Olga Tschechowa, die auch diplomierte Kosmetologin war.
So populär das Parfum Rotes Moskau auch gewesen sein mag, es hatte der Stagnation der späten Sowjetunion und dem Druck der globalen Duftindustrie wenig entgegenzusetzen. Im postsowjetischen Russland ist es wieder auf den Markt zurückgekehrt und steht wie die Leidenschaft der Sammler von Parfumfläschchen für eine eigentümliche »Suche nach der verlorenen Zeit«. Bei einer solchen Suche bleiben frappierende Entdeckungen nicht aus: Kasimir Malewitsch, der sowjetische Avantgardist, ist auch der lange anonyme Designer des Flakons für das meistgekaufte Eau de Toilette der Sowjetunion – und das vor seiner Erfindung des Schwarzen Quadrats, dieser Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Es gab bei dieser Recherche lange Wegstrecken, auf denen nichts passierte, dann aber wieder wurde man vorangetragen von überraschenden Entdeckungen. Man treibt sich auf den Basaren russischer Städte herum und beginnt, Flakons und vorrevolutionäre Reklameplakate zu sammeln, trifft überall Laien, die sich zu Experten gemacht haben. Man pilgert zur Place Vendôme und in die Rue Cambon 31, um das Treppenhaus zu sehen, in dem Coco Chanel ihre Kollektionen präsentiert hat, und man lernt, dass die Welt des Luxus für die Gesellschaftsanalyse nicht weniger aufschlussreich sein kann als Studien zur Geschichte des Alltags der einfachen Leute. Die Boutiquen und Parfümerien in der Rue Saint-Honoré geben eine Vorstellung von der Würde des Handwerks und der unerschöpflichen Fantasie der Künstler und Designer. Vielleicht wäre das Buch ohne die Inspiration des großen Karl Lagerfeld gar nicht geschrieben worden. Man besucht Museen und Archive, in die man sich sonst nicht verirrt hätte, und entdeckt Netzwerke und Personenzusammenhänge, die erst im Lichte einer spezifischen Konstellation sichtbar werden. Djagilew als Zeitgenosse Coco Chanels, Malewitsch als Zeitgenosse Tiffanys, Gallés oder Laliques. Und wer im Internet stöbert, entdeckt, dass heute das Rote Moskau nicht bloß Sammelobjekt von Nostalgikern ist, sondern jederzeit online bestellt werden kann.
Jede Zeit hat auch ihr eigenes Aroma, ihren Duft, ihren Geruch. Das »Jahrhundert der Extreme« hat seine eigenen Geruchslandschaften hervorgebracht. Revolutionen, Kriege, Bürgerkriege sind auch olfaktorische Ereignisse. Die Teilung der Welt im vergangenen Jahrhundert kann jetzt post festum und zusammenhängend – gleichsam »mit der Nase« – erkundet und erzählt werden.
Berlin/Los Angeles im Frühjahr 2019
Karl Schlögel