Hanser E-Book
Aleida Assmann
Ist die Zeit
aus den Fugen?
Aufstieg und Fall
des Zeitregimes der Moderne
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24437-5
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2013
Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Vorwort
Einleitung
1 Zeit und Moderne
Baudelaires Entdeckung der Gegenwart
Wie lange dauert die Gegenwart?
2 Arbeit am modernen Mythos der Geschichte
Wandlungen des Fortschrittsbegriffs
Zeittheoretische Grundlagen der modernen Geschichtswissenschaft
Modernisierungstheorie und Theorien der Moderne
Wann beginnt die Moderne? Modernisierungsschübe in der westlichen Geschichte
Das goldene Tor der Zukunft: Modernisierung als Kultur am Beispiel der USA
3 Fünf Aspekte des modernen Zeitregimes
Das Brechen der Zeit
Die Fiktion des Anfangs
Kreative Zerstörung
Zerstören und Bewahren – Die Erfindung des Historischen
Beschleunigung
4 Zeitkonzepte der Spätmoderne
Die Kompensationstheorie
Kompensationstheorie und Gedächtnistheorie – Zwei unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit
5 Ist die Zeit aus den Fugen?
Total recall – Katastrophenrhetorik und breite Gegenwart
Der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
6 Vorbei ist nicht vorüber – Reparaturen am Zeitregime der Moderne
Drei neue Kategorien: Kultur, Identität, Gedächtnis
Vorbei ist nicht vorüber: Historische Wunden und das Konzept der reversiblen Zeit
Identitätspolitik – Die Verschränkung von Geschichte und Gedächtnis
Zwei Trends in der Geschichtspolitik
Schluss: Zuviel Vergangenheit und zuwenig Zukunft?
Nachweis Motti
Personenregister
Dieses Buch hat ein klar definiertes Thema: Das Auseinanderbrechen und neu Zusammensetzen des temporalen Zeitgefüges von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es führt zurück in eine verschollene, fremde Zeit, die aber noch gar nicht so lange zurückliegt. Das war eine Zeit, in der es zwei zentrale Begriffe, die heute die Kulturwissenschaften bestimmen und darüber hinaus in (fast) jedermanns Munde sind, noch nicht gab: ›Erinnerungskultur‹ und ›kollektive Identität‹. Dafür gab es einen auratischen Schlüsselbegriff, der heute an Glanz verloren hat: ›Zukunft‹. So, wie man sich heute nicht mehr vorstellen kann, dass im öffentlichen Raum einschließlich der Universitäten, Schulen und Krankenhäuser unbedenklich und hingebungsvoll geraucht wurde, sowenig konnte man sich damals etwas unter Konzepten wie ›kulturelles‹ oder ›kollektives Gedächtnis‹ vorstellen.
Das Buch unternimmt eine Reise in diese vergessene Vergangenheit und versucht, die in ihr wirkende vorherrschende Zeitordnung aus der Distanz noch einmal zusammenhängend vor unser Auge zu stellen. Da diese Zeitordnung implizit in Wahrnehmungsmuster, Handlungsformen und Deutungsrahmen eingegangen, aber nicht als ein kohärenter Diskurs fassbar ist, musste ich mich hier auf eine breit angelegte Such- und Sammelaktion einlassen. In diesem Buch wird den Lesern zugemutet, Befunde aus verschiedenen Geschichtsepochen und kulturellen Bereichen zu besichtigen in der Erwartung, dass sich aus diesen konkreten Fragmenten ein Bild dessen aufbaut, was ich mit einem abstrakten Begriff das ›Zeitregime der Moderne‹ nenne.
Weil der Gegenstand, von dem dieses Buch handelt, überhaupt erst einmal entdeckt und bestimmt werden musste, konnte dieses Projekt nicht so zielstrebig angelegt werden wie andere selbstgesteckte Aufgaben. Den Impuls zu dieser Arbeit bildeten zunächst Intuitionen und Vermutungen eher als klare Fakten. Die Methode war, metaphorisch gesprochen, weniger die einer Sonde als die einer Wünschelrute. An die Stelle einer klar umrissenen Suche trat ein tastender Versuch, bei dem vieles allererst aufzufinden war: durch Zufall, nebenbei, im Hintergrund, im soft focus. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben sich dann die Konturen dieses zunächst sehr tentativen Themas immer klarer herausgebildet. Fragen, die ich zunächst glaubte in einsamer Abgeschiedenheit für mich selbst klären zu müssen, erwiesen sich immer mehr als ein gemeinsames und inzwischen auch immer dringlicheres Anliegen. So kann ich nun meinen eigenen Beitrag zu diesem Thema in ein größeres Puzzle einfügen und dabei von anderen Darstellungen und Bewertungen des aktuellen Zeitproblems profitieren.
Ich danke Michael Krüger für sein unerschütterlich anhaltendes Interesse an meiner Arbeit und die Bereitschaft, dieses Buch in sein letztes Verlagsprogramm aufzunehmen, auch wenn es nicht, wie einst versprochen, ein Buch über das Lesen geworden ist. Der Konstanzer Exzellenzcluster hat es ermöglicht, dass Janine Firges und Ines Detmers mir umsichtig, flink und gründlich bei der Durchsicht des Manuskripts und der Korrektur der Fahnen helfen konnten. Beiden habe ich sehr zu danken.
»Es war einmal in den strahlenden 60ern, da gab es noch jede Menge Zukunft im Angebot.«1 Dieser Satz steht in Graham Swifts Roman Waterland, der 1983 erschienen ist. Zwei Jahrzehnte später war die Zukunft der strahlenden 1960er Jahre also schon verbraucht; sie war zu einer ›vergangenen Zukunft‹ geworden. Vergangene Zukunft ist auch der Titel eines wichtigen Buches von Reinhart Koselleck, in dem der Historiker uns belehrt hat, dass selbst die Zukunft historischem Wandel unterliegt. Während man bis dahin davon ausgegangen war, dass die Arbeitsdomäne der Historiker die Vergangenheit sei, haben neuere Studien gezeigt, dass zu dieser Vergangenheit auch unterschiedliche Zukünfte gehören.2
Die Zukunft als eine sichere Orientierung und glänzende Versprechung, ja Verheißung, die den eigenen Plänen und Zielen eine klare Richtung wies – das war einmal. Diese Zukunft ist längst Vergangenheit geworden. Sie erreichte ihren Zenit in den 1960er Jahren. Im Jahr 1967 war der Philosoph Ernst Bloch Empfänger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche sagte er: »Eine Landkarte, worauf das Land Utopia fehlt, verdient nicht einmal einen Blick.«3 Utopia war für Bloch eine Metapher für Zukunftsvisionen und die Antizipation einer besseren und gerechteren Welt für die Schwachen und Erniedrigten. Dieser besseren Zukunft, so erläuterte er damals, bahnen ›menschenfreundliche Revolutionen‹ den Weg. Bloch unterschied deutlich zwischen menschenfreundlichen Revolutionen einerseits und Kriegen andererseits, die nur auf Eroberung und Machterhalt ausgerichtet sind. Revolutionen dagegen seien Geburtshelfer des Guten, Wahren und Gerechten. »Vor allem der russische Revolutionskampf«, so betonte Bloch, »war nirgends erobernd wie ein Krieg, sondern eben nur geburtshelferisch für jene nicht mehr antagonistische Gesellschaft abgezielt, womit die alte schwanger ist.« (11a)
Dieser von Bloch damals vertretenen Geschichtsdeutung kann heute angesichts der Millionen Toten, die das Stalin-Regime gekostet hat, niemand mehr so einfach folgen. Wir konnten jedenfalls erleben, dass nach 1989 diese Zukunftsperspektive mit dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch im Osten Europas abrupt in sich zusammenfiel. Auch die Russen, die die positive Bewertung dieser Wende nicht teilen können – Putin hat den Zerfall des sozialistischen Blocks als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet –, haben sich inzwischen dieser Zukunft entledigt. Sie haben die russische Revolution inzwischen zum »Staatsstreich« degradiert und aus ihren Annalen gestrichen. Der damit verbundene Gedenktag, der 7. November, musste ebenfalls verschwinden und ist dem 4. November gewichen, einer Konstruktion der Historiker im Dienste Putins, die ein vergessenes und eher fiktives Ereignis aus dem 17. Jahrhundert ausgegraben haben, um ihn der russischen Bevölkerung in zeitlicher Nähe des vertrauten Feiertags als Äquivalent anzubieten.4
Einige der Zukunftsszenarien des Kalten Krieges und seiner bipolaren Weltordnung sind erst kürzlich zu Ende gegangen. Im Oktober 2011 erreichte uns die Nachricht von der Zerlegung der letzten amerikanischen Atombombe, die ein Hundertfaches der Sprengkapazität von Hiroshima hatte. Nach deren Zerlegung sei die Welt nun »ein sichererer Ort« geworden, wie der Leiter der amerikanischen ›Behörde für Nukleare Sicherheit‹ erklärte. Die B53 sei »zu einer anderen Zeit für eine andere Welt« entwickelt worden. In den Medien sprach man von einem Meilenstein in der nuklearen Abrüstungspolitik von US-Präsident Barack Obama.5 Bevor er diese Zukunft beendete, hat Obama jedoch einen anderen Zukunftshorizont für sein Land erweitert. 2010 verkündete er im Raumfahrtzentrum der NASA in Florida, dass er ein bemanntes Raumschiff auf den Mars schicken werde. Spätestens im Jahr 2035 rechne er damit, dass Astronauten ihren Fuß auf den Roten Planeten setzen. »And I expect to be around and see it!«, fügte er noch hinzu. Auf den Mond dagegen wolle er nicht mehr: »Da waren wir schon einmal […]. Es gibt viel mehr Weltall zu erkunden.«6
Obamas ungebrochener Entdeckungswille kann jedoch nicht davon ablenken, dass es derzeit in den Bereichen Politik, Gesellschaft und Umwelt um die Ressource Zukunft eher schlecht bestellt ist. Die Erwartungen an die Zukunft sind bescheiden geworden. Sie hat erheblich an Leuchtkraft verloren, seit wir sie nicht mehr so selbstverständlich zum Fluchtpunkt unserer Wünsche, Ziele und Projektionen machen können. Dass spezifische Zukunftshorizonte entstehen und vergehen, ist ja, wie wir von Historikern gelernt haben, an sich nichts Neues. Es sind aber nicht nur bestimmte Zukunftsvisionen in sich zusammengebrochen, sondern das Konzept Zukunft hat sich tiefgreifend verändert. Es ist die Ressource Zukunft selbst, die heute auf dem Prüfstein steht und neu bewertet wird.
Wie kam es zu dieser Ernüchterung? Was sind die Ursachen dafür, dass die Aktie Zukunft so drastisch im Kurs gefallen ist? Die Antworten dafür liegen auf der Hand: Die Zukunft ist erschöpft worden durch den Ausbau der technischen Zivilisation, die einen ungebremsten Ressourcenabbau betreibt. Erfahrungen wie die Umweltverschmutzung, die Verknappung von Trinkwasser, der Klimawandel, aber auch demographische Probleme wie Überbevölkerung und die zunehmende Überalterung von Gesellschaften haben unser Bild von der Zukunft grundsätzlich verändert. Sie ist unter diesen Prämissen nicht mehr das Eldorado unserer Wünsche und Hoffnungen, und damit ist auch das Fortschrittspathos erloschen. Das bezeugen inzwischen auch Umfragen. Auf die Frage: ›Ist die Welt immer besser geworden?‹ antworteten 70% spontan mit Nein, 20% nach längerem Überlegen mit Ja und 10% gaben keine Antwort.7 Wir gehen heute nicht mehr selbstverständlich davon aus, dass Veränderung automatisch Verbesserung einschließt. Die Zukunft, so dürfen wir vielleicht zusammenfassen, ist von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem Gegenstand der Sorge und damit zugleich auch der Vorsorge geworden: Man kann sich auf die Zukunft nicht mehr so einfach verlassen, sondern muss etwas für sie tun im Sinne eines verantwortlichen, nachhaltigen Haushaltens: Sonst kann man nicht mehr sicher sein, dass es sie für nachwachsende Generationen auch weiterhin gibt.
Neben dem Verblassen der Zukunft erleben wir heute aber noch eine andere Anomalie der uns vertrauten Zeitordnung, und das ist eine in dieser Form ungekannte Wiederkehr der Vergangenheit. Episoden der Geschichte, die wir glaubten lange und sicher hinter uns gelassen zu haben, werden wieder aufgerollt und bäumen sich vor uns auf. Das betrifft insbesondere Ereignisse, die mit extremer Gewalt verbunden waren. Wir können hier gar von einer ›Kontinentalverschiebung‹ in unserer Zeitordnung sprechen: Während die Zukunft an Strahlkraft verloren hat, macht sich die Vergangenheit immer stärker in unserem Bewusstsein breit. Die Überlast der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt inzwischen gebieterische Ansprüche an unsere Aufmerksamkeit, Anerkennung, Verantwortung und nicht zuletzt: Erinnerung. Diese markante Verschiebung des Akzents von der Zukunft auf die Vergangenheit ist vor mehr als einem Jahrzehnt bereits Andreas Huyssen aufgefallen. Er schrieb damals:
Eines der überraschendsten kulturellen und politischen Phänomene der letzten Jahre ist das Interesse an Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften und damit verbunden die Hinwendung zur Vergangenheit und Abwendung von der Zukunft, auf die die Moderne in früheren Dekaden des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war. Von den apokalyptischen Mythen eines radikalen Durchbruchs und der Hervorbringung eines ›Neuen Menschen‹ im Europa des 20. Jahrhunderts im Rahmen mörderischer Rassen- oder Klassen-Phantasien des Nationalsozialismus und Stalinismus bis hin zum amerikanischen Modernisierungsparadigma des Kalten Krieges war die Kultur der Moderne von dem angetrieben, was wir ›gegenwärtige Zukunft‹ nennen können. Seit den 1980er Jahren, so scheint es, hat sich der Fokus von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen verschoben, und dieser Wandel in der Erfahrung und Empfindung von Zeit bedarf einer historischen und phänomenologischen Erklärung.8
Huyssen führt hier weitere wichtige Gründe dafür an, warum das Vertrauen in die Zukunft in den letzten Jahrzehnten stark gelitten hat. Sein Blick auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erfasst nämlich gerade auch die mit ihr verbundene ›vergangene Zukunft‹, und dabei stellt sich heraus, dass bestimmte Utopien wie etwa die von einem ›neuen Menschen‹ einen wesentlichen Anteil an der politischen Legitimierung und Entfesselung von Gewalt hatten. Vergangenheit und Zukunft bilden hier also keine einfachen Gegensätze. Mit seinem Hinweis auf die Ideologien des Faschismus und Kommunismus zeichnet Huyssen ganz andere, düstere Züge in das Bild der westlichen Modernisierungsgeschichte ein. Emphatische Zukunftsorientierung, deren Ende wir soeben ratlos beklagen, ist offensichtlich nicht nur mit Aufklärung, Emanzipation und Fortschritt, sondern auch mit ideologischen Programmen, apokalyptischen Mythen, Krieg und der Entfesselung von Gewalt verbunden. So positiv und optimistisch das Zukunftsbild aus der Perspektive der Modernisierungstheorie erscheint, so negativ und pessimistisch ist das Zukunftsbild der kulturkritischen Theoretiker der Moderne. Wir werden auf diesen Gegensatz der Perspektiven noch ausführlicher zurückkommen.
Seit den 1980er Jahren, so beobachtet Huyssen, »hat sich der Fokus von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen verschoben«. Was hat diese zeitliche Orientierungs-Wende von der Zukunft zur Vergangenheit in Gang gesetzt? Was genau war der Status der Vergangenheit, bevor die Erinnerung plötzlich »zum Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften« wurde, wie Huyssen schreibt? Welche Probleme und Chancen sind mit diesem Wandel unseres westlichen Zeit- und Geschichtsverständnisses verbunden? Auf diese wichtigen Fragen möchte ich mich im Folgenden einlassen, denn dieser »Wandel in der Erfahrung und Empfindung von Zeit bedarf« wie Andreas Huyssen hinzufügt, »einer historischen und phänomenologischen Erklärung«.
Die Kulturwissenschaftler sind uns bisher eine solche Erklärung schuldiggeblieben. Meines Wissens hat noch niemand diese Verschiebung in den Koordinaten unserer kulturellen Zeitordnung systematisch untersucht und erklärt.
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, möchte ich noch auf den persönlichen Anstoß zu sprechen kommen, der mich auf die Spur dieses Themas gebracht hat. Der Wandel, der in den 1980er Jahren seinen Anfang nahm, war ja für die Zeitgenossen zu jenem Zeitpunkt noch überhaupt nicht absehbar. Erst nach einem weiteren Vierteljahrhundert haben die Umrisse dieses Wandels klare Konturen angenommen und sind ins ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ getreten. Diese Verschiebungen im kulturellen Zeitverhältnis wurden dabei keineswegs einheitlich wahrgenommen. Das fiel mir immer wieder in Diskussionen mit Vertretern meiner akademischen Lehrergeneration (insbesondere der Jahrgänge um 1926) auf. Sie wollten von dieser Verschiebung im Gefüge der Zeitordnung nichts wissen; aus dem einfachen Grund, weil sie nichts von ihr hielten. Es waren insbesondere die Lichtgestalten der Modernisierung, die mit ihren Fragen und Konzepten das akademische Leben von Grund auf erneuert hatten, die sich mit der Wiederkehr der Vergangenheit und der Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften besonders schwertaten. Kulturelle Wenden sind keine Sache abstrakter Einschnitte, sondern schlagen bis auf die Ebene individueller Lebenserfahrung und persönlicher Weltdeutung durch. Sie gehen auch durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hindurch und berühren deren generationsspezifische Erfahrungen, Emotionen und Investitionen in Lebenswerke und Lebenswerte. Diese Generation der modernen Erneuerer verkörperte eine emphatische Zukunftsorientierung, die mit einer Rückwendung – zumal zur eigenen Vergangenheit – nicht kompatibel war. Da ihre Zukunftsorientierung offenbar mit den Prämissen der Gedächtnisforschung unvereinbar war, stieß ich damit bei meinen akademischen Lehrern immer wieder auf einen erstaunlich starken emotionalen Widerstand.
Der offenkundig affektive Charakter dieser Abwehr interessierte und beschäftigte mich nachhaltig und wurde zum Anstoß für dieses Projekt historischer Selbstaufklärung, das nun die Form eines Buches angenommen hat. In solchen Kollisionen und Reibungen zeichneten sich mir zum ersten Mal die Umrisse einer spezifisch modernen Zeitordnung ab, die ich dann zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung machte. Ich stieß dabei auf bestimmte Aspekte der modernen Zeitordnung, die ich selbst bis dahin in alternativloser Selbstverständlichkeit gelebt, gedacht, erfahren und als neutrale Weltbeschreibung wahrgenommen hatte.
Diese historisierende Reflexion führte mich keineswegs zu einer postmodernen Verwerfung des Modernisierungsparadigmas. Ebenso abwegig wäre es, mein kritisches Interesse an einer Durchleuchtung der zeitlichen Grundlagen der Modernisierung einer wertkonservativen Haltung zuzuschreiben. Ich habe die herausragenden Vertreter des Modernisierungsparadigmas unter den akademischen Lehrern bewundert und bin von ihnen zutiefst beeinflusst und inspiriert. Meine kulturelle und geistige Sozialisation macht mich zu einem Produkt dieser Wissenskultur. Seit den 1980er Jahren brachen jedoch nach und nach auch andere kulturelle Stimmen und geistige Traditionen in die westdeutsche Nachkriegswelt ein, darunter jüdische, postkoloniale und weibliche, die im Rahmen des dominanten Modernisierungsparadigmas keinen Platz finden konnten. Sich dem mit Neugier und Interesse zuzuwenden, was vom überlieferten Denkrahmen ausgeschlossen ist, wird für die nächste Generation automatisch zu einem Imperativ. Das galt insbesondere für die Rückwendung zur deutschen NS-Vergangenheit, von der die Modernisierungstheoretiker zum großen Teil nichts wissen wollten.9 Diese Rückwendung führte in Westdeutschland zu einem neuen Interesse an »Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften« und damit – auch außerhalb Deutschlands – zur Verschiebung des Fokus »von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen«.
»Das 20. Jahrhundert endete zwischen 1973 und 1989«, schrieb der amerikanische Historiker Charles S. Maier.10 So präzise können Historiker Zäsuren rekonstruieren und datieren – allerdings immer erst im Nachhinein. Meine These ist, dass in den 1980er Jahren nicht nur das 20. Jahrhundert endete, sondern mit ihm auch die fraglose Geltung der temporalen Struktur des Modernisierungsparadigmas. Von einer markanten ›Wende‹ kann bei diesem schleichenden Bewusstseinswandel allerdings nicht die Rede sein. Als sich zentrale Prämissen der westlichen Zeitordnung veränderten, ist weder eine geistige Revolution ausgerufen worden noch eine Mauer zusammengebrochen. Dieser Orientierungswandel war ganz ausgesprochen nicht das Konstrukt von einfallsreichen Theoretikern, die einen neuen ›turn‹ ausriefen, sondern Teil der veränderten Rahmenbedingungen westlicher Kulturentwicklung.
Parallel zum Verblassen der Zukunftsvisionen des Modernisierungsparadigmas erlebten wir seit den 1980er und 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts die überraschende kulturelle Aufwertung von Vergangenheit und Erinnerung als globales Phänomen. Die damit verbundenen Verschiebungen der Zeitordnung, der Handlungsorientierung und Geschichtsdeutung möchte ich hier unter dem Begriff des kulturellen Zeitregimes zusammenfassen.11 Darunter verstehe ich einen Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen, der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden. François Hartog spricht in diesem Sinne von ›régime d’historicité‹ und meint damit die unterschiedlichen Formen, in denen sich Gesellschaften in der Zeit positionieren und mit ihrer Vergangenheit umgehen. Als Zeitregime bezeichnet Hartog eine Form »der zeitlichen Erfahrung, die Zeit nicht nur auf eine neutrale Weise misst und rhythmisiert, sondern obendrein die Vergangenheit als eine Abfolge bedeutungsvoller Strukturen organisiert«.12 Er geht dabei vom Standpunkt des Historikers aus, schließt jedoch weiterreichende Perspektiven mit ein:
Der Begriff erlaubt es nicht nur, unterschiedliche Formen der Geschichtsauffassung miteinander zu vergleichen, sondern auch und vordringlich die unterschiedlichen Methoden des Zeitverhältnisses überhaupt: Formen der Zeiterfahrung, hier und anderswo, heute und gestern; Arten des In-der-Zeit-Seins. […] Es geht dabei ganz generell um historische Existenzformen und die Frage, wie sich die Menschheit zur ihrer Geschichte verhält.13
Die Frage nach kulturellen Zeitregimes eröffnet einen vergleichenden Zugang zur kulturellen Semantik von Zeitordnungen und schärft den Blick für kulturelle Vorannahmen, die als selbstverständliche, alternativlose Orientierungen unter die Bewusstseinsschwelle abgesenkt und als ›implizite Axiome‹ umso wirksamer sind, je weniger sie zum Gegenstand von Reflexionen und Debatten werden. Die Zeit ist jedoch inzwischen gekommen, um diesen Komplex genauer unter die Lupe zu nehmen und auf seine positiven und negativen Wirkungen hin zu prüfen. Mit dem Begriff des Zeitregimes stellt sich die Frage nicht nur nach der Historisierung, sondern noch umfassender nach der ›Kulturalisierung‹ des Themas Zeit. Die besondere Betonung der kulturellen Investitionen in die Formung der Zeit ist keineswegs trivial, denn im Rahmen des Modernisierungsparadigmas wurde Zeit ja gerade nicht als eine kulturelle Schöpfung verstanden, sondern als eine abstrakte, menschlicher Manipulation unzugängliche, rein objektive Dimension definiert, die einer immanenten Eigenlogik folgte. Genau diese Nähe zu neuen Techniken des Messens und den Naturwissenschaften machte sie ja unter anderem so modern und entzog sie dabei zugleich dem Zugriff der Selbstreflexion und Selbsthistorisierung.
Ältere kulturelle Zeitregime stimmten darin überein, dass sie das Gewicht auf die Vergangenheit legten, aus der heraus die Gegenwart und Zukunft ihre normativen Grundlagen bezogen. Mit dieser traditionellen Form der Zeitordnung brach das Zeitregime der Moderne,14 das seine Ausrichtung radikal von der Vergangenheit auf die Zukunft umstellte. Das bedeutete eine revolutionäre Umstrukturierung der kulturellen Zeitordnung, deren Wertbindung damit vom Alten auf das Neue und vom Bekannten auf das Unbekannte, vom Gewesenen auf das erst noch Werdende und Kommende überging. Die Aufspreizung der Zeit in die Wertpole des Alten und des Neuen ist selbst Symptom und Signal dieses Zeitregimes, das menschliches Zeiterleben und historische Sinnbildung unter ein ganz neues Vorzeichen stellte. Im Folgenden soll dieses ›moderne Zeitregime‹, wie wir es von nun an bezeichnen wollen, in seiner Genese, Ausprägung und Wirkung genauer untersucht werden. Da das Zeitregime selbst das verbindende Band einer Epoche und zugleich das gemeinsame Dach für eine Vielfalt kultureller Handlungen, Skripte und Deutungen ist, war es notwendig, die Belege für die Evidenz dieser modernen Zeitorientierung nicht nur aus einem einzigen Diskurs wie zum Beispiel der Geschichtsschreibung abzuleiten, sondern das Bild dieses Zeitregimes aus ganz verschiedenen kulturellen Bereichen zusammenzufügen. Erst wenn das moderne Zeitregime nicht mehr nur als ein theoretischer Begriff, sondern auch als eine kulturelle Modellierung und Gestalt vor uns steht, kann dessen historische Bedeutung ermessen und differenzierter beschrieben werden.
Was ist auf das moderne Zeitregime gefolgt? Warum und unter welchen Bedingungen stieß es an seine Grenzen und verlor an fundierender Geltung und Überzeugungskraft? Welche Elemente haben ihre Gültigkeit behalten, welche sind durch einen weiteren Orientierungswechsel außer Kraft gesetzt worden? Was besagt dieser Abschied vom modernen Zeitregime für die Zeitorientierung und Wertprämissen unserer gegenwärtigen Kultur? Um diese und weitere Fragen wird es in den folgenden Kapiteln gehen, die zunächst die Entstehung und Karriere des modernen Zeitregimes nachzeichnen, daran anschließend Symptome seiner Krise beleuchten, und schließlich mit kritischen Positionen auch Vorschläge für Korrekturen enthalten.