Juan Carlos Onetti

Leichensammler

Roman

Aus dem Spanischen von Anneliese Botond

Suhrkamp

Für Susana Soca

Weil sie die nackteste Form des Mitleids ist, die ich kenne; weil sie Talent hat.

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

Anhang

Editorische Notiz

Anmerkungen

Zeittafel

Santa María – Hauptpersonen

Literaturhinweise

I

Schnaufend und glänzend, breitbeinig über den Sprüngen des Eisenbahnwagens auf der Seitenlinie Enduro, ging Sammler durch den Gang, um sich einige Kilometer vor der Einfahrt des Zuges in Santa María der Gruppe der drei Frauen anzuschließen. Er lächelte aufmunternd in die von Langeweile gedunsenen, von der Hitze, dem Gähnen, dem Reden geröteten Gesichter. Das Grün der flußnahen Felder lehnte eine schwache Frische an die verstaubten Fensterscheiben.

›Sobald ich ihnen sage, daß wir ankommen, fangen sie an zu schwatzen, sich zu schminken, besinnen sich auf ihren Beruf, machen sich häßlicher und älter, setzen Fräulein-Gesichter auf und schlagen die Augen nieder, um ihre Hände zu begutachten. Es sind drei, und ich habe nur vierzehn Tage gebraucht. Barthé bekommt mehr, als er verdient, er und die ganze Stadt, obwohl es sein kann, daß sie lachen, wenn sie sie sehen, und noch tage- und wochenlang weiterlachen. Sie sind keine fünfzehn mehr und angezogen, wie um einen Ziegenbock abzukühlen. Aber sie haben Benehmen, sind gut, sind fröhlich und verstehen sich auf ihre Arbeit.‹

»Gleich sind wir da«, begnügte er sich, mit Begeisterung zu sagen, schlug María Bonita aufs Knie und lächelte den zwei anderen zu, dem kindlichen, runden Gesicht von Irene und den gelben Augenbrauen von Nelly, diesen sehr hohen, geraden Strichen, allmorgendlich nachgezogen, passend zu der Interesselosigkeit, dem Schwachsinn, dem Nichts, das ihre Augen geben konnten.

»Dachte ich mir, es war Zeit«, antwortete María Bonita. Sie kräuselte den Mund gegen das Fenster und begann das Öffnen der Täschchen, den Tanz der Spiegel, Puderdosen, Lippenstifte. »Also hatte ich recht. Dieses Santa María muß ein Loch sein.«

»Stimmt, hast du gesagt«, pflichtete Nelly bei; sie benützte einen Fingernagel, um die Farbe auf dem Mund zu verstreichen.

Irene betupfte sich die Nasenflügel mit der Puderquaste, matt, ohne Glauben; ihre dicken Knie standen weit auseinander, der üppig garnierte, breitrandige Strohhut, an die Rückenlehne gequetscht, verkrümmte sich. Mit dem Handrücken wischte sie einen Halbkreis auf die Fensterscheibe; sie sah einen Regenbogen aus dürren Weiden, aus Pflanzungen, aus grauen, grünen und bräunlichen, vom wolkenverhangenen Nachmittag aufgeheizten Flächen.

»Mir macht das wenig. Klar ist das nicht die Hauptstadt; aber ich mag das Land.«

»Verlaß dich drauf«, sagte María Bonita spöttisch, gereizt. Sie hatte sich fertig hergerichtet und rauchte hastig, saß gerade und ruhig, ihrer verborgenen Fähigkeit zur Beherrschung sicher. ›Eine richtige Frau‹, urteilte Sammler mit Strenge und Stolz. »Einkaufsbummel und Festchen kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Im Haus bleiben, arbeiten und das Geld zusammenhalten.«

»Dazu sind wir hergekommen«, bestätigte Nelly. »Die Großstadt ist schön, aber hier sind wir nicht zum Spaß.«

»Er schaut schon wieder auf deinen Mund, Dicke«, warnte María Bonita.

Irene zuckte die Achseln und malte weiter mit der Fingerspitze Kreuze auf die Fensterscheibe.

»Ich hab nicht geschaut, ich schwör's«, protestierte Sammler.

Er lachte ein wenig mit ihnen, um ihnen Gesellschaft zu leisten, und sah verstohlen nach den anderen Fahrgästen im Wagen. Kein bekanntes Gesicht. ›Auf dem Bahnsteig geht der Tanz los.‹ Er entdeckte das Gebäude der Berufsschule, dunkel und isoliert auf ebenem Gelände, in bewegungsloser Luft; eine Fahne hing schlaff herunter, ein beladener Lastwagen fuhr, nach hinten geneigt, zur Kolonie hoch. Er hatte vor, ihnen etwas über Pflanzungen und Ernten vorzuflunkern, Namen von Getreidesorten zu nennen. Und obwohl er nichts sagte, obwohl die gedachten Dinge sich nur an der weißlichen Linie Speichels zeigten, die sich im Lächeln bildete, als er aufstand und den Frauen half, die Koffer zu bewegen, ahnte er, daß die Versuchung, Unsinn zu reden, jener drohenden Müdigkeit entsprang, jener Angst, am Ende zu sein, die ihn seit Monaten einkreiste, von dem Tag an, da er glaubte, die Stunde der Genugtuung, die Stunde, die schönen Träume mit Händen greifen zu können, sei endlich gekommen, und er den Zweifel in Kauf nahm, daß sie vielleicht zu spät kam.

Der Bahnsteig würde voller Leute sein, eine Gruppe von Männern würde von der Tür des Klubs herüberschauen, eine andere an der Ecke des Hotels Plaza lehnen, um das Auto zu sehen, das die drei Frauen in das kleine Haus an der Küste bringen würde: diese drei entmutigten, von der Reise häßlichen und gealterten Frauen in den grotesken Kleidern, die sie gierig von ihrem Vorschuß gekauft hatten.

II

Die Frauen kamen mit dem Fünfuhrzug am ersten Montag der Schulferien; auf dem Bahnsteig standen nur Tito und ich, zwei Gepäckträger und der Telegrafist. Es war heiß, die Luft feucht und ohne Sonne, ich spürte die Härte der Maissäcke an den Rippen und, weiter hinten, die Stille auf den verlassenen Straßen, dem menschenleeren Platz. Schweinische Erwartung und Ablehnung hielten die Stadt von der Flußböschung bis zu den Haferfeldern an den Bahngeleisen in Atem, erstreckten sich noch auf unsere lässige Körperhaltung, überlagerten den Trotz, den wir angestrengt aufrechterhielten in den erhobenen Köpfen und dem Lächeln, aus dem Tito die Zigarette, mir die Pfeife hing.

»Wie eine Trutzburg«, hatte Tito nahe der Rampe der Genossenschaft gesagt; der Torwächter sah uns an, sicher, daß wir zum Bahnhof weitergehen würden; bewegungslos und schwitzend an der Kreuzung, vor dem Hintergrund einsamer Straßen, verschlossener Türen und Fenster, lächelte er uns zu, taxierte uns mit der schmutzigen Erfahrenheit der Erwachsenen.

Wir lehnten an den Säcken, immer noch rauchend und ohne zu sprechen, als der Rauch des Zuges in der Kurve erschien. Wenn ich das frisch aufgesetzte Lächeln in Titos Gesicht, sein offenes Hemd, die gekreuzten Beine, die speichelnasse Zigarette im Mundwinkel betrachtete, sah ich mich selber, prüfte mein Großtun, begann an der Aufrichtigkeit meines Hasses zu zweifeln. Je weniger Tito mich imitierte und je mehr er das Gebaren seines Vaters zu wiederholen begann, desto mehr war ich gegen ihn, wurde fast zum Verbündeten der verrammelten Stadt.

»Wie eine Trutzburg«, hatte Titos Vater am Abend vorher oder während des Mittagessens gesagt, wobei er bewundernd den Ton Pfarrer Bergners, meines Verwandten, auf der Samstagsversammlung des Herrenvereins imitierte. Mit der behaarten Hand auf das geblümte Tischtuch schlagend, indes die Mutter die kleinen Kinder ablenkte, der Angestellte des Eisenwarenhändlers vorsichtig und respektvoll schweigend zustimmte, über dem Suppenteller, am fernen Kopfende des Tisches.

»Wie eine Trutzburg werden wir die Stadt verschließen«, deklamierte der Eisenwarenhändler. »Ich will, daß mein Haus verschlossen bleibt wie eine Trutzburg.«

Und wäre es ein einziges Wort, könnte ich es heute nacht oder morgen Julita schenken, wenn sie mich, wie immer, darum bittet, ihr ein Wort dazulassen, das ihr den ganzen nächsten Tag dazu reicht, es wie eine Kerze vor dem Andenken meines toten Bruders aufzubrauchen. Wieeinetrutzburg, würde ich ihr sagen und mich ein wenig getröstet fühlen, freier von ihr und ihrem lasterhaften Unglück.

»Jorge, schau hin, ohne zu lachen«, sagte Tito.

Er vergaß, daß ich nicht lachen durfte, daß wir geschworen hatten, unbeteiligt zu bleiben, nicht über Höflichkeit hinauszugehen, wenn eine der Frauen ihrer bedürfen sollte.

Außer den drei Frauen und dem Mann stieg nur ein altes Ehepaar aus; sie sprachen mit dem Gepäckträger, gingen dann, er in Gauchohose, krumm von dem Koffer, die freie Hand über dem gelblichen Kopf der fast zwergenhaften alten Frau schwenkend, den Bahnsteig entlang und nahmen den Weg durch das Gatter von »El Triunfo« auf der anderen Seite der Gleise.

»Leichensammler«, kündigte Tito an.

Der Mann, der in Papas Zeitung gearbeitet hatte, ehe er die Frauen brachte, stellte die Koffer auf den Boden, nahm eine runde Pappschachtel entgegen, die ihm die Frauen reichten, und kehrte im Sprung an den Zug zurück, um ihnen beim Aussteigen zu helfen, unnötigerweise, kaum die Fingerspitzen haltend, die eine nach der andern, besorgt, sich nicht in ihren unglaublichen Röcken zu verfangen, ihm hinhielt. Larsen, Sammler, trug einen neuen dunklen Anzug, einen schwarzen Hut, der ihm bis an die Augen reichte; in der Verwaltung des Liberal war er immer grau gekleidet gewesen, gedemütigt und lakonisch, aber zu durchschnittlich, zu alt, um das zu haben, was Julita einen geheimen Kummer nennen würde. Jedenfalls immer grau, immer bis oben zugeknöpft; die Krawatte, in der eine Perle steckte, auch im Sommer immer straff gebunden, saß er auf dem hohen Hocker in der Verwaltung, die gebogene Nase über den großen Buchhaltungsbüchern, den Tintenflecken, den mit dem Federmesser eingeritzten politischen Schlagwörtern, die Hände von den angefressenen Manschetten seines Hemdes bis zur Hälfte angefressen, mit oder ohne geheimen Kummer.

Er half der letzten Frau aussteigen, und die drei, steif vom Sitzen, blieben, ihre Kleider klopfend und glättend, neben den Gepäckstücken stehen; vorsichtig bewegten sie die Hälse, um ihre unsicheren, neugierigen, abwehrbereiten Gesichter der Leere des Bahnsteigs, der farblosen, ruhigen Landschaft auszusetzen, wo das alte Paar schwankend kleiner wurde, wo jenseits der Berufsschule ein dünner, harter Sonnenstrahl, ein einziger, spät herabfiel, um die Ankunft der Frauen in dem vor wenigen Monaten zur Stadt erklärten Santa María zu beleuchten.

Die Gepäckträger beluden sich mit den Koffern, der Pappschachtel, einer Cretonnetasche und setzten sich trottend, tief gebückt, Anstrengung vortäuschend, auf uns zu in Bewegung; einer zwinkerte uns zu und zeigte uns einen Zahn; dann bogen sie nach rechts ab, klatschten ihre Hanfschuhe auf Steinplatten und Erde, liefen weiter, passierten das grün gestrichene Türchen und verstauten das Gepäck in Carlos' Ford. Carlos rauchte am Steuer, ernst, ohne ihnen zu helfen, ohne auf ihre Witze einzugehen. Tito und ich hörten auf zu lächeln, legten das gequälte, schon verweste Lächeln ab, das anstatt der sorglosen Solidarität, die wir anzubieten beschlossen hatten, dies oder das bedeuten konnte.

Sammler ging den Frauen einen halben Schritt voraus, und seine rechte Hand hing mit einem Strauß kümmerlicher roter Blumen herab. Er sah mich an und wollte mich nicht kennen; beherrscht dämpfte er das herablassende Auftreten eines, der vom Triumph ermächtigt heimkehrt in das Land seiner Geburt, überdeckte es halb mit einer fröhlichen, kompromißbereiten Miene. Er führte das Getrappel der Frauen auf dem Bahnsteig an, er leitete sie mit seinen sieghaften, sicheren Schritten, dem selbstbewußten, federnden Männergang. Aber für mich, und den Frauen unsichtbar, bauten die vorstehenden Augen und der Mund, die bläulichen, schlaff hängenden Backen obenhin eine Maske des Wohlwollens und der Besonnenheit auf: die geschickte Andeutung, daß er, Larsen, Sammler oder Leichensammler, nicht völlig einbezogen sei in das Schicksal und den Stand der Frauen, die er über die grauen Steinplatten schleppte. In der verschleierten Luft des Nachmittags, vor den Farben und Formen der Seidenstoffe, der Hüte, Verzierungen, Juwelen, der Gesichter und nackten Arme, im Takt der Schritte geschwenkt, konnte Sammlers zum Kampf, zum Verrat wie zum Geschäft bereites Gesicht gleichermaßen die Stärke oder die Schwäche seines Unternehmens und seiner selbst in bezug auf sein Unternehmen ausdrücken.

Sammler ein wenig voraus und die drei nebeneinander, einhellig in ihren Bewegungen; die mütterliche Dicke, die dumme, magere Blonde und zwischen ihnen, genau hinter Sammler, die Große. Alle trugen sie lange, in der Taille eng anliegende Kleider, Hüte mit Früchten, Blumen und Schleiern, auf den Hüften Polster und Stoffkaskaden. Sie schienen nicht aus der Hauptstadt zu kommen, sondern von weiter her, aus ungenau erinnerten Jahren. Nun bogen sie ab, eingehakt, schwatzend, absichtlich kreischend, einen halben Schritt hinter dem Mann in Schwarz, der sie anführte, dem grünen Holzzaun zu, wo die zwei Gepäckträger warteten und das Segeltuchdach von Carlos' Ford erschauerte. Als sie die Vierteldrehung ausführten, um aus dem Bahnhof zu kommen, sah mich die Große eine Sekunde lang an; sie lächelte mir zu und senkte halb die Lider, ihr Mund verbarg sich hinter dem Schafsprofil der mageren Blonden.

»Wie findest du sie?« fragte Tito.

Wir lehnten noch immer bewegungslos an den Säcken, hörten das Keuchen des abfahrenden Zuges, erlebten das Dünnerwerden und Verschwinden des Sonnenstrahls, der schräg auf die Felder um die Schule gefallen war. Ohne zu sprechen, stellten wir uns die Fahrt des knatternden schwarzen kleinen Autos vor: in den Straßen der nächsten Umgebung des Platzes, entlang den Weingärten auf dem Weg nach Soria, auf der gepflegten Straße zur Kolonie, immer flankiert von Feindseligkeit und Abwesenheit, von geschlossenen Türen, blinden, verdunkelten Fenstern und Erkern. Wir stellten uns Carlos am Steuer vor, heuchlerisch konzentriert auf den Weg, uninteressiert an dem, was er neben seinem Arm und hinter seinem Rücken mit sich führte: Sammler, im schwarzen Anzug, die Verlorenheit überspielend, die Hutschachtel auf den Knien, die weißen Manschetten so weit vorstehend, daß sie fast die trockenen Blumenstiele berührten, die er wie eine Waffe in der Hand hielt. Die Frauen in ihren Kleidern, die wie Uniformen waren und darauf berechnet, Santa María in Erstaunen zu versetzen, auf ihrer Fahrt durch die Gewitterschwüle und die offenkundige Ablehnung, durchgeschüttelt und gedemütigt von der überforderten Federung des alten Autos, hinunter zu dem in der Niederung, unweit der Konservenfabrik und dem Hüttendorf isoliert stehenden Haus. Böses ahnend und entmutigt angesichts der einhelligen, andauernden Verschlossenheit, rochen sie die großen, vor die Brust gesteckten Blumen, die aus den unwahrscheinlichen Dreiecksausschnitten aufsteigende Wärme. Doch wie die Wolken glühenden Erdstaubs dringt weiter die Einsamkeit der Straßen in den Ford, und nichts kann die Absage übertönen, die Santa María, schlafend und entvölkert am hohen Nachmittag, ihnen wieder und wieder erteilt.

»Wie findest du sie?« fragte Tito nochmals.

»Es sind eben Frauen«, sagte ich, uninteressiert eine Hand schlenkernd.

Wir gingen durch das grüne Türchen und überquerten schlaff den kahlen, menschenleeren Platz; ich dachte an Julita, verglich sie mit dem Blick, dem Lächeln der Großen.

»Sie gefallen mir nicht«, sagte Tito, »aber verrückt macht mich der Gedanke, daß jeder an die Küste gehen, zahlen und auswählen kann.«

»Warum?« sagte ich, damit er nicht aufhörte zu sprechen.

›Nachts um elf muß ich in den Garten hinunter, ums Haus herum und hinauf in Julitas Schlafzimmer. Früher, vor einem Monat, glaubte ich etwas zu begreifen, wenn ich mir sagte: ,Sie ist meine Schwägerin, sie war die Frau meines verstorbenen Bruders, mein Bruder hat mit ihr geschlafen.' Ich werde sie besuchen, kann sein, daß ich ihr irgend etwas Erfundenes über die Frauen erzähle, die heute gekommen sind, daß ich ihr sage, nur ich sei am Bahnhof, in der Stadt gewesen. Und nie wird etwas passieren; vielleicht läßt sie mich das Bild meines Bruders küssen und zwingt mich, ihr zu erklären, wie sehr ich ihn geliebt habe, und vergleicht ihre Liebe mit meiner und berichtigt mich nachdrücklich und sanft.‹

III

Am Abend jenes Tages, an dem die unwahrscheinlichen Frauen in Santa María ankamen, suchte sich Doktor Díaz Grey die dunkelste Stelle in der Bar des Plaza, weitab von der Theke, die von Marcos, seinen Freunden, den Frauen besetzt war. Nach der Stille, dem kurzen Rauschen eines sogleich wieder aussetzenden Regens schlug der junge Dunkelhaarige mit seinem Glas auf das Linoleum.

»Wie Marcos heute gesagt hat … Um unsretwillen, um des Landes willen müssen wir wählen.«

»Ja«, sagte Marcos. »Aber nicht die Politik ist jetzt wichtig. Jetzt ist es so, daß du den Unrat wegfegen mußt, wenn er bis an dein Haus reicht. So oder so.«

Von seinem Tisch aus sah Díaz Grey zu ihnen hinüber, während er trank. Er sah die breiten, über die Barhocker quellenden Hüften der Männer und die mageren Hinterbacken der zwei Frauen. Zaghaft kehrte der Regen zurück, spielte sich auf ein gleichmäßiges Rauschen ein, wurde fester Bestandteil der Dunkelheit, ein ihr hinzugefügter Gegenstand. An der Küste, rund um Sammlers Erfahrenheit, Selbstvertrauen, heimliche Erregtheit, würden die drei Prostituierten Mate trinken, Interesse zeigen, Gähnen unterdrücken, zusehen, wie diese erste Nachtwache im Häuschen herunterbrannte.

Nach hinten gelehnt, sahen die Frauen, die Marcos und seine Freunde begleiteten, eine in Hosen, die andere in Rock und Regenmantel, sich an und tauschten ein lustloses Lächeln; hinter dem Gespräch über Flugzeugtypen, Hubräume, Aktionsradien fühlten sie für einen kurzen Augenblick, daß sie sich etwas Entscheidendes zu sagen hatten; sie blinzelten, willenlos und schläfrig, sicher, daß sie es nie herausfinden würden. Sie lächelten von neuem und näherten ihre Brüste wieder der Theke, der Welt der Männer. Der Regen dauerte an, ohne Heftigkeit, statisch, wie eine ausgedehnte Tonfläche. Díaz Grey stellte sich Sammler bei der Feier vor: leicht betrunken, aufgewühlt von der Revanche, dem mit fünfzig Jahren errungenen Sieg, kühn, geblendet von Triumph und Stolz, drauf und dran, den drei Frauen das Geheimnis des Unternehmens zu offenbaren, das unglaubliche wahre Motiv, dem er gehorchte. Sie, frostig und mißtrauisch, verletzt von der Fahrt durch die leere Stadt, würden nach schmutzigen Wörtern suchen, um der Welt Normalität aufzuzwingen.

An der Theke, wie jeden Abend sich betrinkend, diskutierten die Männer über Motoren und Karosserien; Arm in Arm, langsam und flüsternd, hatten die Frauen den großen dunklen Salon durchquert, der die Bar von den Toiletten trennte. Díaz Grey dachte an den Schlaf oder die Schlaflosigkeit des Apothekers und Stadtrats Barthé im Schlafzimmer über seinem Geschäft, in dieser Nacht des sanften Regens, genau am Beginn der Verwirklichung seines alten zivilisatorischen Ideals, dick und horizontal, mit femininen Weichheiten, die dem kahlen, nah am Atem des Burschen ruhenden Kopf etwas Sanftes verliehen. Die Stunde des Triumphs, das Ja, das die zwölf Jahre abschlägiger Antworten in sich zusammenfallen ließ und die Erinnerung an die zwölf Eröffnungssitzungen des Rats mit ihren sechs eintönigen, vorausgesehenen Gegenstimmen zudeckte, hatte Barthé im Keller der Apotheke überrascht, vor Monaten, als er im frisch gewaschenen langen Kittel den Duft aus dem Sack voll Lindenblüten einatmete, den der Gehilfe offenhielt.

Einmal jährlich, zwölfmal, hatte er sich zu Wort gemeldet, sobald die patriotische Rede des Vorsitzenden beendet und ehe der Beifall verklungen war; und die sechs Augenpaare, immer die gleichen, obwohl ihre Besitzer wechselten, waren schon auf ihn gerichtet, abwartend, geduldig, distanziert freundschaftlich. Barthé schlug vor, den Antrag zu behandeln, den er eine Woche zuvor im Sekretariat eingereicht hatte. Bewegungslos, weißer die Rundheiten seines Gesichts, den kleinen Blick verächtlich ins Leere gerichtet, über den ovalen Tisch und die Schreibunterlagen hinweg, über den Spott hinweg, der vom zweiten Jahr an nicht mehr geäußert wurde, über den Skandal hinweg, der sich seit dem ersten Jahr hinter seinem Rücken entwickelte, sprach der Apotheker die nötigen Sätze – vielleicht hatte er nur deshalb für die Schaffung eines Stenografenpostens gestimmt, als die Mehrheit von den Radikalen auf die Konservativen übergegangen war –, ließ die Nachwelt wissen, daß er ihr um ein Vierteljahrhundert voraus sei, fest und leidenschaftslos, bereit, für seine Überzeugungen zu sterben.

»Ich begründe den Antrag nicht, da die Begründung ihm beiliegt und an die Herren vom Rat verteilt wurde.«

»Wenn es keine Einwände gibt …« sagte der Präsident.

Und sie stimmten ab, jedesmal sechs Stimmen gegen die Stimme Barthés; dann diskutierten sie über Abwasserkanäle und Omnibuslinien.

Der Apotheker begrub rasch die kurze, absurde Hoffnung; er legte die vorhergesehene Bitterkeit ab und mischte seine hohe, schmeichelnde Stimme unter die der anderen. Sechs Nein-Stimmen, ein paar ausweichende, flüchtig bedauernde Gesten, bekümmerte Verwunderung in den Gesichtern, die den Mut aufbrachten, ihn anzusehen: das war alles, von einem Monat März zum andern.

»Ich will Sie nicht stören«, rief Doktor Díaz Grey an jenem Nachmittag zu Beginn des Winters, über die offene Falltür gebeugt, die in den Keller der Apotheke führte. Barthé war unsichtbar; der Arzt sprach zu dem gelben Licht, das über die staubige Holztreppe hochkroch, zu den Geräuschen im Kessel, der warm zu werden begann, zu dem melancholischen Geruch der Feuchtigkeit, der Kräuter, der Kälte. »Ich muß Sie sprechen, und ich denke, am besten jetzt gleich. Kann ich hinunter?«

»Doktor …« Der runde, lächelnde Kopf Barthés tauchte fast waagrecht aus den schwarzbraunen Schatten und den Zonen schäbiger Helligkeit; seine offenen Handflächen zeigten Entschuldigung, Untröstlichkeit. »Wollen Sie nicht lieber einen Augenblick warten?«

»Man erwartet mich in der Praxis. Ich bin schon verspätet.«

Díaz Grey begann hinunterzusteigen, rückwärts, Hut und Handschuhe in einer Hand, mit dem Regenmantel die Stiege kehrend, ganz darauf konzentriert, den neuen blauen Anzug zu schützen. Er hielt die weiche, bewegungslose Hand des andern in der seinen, beobachtete das weiße, runde Lächeln, die Erregung, die nach und nach die fleischigen Wangen fleckte, das graumelierte blonde Brusthaar unter dem Ansatz der Schlüsselbeine.

»Mein lieber Doktor.« Gutmütig und erschrocken stand er da, den Kopf eingezogen ins Lächerliche wie in die Fettpolster, die ihn umgaben; er nahm ihm Hut und Handschuhe ab und schob ihn in die Mitte des Kellers, wo der Junge unter der gelben Glühbirne einen Papiersack mit den Beinen im Gleichgewicht und offenhielt. »Als hätten Sie genau den Moment am ganzen Tag erraten, an dem ich Sie nicht so empfangen kann, wie Sie es verdienen. Bis vor ein paar Minuten habe ich mich oben gelangweilt. Mit dem Regenwetter gibt es vielleicht mehr Krankheiten, aber die Kunden werden deshalb nicht mehr. Ich wollte die Lindenblüten nachsehen. Sie dürfen nicht abgefüllt werden, solange sie zu frisch sind, und außerdem muß man wissen, wie die Blüten und die Blätter verteilt werden. Gleich bin ich für Sie da. Ein bißchen hierher, mein Lieber, so.« Der Halbwüchsige neigte sich vor und verschob den Sack; er wartete, bis Díaz Grey ihn nicht ansah, um ihn rasch zu begutachten. »Noch zu frisch. Und bei diesem Wetter …« Andere Aromen kamen aus den Stapeln an den Kellerwänden, strichen um den Lindenblütengeruch, zersetzten ihn.

»Danke, mein Lieber«, sagte Barthé. Er bückte sich über den Sack und versenkte darin einen nackten Arm. Mit halbgeschlossenen Augen hob er eine Handvoll Lindenblüten an sein Gesicht und beroch sie, bewegte sie kreisend vor Nase und Lippen. Die niedere Stirn des Jungen blieb gesenkt. »Ja«, sagte Barthé in der Handvoll Lindenblüten. »Frisch, noch zu frisch.« Er öffnete die Hand über dem Sack. »Wir machen ihn besser wieder zu, notfalls können wir ein kleines Quantum trocknen.«

Während der Halbwüchsige den Sack aus dem Licht zog, richtete der Apotheker den Oberkörper auf und wandte Díaz Grey ein Gesicht zu, das absichtsvoll das Glück und die fünfzig Jahre zeigte, als wären beide immer darin verborgen gewesen und er offenbare sie jetzt, um zu überraschen, um die Szene mit dem Sack Lindenblüten abzuschließen. Er wischte sich den goldenen Staub von der Lippe, aus den Nasenlöchern.

»Alle diese Kräutersäcke … Die freie Natur ist natürlich besser. Aber hier ist … die Natur versammelt, Doktor.« Er nahm die freie Hand des Arztes, um sie zu tätscheln; einmal mehr empfand Díaz Grey ihn als unversehrt und verstümmelt. »Brauchen Sie etwas? Kann ich etwas für Sie tun?«

Ohne die Kraft, seine Hand zurückzuziehen, die verhaltene Unruhe in dem runden weißen Gesicht betrachtend, das unter der nackten Glühbirne glänzte, lächelte Díaz Grey und schlug einen leisen, hellen Ton an, um zu antworten. Der Junge, der auf dem Boden saß und an der Öffnung des Sacks herumfummelte, den er mit den Beinen festhielt, beobachtete sie verstohlen.

»Nein«, sagte der Arzt. »Es geht um Sie. Arcelo war bei mir in der Praxis. Einiges hat er schon gestern abend im Hotel durchblicken lassen. Heute nachmittag hat er mich beauftragt, Ihnen einen konkreten Vorschlag zu übermitteln.«

Barthé gab die Hand des Arztes frei und ließ die kurzen Arme fallen; das Gesicht war noch immer die fünfzig Jahre, aber schon nicht mehr das milde Glück; es war die fünfzig Jahre, vermehrt um die Strenge, die Pflicht, die Entrüstung, ein wenig Selbstmitleid.

»Ja«, sagte er, das Murmeln der Stimme des Arztes übernehmend; »er möchte, daß ich ihm meine Stimme für die Konzession auf den Hafen gebe.«

»Verzeihung«, sagte Díaz Grey. »Nicht ich schlage Ihnen etwas vor, nicht mich interessiert, was Sie beschließen werden. Sondern Arcelo.« Er nahm den Hut und die Handschuhe und begann sie auszuklopfen, bedauernd, ärgerlich.

»Nie«, flüsterte Barthé.

Ohne hinschauen zu müssen, sah Díaz Grey den kleinen rosigen Mund: gespitzt und unbestechlich.

»Er sagte mir, es gehe nicht um die Konzession auf den Hafen. Nur um den Dienst der Schauerleute.«

»Nie«, schnaufte Barthé; er lächelte im Martyrium. »Das wirft Erträge ab. Mag sein, daß es eine schlechte städtische Einrichtung ist, vielleicht funktioniert sie nicht gut. Aber sie wirft Erträge ab, und die gehören dem Volk. Und selbst wenn es nicht so wäre: öffentliche Einrichtungen müssen von der Gemeinde verwaltet, müssen sozialisiert werden.«

»Ja, einverstanden. Ich werde es Arcelo sagen.« Aber der andere redete weiter, eindringlich, verhalten, so als beichte er ihm ein Geheimnis.

»Es ist nur eine Frage der Zeit. Heute stehe ich im Rat allein da. Aber wir werden ja sehen, die Wahrheit bricht sich Bahn, Doktor. Und mit dem neuen Plan für Schulen in der Provinz …«

Eine Stille trat ein, und undeutlich, von ihnen abgetrennt wie eine Erinnerung, drang das leise Sausen des Windes vom Fluß her zu ihnen und rührte die Traurigkeit des Abends auf. Der Junge erhob sich und legte sich den Sack zwischen Arm und Schulter zurecht.

»Sie wissen es besser als ich, Doktor«, bettelte das dicke Gesicht geduldig und gekränkt. »Ich will Ihnen keine Reden halten.«

»Gut, ich bin in Eile. Ich werde in der Praxis erwartet und habe noch zwei Besuche in der Kolonie zu machen. Ich habe Arcelo versprochen, Ihnen den Vorschlag auszurichten. Die Konservativen wollen Ihre Stimme für die Konzession auf die Schauerleute. Falls Sie dafür stimmen, verpflichten sie sich, das Bordellprojekt zu genehmigen. Verstanden?«

Er wollte nur das Gesicht in dieser ersten Sekunde sehen, in der es anfing, Luft abzulassen und Würde einzubüßen; vielleicht sah er es so lange an, bis die Unruhe der Hoffnung sichtbar wurde, bis das Gesicht das Bestürzende der großen sterilen Freuden zeigte. Der Kiefer schien sich aus dem Fett abzustoßen und schnellte in einer raubgierigen, männlichen Geste auf den Arzt zu nach vorn.

»Verstanden?« wiederholte Díaz Grey. »Und mehr noch. Sie sind bereit, schon vorher für das Bordell zu stimmen, sobald Sie es ansprechen, wenn Sie ihnen Ihr Wort geben, später für die Konzession auf die Schauerleute zu stimmen.«

Aus dem Regal unter der Decke, wo der Gehilfe ihn zu verstauen suchte, fiel der Lindenblütensack mit einem dumpfen, weichen Aufprall zu Boden; zerknautscht und offen, einen dicken grünen Strahl aus sich entlassend, blieb er liegen. Über dem Duft der Lindenblüten, mit wehendem Kittel, als wäre der Wind in den Keller gefahren, schüttelte Barthé die Arme und beschimpfte die Furcht des Jungen, der sich an den Balken geklammert hatte und zuschaute. Díaz Grey sah die Augen voll Tränen in dem dicken, rot geflammten Gesicht, er hörte das Zittern, das der hohen, schluchzenden Stimme Ruhepausen abnötigte. Der Junge kletterte am Rand das Regal entlang und begann abzusteigen.

»Ich muß gehen.«

»Doktor … Verzeihen Sie das hier.« Doch die Arme Barthés zeigten nicht in den Keller der Drogerie, nicht auf das spärliche Licht oder die linkischen Bewegungen des Jungen neben dem Sack. »Verzeihen Sie mir. Ich möchte nachdenken. Was immer ich Ihnen jetzt sagen könnte …«

IV

Barthé sagte ja bei der zweiten Begegnung, nachdem er sich vier Tage lang geweigert hatte, den Arzt zu sprechen, die Drogerie einem Angestellten überließ und verschwand, ohne eine andere Spur zu hinterlassen als die Botschaft: »Doktor Barthé ist geschäftlich verreist. Wir glauben, in die Hauptstadt. Wir wissen nicht, wann er zurückkommt.«

Mitte des vierten Tages lief der Apothekerjunge die Treppe zu Díaz Grey hinauf und saß, zusammengekrümmt und apathisch, das Kinn in den Fäusten, den Blick starr auf die grünen Kacheln des kleinen Tischs gerichtet, im Wartezimmer, bis die Reihe an ihm war. Als er das Sprechzimmer betrat, zeigte er die Zähne und schniefte eine Weile, wobei er die Augen wegdrehte, dem Licht zu, das durch die Fenster fiel, und unter seiner Jacke wühlte.

»Was ist los mit dir?« fragte Díaz Grey. »Du siehst nicht aus, als ob du sehr krank wärst.«

Der Junge lächelte wieder und zeigte die Hand mit einem Briefumschlag.

»Das schickt Ihnen Doktor Barthé. Persönlich abzugeben.«

Der Brief war in der Finca »El Descanso« datiert – dem kleinen Gut zwischen der Kolonie und der Landstraße nach El Rosario, das Barthé besaß – und war mit sehr heller blauer Tinte in kleiner, regelmäßiger Schrift geschrieben.

»Lieber Bürger, Doktor und Freund: Die Krankheit überraschte mich, als möglicherweise ein Vorgefühl mich bewog, meine Pflichten für ein paar Tage zu vernachlässigen und Ruhe und neue Kräfte zu suchen in diesem Haus, das Ihres ist. Ein überaus schmerzhafter Anfall von Rheumatismus zwingt mich, Sie zu belästigen und mir die Ehre zu geben, die Hilfe des Fachmannes und Freundes zu erbitten. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie heute nachmittag kämen, falls Ihr wahres Apostolat dies zuläßt. Der Überbringer dieses ist wegekundig; er kann Sie zu Ihrer größeren Bequemlichkeit in meinem Auto herfahren. Ihr, wie Sie wissen, bedingungsloser Freund Euclides Barthé.«

Durch den feuchten, dunstigen Nachmittag, an einsamen, undeutlichen Landschaften vorüber, die sich seit dem Beginn der Schlechtwetterperiode nicht verändert zu haben schienen, die die stillen Pfützen in den Schlaglöchern, die Krümmung des kahlen Gezweigs, das deprimierende sanfte Licht, das sich in der Luft und auf der Erde ablagerte, gegen die Zeit erhalten zu haben schienen, fuhr Doktor Díaz Grey von Santa María zur Kolonie hinunter, beschrieb auf der sauberen asphaltierten Straße zwischen weißen Häusern mit Ziegeldächern und winzigen vergitterten, nie geöffneten Fenstern im Obergeschoß ein L; fuhr vom Zentrum der Kolonie auf die Landstraße mit den Gehöften, wurde vom Wagen und dem schweigenden Chauffeur (der rasierte Nacken beugte sich unnötig tief über das Steuer, die hochgezogenen Schultern schützten sich gegen jedweden Angriff, gegen eine gefürchtete Frage) wieder hinaufgetragen, quer durch die sich wiederholende, identische Szenerie: Schmutz, Stacheldrahtzäune, Holztüren mit dem Skelett der Geißblattranken, steifer, in Nebel übergehender Küchenrauch. Er erreichte den Scheitelpunkt des Hügels und fand, hinabfahrend, die gleiche Landschaft vor, die nun entschlossen und fanatisch die Elemente für sich in Anspruch nahm, die sie seit der ersten Junikälte angenommen hatte: einen grauen, tiefhängenden Himmel, kahle, triefende, schwärzliche Bäume, die dunkle Erde rutschig, traurig geworden ihr kräftiges Aroma, das Licht gleichsam ein Hindernis gegen das Eindringen des Autos, gegen die ersten, ungelenken Schritte, die Díaz Grey hinter dem torkelnden Rücken des Jungen auf das Haus zu tat.

Steif gefroren gingen sie zwischen weit auseinanderstehenden Bäumen über den unebenen, prätentiösen, schlecht gemähten Rasen dem undeutlichen Eingang zu; schweigend, langsam durchquerten sie den Entwurf eines Gartens.

»Doktor«, sagte der Junge, vor dem Apotheker strammstehend, und hob die Hand an die Schläfe.

Im Kamin qualmten ein paar Zweige; es bestand kaum ein Unterschied zur Temperatur draußen. Barthé heuchelte Überraschung, während er die mit Brot und Tasse beschäftigten Hände anhielt. Er trug eine Jacke aus grobem Leinen mit Schnüren, ein Tuch um den Hals.

»Es tut mir so leid, daß ich Sie belästigt habe …« Er zog den Arzt zu einem Stuhl, an dessen Beinen der Rauch aus dem Kamin hochleckte. »Du kannst draußen auf der Terrasse vor der Küche ein bißchen Holz hacken.«

»Ja«, sagte der Junge. »Wenn es Ihnen recht ist, wechsle ich rasch die Batterie aus.«

Die Kälte schien neben den knackenden Zweigen zuzunehmen. Mit verschränkten Händen die Knie aneinanderpressend, sah Díaz Grey den dicken Mann vorsichtig das Porzellan tragen und den Wasserkessel anstellen, um Tee zu bereiten; das runde Gesicht mischte in kaum sich verändernden Proportionen Sorge, List und eine tiefe, Güte heuchelnde Ruhe. ›Es wäre nicht anders, wenn er allein wäre; er ist der Schauspieler und das Publikum, der Held und die Geschichte. Aber er ist nicht verrückt; er überläßt sich seinem Prozentsatz an Dummheit rabiater als andere.‹

Während er den hellen, heißen Tee trank, hörte der Arzt ihn in phantastischen Euphemismen von dem Bordell sprechen und den notwendigerweise geheimen Charakter dieser ernsten politischen Unterredung ausspielen, deren Ergebnisse oder Nicht-Geheimhaltung sich auf die Zukunft von Santa María auswirken konnten, ja – zwangsläufig – mußten.

»So seltsam es Ihnen erscheinen mag, Doktor, um zur Sache zu kommen … Ich hatte keine Antwort parat. Und gesetzt, ich hätte sie gehabt – wie hätte ich wissen können, ob es die passende, die richtige Antwort war? Sie werden verstehen, in welches Dilemma mich Ihre Worte gestürzt haben! Und ich wollte keine improvisierte Antwort geben. Die Verantwortung am Ende eines Lebens, in dem es keinen Grund zu Reue gegeben hat …«

Mit seiner Matronenstimme, sie untermalend durch die Gesten der fleischigen, unbehaarten Finger, vermittelte Barthé den schönen Traum von der Gewissensfrage, von der Abgeschiedenheit auf dem Gipfel des Berges, von den Tagen des Ringens und der Meditation, in denen er Minute um Minute gekämpft hatte, um seine Urteilskraft von den Schlak-ken egoistischer Überlegungen zu reinigen.

›Vielleicht wünscht er sich im Grunde, daß die Leute ein Leuchtschild Großes Freudenhaus Barthé aufstellen oder daß anonyme Volksgerechtigkeit das Bordell so taufen wird.‹ Und nun, heimgekehrt vom Berge und von der Angst, gereinigt von den Schrecken der Vorschau, erschöpft und gelassen, hob er mit zwei Fingern die durchscheinende Tasse Tee, wurde sich des riesigen, mit Nippes, Töpfen, Bildern, Spitzendeckchen, Kupferstichen, Bändern und Kissen, Papierblumen, Staub und Kälte überladenen Raums bewußt; wurde sich der Bedeutung des Augenblicks und der Generation bewußt, die durch Díaz Greys Ohren ihm lauschte.

Er war ein Mann über Fünfzig, mit Haar wie Flaum rund um die rosige Schädelhaut, mit einem schwammigen, nackten Gesicht, mit sporadischem Aufleuchten von List und Gewinnsucht unter den vorzeitig ergrauten Brauen. Korrekt und schwerfällig rutschte er sich auf dem runden Sitz des Stuhls zurecht, die ungewöhnlich kleinen Schuhe glänzend und eng beieinander, die linke Hand in der Luft Bögen beschreibend oder, Innenfläche nach oben, sich darbietend auf dem Schenkel. Vielleicht wußte er, wovon er sprach, als er dem Gast seine Lebensgeschichte aufnötigte, Ungerechtigkeiten aufzählte und abschwächte; als die schrille Stimme Gemeinplätze, Kapitalismus, Oligarchie, landwirtschaftliche Genossenschaften, englische Labour-Politik abklapperte; als er durchblicken ließ, dies alles sei, wenn schon nicht ein geplantes Vorspiel, so doch eine schicksalhafte Vorgeschichte der Existenz eines Bordells in Santa María.

Am Kamin, in dem der Armvoll grüner Zweige, die der Junge gebracht hatte, brannte und verlosch, suchte Doktor Díaz Grey, in sich gekehrter Zuhörer, zusammenzutragen, was der ungestüme, wiederholungssüchtige Dicke von sich selbst nicht wußte. ›Hier an der Küste ist er geboren, und die Oberflächen von Fluß, Sand, freiem Feld haben ihn fünfzig Jahre lang isoliert und vernichtet, während die regelmäßig verkehrende Fähre ihm die Illusion erhalten hat und weiter erhält, er habe teil an den fernen Ereignissen, die er als die entscheidenden ansieht. Er ist kein Mensch; er ist wie alle Bewohner dieses Küstenstreifens eine bestimmte Intensität von Existenz, die sich in die Form seiner speziellen Manie, seines speziellen Schwachsinns ergießt und sie ausfüllt. Denn wir unterscheiden uns nur durch den Typus der selbstgewählten oder uns aufgezwungenen Selbstverneinung. Ein kleines, lächerliches Land, von der Küste bis zu den Gleisen hinter der Kolonie, in dem jeder an seine Rolle glaubt und sie ohne Anmut spielt. Und so bin ich, wenn ich mich ablenken lasse, wenn ich nicht mehr aufpasse, sondern teilnehme, der Doktor Díaz Grey, der den Arzt spielt, den Mann der Wissenschaft mit Kenntnissen, die weniger anfechtbar sind als die der alten Frauen, die in den Hütten an der Küste entbinden und Bauchweh und Behexung kurieren. Und so hat auch dieser arme Mann, den ich mich bemühe gern zu haben, seit vielen Jahren aufgehört, der echte und für immer unbekannte Euclides Barthé zu sein; und alle sehen ohne Mißtrauen zu, wie er den Apotheker, den Herboristen, den Ratsherrn und – von nun an bis zu seinem Tode – den Propheten der Bordelle von Santa María darstellt.‹

Nun sang die Kanarienvogelstimme das Präludium zur Annahme des Bündnisses mit dem rechten Flügel der Stadtverwaltung; sie kündigte an, daß der unvergeßliche Satz und die unvergeßliche Gebärde, mit denen es Barthé, seine Entscheidung im Stadtrat vorwegnehmend, zugunsten höherer Interessen akzeptierte, daß die Schauerleute den Herrn wechselten, sich dieser Winterabenddämmerung, dieser beginnenden Nacht auf dem platten Land einverleiben würden.

Liberal

»Ja, ich kenne ihn, ich habe ihn im Berna gesehen. Einmal kam er zu mir in die Praxis. Er heißt Larsen.«

Barthé ergriff die nun behandschuhte Hand des Arztes. Das weiße, wächserne Gesicht leuchtete schwach, als es sich schwitzend und aufgeregt näher schob.

»Und jetzt kommen wir zum schwierigsten Punkt der Unterredung, Doktor. Und hier kann ich nicht umhin festzustellen, daß ich Sie mißbrauche. Möchten Sie sich nicht eine Minute setzen?«

»Ich muß gehen«, sagte Díaz Grey ungeduldig, mit einem Anflug von Haß.

»Gut, es macht nichts, nur ein Wort. Ich muß Sie um einen weiteren Gefallen bitten. Ich weiß nicht, ob Sie … Ich stand wegen dieser Angelegenheit mit dem Kerl in Verbindung. Er ist vor Jahren aus El Rosario gekommen, und nun sagt er, ich sei schuld daran, daß er hiergeblieben ist und in der Zeitung arbeitet. Das stimmt nicht; ich habe ihm immer nur die Wahrheit gesagt, nämlich daß ich darauf vertraue, daß das Gesetz zuletzt doch noch erlassen wird. Und wie Sie nun wissen, hatte ich Grund dazu. Der Mensch ist verächtlich, aber notwendig. Ich weiß, daß er diese Art von Tätigkeit schon anderswo ausgeübt hat. Kurzum, er ist bei uns geblieben und verdient sich anständig seinen Lebensunterhalt.«

»Ja, ich kenne ihn. Vielleicht kann er es machen.«

»Er hat es selber vorgeschlagen. Aber das war vor Jahren, als ich sicher war, daß die Partei zwei Stadträte haben würde. Wir hatten eine Szene, er wurde ausfallend, ich blieb ruhig und fest. Ich habe nicht wieder mit ihm gesprochen. Sie werden das verstehen.« Draußen ertönte, heiser, wie vom Nebel erstickt, die Hupe. »Dieses Mistkerlchen, frech. Ist es zuviel verlangt, Doktor, Freund, wenn ich Sie bitte, diesen Mann aufzusuchen und herauszufinden, ob er noch interessiert ist?«

»Seien Sie unbesorgt. Morgen spreche ich mit Arcelo und mit ihm. Ich weiß nicht, welcher von beiden widerlicher ist; aber Sammler amüsiert mich mehr.«

Von der Ziegelmauer der Hausfront aus, seine Fettmassen leicht vorgeschoben in die bewegungslose, eisige Luft, hob der Apotheker zum Abschied die Stimme:

»Wenn auch nicht politisch, Doktor: im Herzen sind Sie ein echter Glaubensbruder.«

Frierend, hüpfend auf dem Rücksitz des Autos, vergaß Díaz Grey den Tag, dachte zurück an seine Empfindungen bei anderen unsichtbaren Landschaften, anderen nächtlichen Fahrten in regnerischen Wintern, anderen Gesichtern und Gebärden, Einsamkeiten, plötzlichen kurzen Überzeugungen. Seit vielen Jahren war sein Gedächtnis unpersönlich; er beschwor Menschen und Umstände, intuitiv erfaßte Bedeutungen, alte Irrtümer und Vorahnungen herauf, aus reiner Lust, sich Träumen zu überlassen, die er wählte, weil sie absurd waren.