Das Buch
Sie sind ein kleiner, tollkühner Haufen, der immer dort auftaucht, wo das Ende bevorsteht – wenn frei schwebende, Zehntausende von Kilometern durchmessende Habitate aus strategischen Gründen gesprengt werden, brennende Raumschiffe in den Tiefen des Alls lodern oder Planeten zu Staub zermalmt werden. Sie nehmen mit, was sie nur kriegen können, und profitieren so von einer Auseinandersetzung zwischen den Idiranern, einer uralten insektoiden Kriegerspezies, und der Kultur, dem übermächtigen Imperium der Maschinen. Sie vermeiden es tunlichst, sich zu einer der beiden Parteien zu bekennen. Doch unter ihnen befindet sich ein Gestaltwandler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Kultur mit allen Mitteln zu vernichten … Mit diesem Roman, jetzt schon ein moderner Klassiker, hat Iain Banks das Genre der Space Opera, der groß angelegten Weltraumabenteuer, nicht nur revitalisiert, sondern auch mit literarischen Weihen versehen. Bedenke Phlebas stand monatelang auf den britischen Bestsellerlisten.
Der Autor
Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman Die Wespenfabrik als neue, aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere Romane und Erzählungen, darunter auch etliche, die im selben Universum wie Bedenke Phlebas angesiedelt sind. Banks starb im Jahr 2013. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Literatur der letzten Jahrzehnte.
Iain Banks großer Kultur-Zyklus:
Bedenke Phlebas
Das Spiel Azad
Einsatz der Waffen
Ein Geschenk der Kultur
Exzession
Inversionen
Blicke windwärts
Sphären
Krieg der Seelen
Die Wasserstoffsonate
IAIN BANKS
BEDENKE PHLEBAS
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe: CONSIDER PHLEBAS
Deutsche Übersetzung von Rosemarie Hundertmarck
Deutsche Übersetzung des Anhangs von Jürgen Thomann
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Copyright © 1987 by Iain Banks
Copyright © 1993 des Anhangs by Iain Banks
Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
(sumroeng chinnapan, Jurik Peter, freestyle images)
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-11767-2
V003
Götzendienst ist schlimmer als Gemetzel.
Der Koran, 2:190
Heide oder Jude
O du, der das Rad dreht und windwärts lugt,
Bedenke Phlebas, der einst schön und stark war wie du.
T. S. Eliot: Das wüste Land, IV
PROLOG
Das Raumfahrzeug hatte nicht einmal einen Namen. Es hatte keine menschliche Besatzung, weil das Fabrikschiff, das es gebaut hatte, vor langer Zeit evakuiert worden war. Aus dem gleichen Grund hatte es kein Lebenserhaltungssystem und keine Unterkünfte. Es hatte keine Klassennummer und keine Flottenkennzeichnung, weil es ein Flickwerk war, zusammengesetzt aus Teilen und Stücken verschiedener Typen von Kriegsschiffen, und es hatte keinen Namen, weil dem Fabrikschiff für solchen Firlefanz keine Zeit mehr geblieben war.
Die Werft schusterte das Schiff zusammen, so gut es ihr mit ihren zusammengeschmolzenen Vorräten an Komponenten möglich war. Allerdings war der größte Teil der Waffen-, Energie- und sensorischen Systeme entweder fehlerhaft oder veraltet oder reif zur Überholung. Das Fabrikschiff wusste, seine eigene Zerstörung war unvermeidlich, aber es bestand immerhin eine Chance, dass die Geschwindigkeit und das Glück seiner letzten Schöpfung für eine Flucht reichten.
Die eine perfekte, unbezahlbare Komponente, die das Fabrikschiff tatsächlich besaß, war das außerordentlich mächtige – wenn auch noch unerfahrene und ungeübte – elektronische Gehirn, um das herum es den Rest des Fahrzeugs konstruierte. Wenn es das Gehirn in Sicherheit bringen konnte, dann hatte das Fabrikschiff, wie es dachte, seine Sache gut gemacht. Trotzdem gab es einen weiteren Grund – und das war der wirkliche Grund –, warum die Werftmutter ihrem Kriegsschiff-Kind keinen Namen gab. Sie meinte, ihm mangele es an noch etwas: an Hoffnung.
Als das Raumfahrzeug die Montagebucht des Fabrikschiffs verließ, war an seiner Ausstattung das Meiste noch zu tun. Hart beschleunigend, folgte es einem Kurs, der eine vierdimensionale Spirale durch einen Blizzard aus Sternen zog, wo, wie es wusste, überall Gefahren lauerten. Mit abgenutzten Maschinen aus einem überholten Schiff der einen Klasse warf es sich in den Hyperraum, sah mit kriegsgeschädigten Sensoren einer zweiten seinen Geburtsort achtern verschwinden und testete veraltete Waffeneinheiten, die von einer dritten Klasse ausgeschlachtet waren. Innerhalb seiner Kriegsschiffhülle mühten sich in engen, unbeleuchteten, ungeheizten, luftlosen Räumen Bauroboter damit ab, Sensoren, Versetzer, Feldgeneratoren, Schirmunterbrecher, Laserfelder, Plasmakammern, Gefechtskopf-Magazine, Manövriereinheiten, Reparatursysteme und die Tausende anderer größerer und kleinerer Komponenten zu installieren oder zu vervollständigen, die ein Kriegsschiff erst funktionsfähig machen. Während es durch die weiten, offenen Räume zwischen den Sternensystemen fegte, änderte sich die innere Struktur des Fahrzeugs nach und nach, und je weiter die Bauroboter mit ihrer Arbeit voranschritten, desto weniger chaotisch und desto normaler wurde es.
Nach mehrmals zehn Stunden seiner ersten Reise, als es gerade seinen Spurscanner testete, indem es ihn auf den zurückgelegten Weg richtete, registrierte das Schiff eine einzige massive Annihilierungsexplosion weit hinter sich, wo das Fabrikschiff gewesen war. Es beobachtete eine Weile die aufblühende Strahlungssphäre, dann schaltete es das Scannerfeld auf genau voraus und jagte noch mehr Energie durch seine bereits überlasteten Triebwerke.
Das Schiff tat alles, was es konnte, um eine Kampfhandlung zu vermeiden. Es hielt sich ein gutes Stück von den Routen entfernt, die feindliche Fahrzeuge wahrscheinlich benutzen würden. Es behandelte jeden Hinweis auf irgendein Fahrzeug als bestätigten feindlichen Sichtkontakt. Während es kreuz und quer und hinauf und hinunter dahinzog, spiralte es gleichzeitig, so schnell es konnte und so direkt, wie es das wagte, den Zweig des galaktischen Arms hinunter, in dem es geboren worden war, immer Kurs auf den großen Isthmus und den verhältnismäßig leeren Raum jenseits davon haltend. Auf der anderen Seite, am Rande des nächsten Zweigs, mochte es Sicherheit finden.
Gerade als es diese erste Grenze erreichte, wo die Sterne wie eine glitzernde Klippe vor der Leere aufragten, wurde es entdeckt.
Eine Flotte feindlicher Fahrzeuge, deren Kurs zufällig dem fliehenden Schiff nahe genug kam, entdeckte seine ungleichmäßige, geräuschvolle Emissionssphäre und fing es ab. Das Schiff lief genau in ihren Angriff und wurde überwältigt. Seine Waffen fielen aus, und langsam und verwundbar, wie es war, erkannte es beinahe auf der Stelle, dass es keine Chance hatte, der gegnerischen Flotte irgendeinen Schaden zuzufügen.
Deshalb zerstörte es sich selbst. Es ließ seinen Vorrat an Gefechtsköpfen in einem plötzlichen Energieausbruch detonieren, der eine Sekunde lang, nur im Hyperraum, den gelben Zwergstern eines nahe gelegen Systems überstrahlte.
In einem Muster um das Schiff verstreut, bildeten die Tausende explodierender Gefechtsköpfe einen Augenblick bevor das Schiff selbst zu Plasma zerstäubte, eine sich schnell ausdehnende Strahlungssphäre, aus der hinaus eine Flucht unmöglich schien. Gegen Ende des Sekundenbruchteils, den die ganze Kampfhandlung dauerte, gab es ein paar Millionstel, in denen die Kampf-Computer der feindlichen Flotte kurz das vierdimensionale Gewirr expandierender Strahlung analysierten und erkannten, dass es einen einzigen verblüffend komplizierten und sehr unwahrscheinlichen Weg aus den konzentrischen Kugeln eruptierender Energien gab, die sich jetzt wie die Blätter einer riesigen Blüte zwischen den Sternensystemen öffneten. Es war jedoch keine Route, die das Gehirn eines kleinen, archaischen Kriegsschiffes hätte planen und schaffen, und der es sodann hätte folgen können.
Zu dem Zeitpunkt, als festgestellt wurde, dass das Gehirn des Schiffs genau diesen Pfad durch seinen Annihilierungsschirm genommen hatte, konnte man es nicht mehr daran hindern, durch den Hyperraum auf einen kleinen, kalten Planeten zuzufallen. Es war, von innen gerechnet, der vierte der isolierten gelben Sonne des nahe gelegenen Systems.
Ebenso war es zu spät, etwas gegen das Licht von den explodierenden Gefechtsköpfen des Schiffes zu unternehmen. Es war zu einem einfachen Code angeordnet worden, der das Schicksal des Schiffes sowie das Wehrdienstverhältnis und die Position des Gehirns beschrieb, lesbar für jeden, der das wesenlose Licht bei seinem Lauf durch die Galaxis sah. Vielleicht am schlimmsten von allem war – und hätte ihre Konstruktion es ihnen erlaubt, dann hätten diese elektronischen Gehirne darauf mit Bestürzung reagiert –, dass es sich bei dem Planeten, auf den sich das Gehirn durch seinen Schirm aus Explosionen gerettet hatte, nicht um einen handelte, den man einfach hätte angreifen oder zerstören oder auf dem man auch nur hätte landen können. Es war Schars Welt, nahe der Region leeren Raums zwischen zwei galaktischen Armen, die man den »Düsteren Golf« nannte, und es war einer der verbotenen Planeten der Toten.
ERSTER TEIL
SORPEN
Das Zeug war jetzt bis an seine Oberlippe gestiegen. Auch wenn er den Kopf fest gegen die Steine der Zellenwand drückte, befand sich seine Nase nur knapp über der Oberfläche. Er würde seine Hände nicht mehr rechtzeitig freibekommen; er würde ertrinken.
In der Dunkelheit der Zelle, in dem Gestank und der Wärme, während der Schweiß ihm über die Stirn lief, seine Augen fest geschlossen waren und er ununterbrochen in Trance verharrte, versuchte ein Teil seines Verstandes, sich an die Vorstellung seines eigenen Todes zu gewöhnen. Aber wie ein unsichtbares Insekt, das in einem stillen Raum herumsummt, war da etwas anderes, etwas, das nicht weggehen wollte, das ihm nichts nützte und ihn nur irritierte. Es war ein Satz, irrelevant und sinnlos und so alt, dass er nicht mehr wusste, wo er ihn gehört oder gelesen hatte, und er lief immerzu rundherum über die Innenwand seines Kopfes wie eine Murmel in einem Krug:
Die Jinmoti von Bozlen Zwei töten die Personen, die, durch Erbfolge dazu bestimmt, den Ritualmord an der engeren Familie des Jahreskönigs ausführen, indem sie sie in den Tränen des kontinentalen Empathaur in seiner Traurigkeitszeit ertränken.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt, kurz nachdem seine Qualen begonnen hatten und er sich erst teilweise in Trance befand, hatte er sich gefragt, was passieren würde, wenn er sich übergab. Das war gewesen, als die Palastküche – vielleicht fünfzehn oder sechzehn Stockwerke über ihm, wenn er richtig schätzte – ihren Abfall das gewundene Netzwerk von Rohrleitungen hinunterschickte, die in die Kloakenzelle führten. Die gurgelnde, wässerige Masse hatte verfaulte Essensreste losgerissen, die vom letzten Mal, als irgendein armer Teufel in Schmutz und Abfall ertränkt worden war, übrig waren, und in dem Augenblick hatte er befürchtet, er müsse erbrechen. Fast war es tröstlich gewesen, als seine Berechnung ergab, dass das für den Zeitpunkt seines Todes keinen Unterschied bedeutete.
Dann hatte er darüber nachgedacht – in diesem Zustand nervöser Leichtfertigkeit, wie er manchmal solche überfällt, die in einer lebensbedrohenden Situation nichts weiter tun können als warten –, ob Weinen seinen Tod beschleunigen würde. Theoretisch ja, wenn es auch praktisch keine Rolle spielte. Aber dann fing dieser Satz an, in seinem Kopf herumzurollen.
Die Jinmoti von Bozlen Zwei töten die Personen, die, durch Erbfolge dazu bestimmt …
Die Flüssigkeit, die er nur zu deutlich hören und fühlen und riechen konnte – und wahrscheinlich hätte er sie auch sehen können, wenn seine alles andere als normalen Augen offen gewesen wären –, schwappte kurz nach oben und berührte die Unterseite seiner Nase. Er spürte, dass sie seine Nüstern blockierte, sie mit einem Gestank füllte, der ihm den Magen umdrehte. Aber er schüttelte den Kopf, versuchte seinen Schädel noch weiter gegen die Steine zu zwängen, und die scheußliche Brühe senkte sich. Er schnaubte und vermochte wieder zu atmen.
Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Wieder überprüfte er seine Handgelenke, aber es hatte keinen Sinn. Er hätte eine weitere Stunde oder mehr gebraucht, und ihm blieben, wenn er Glück hatte, noch Minuten.
Die Trance löste sich sowieso auf. Er kehrte zu beinahe vollständigem Bewusstsein zurück, als wolle sein Gehirn seinen eigenen Tod, seine eigene Auslöschung voll und ganz wahrnehmen. Er versuchte an etwas Tiefgründiges zu denken oder sein Leben blitzartig an sich vorüberziehen zu lassen oder sich plötzlich an irgendeine alte Liebe, eine längst vergessene Prophezeiung oder Vorahnung zu erinnern, doch da war nichts, nur ein sinnloser Satz und das Gefühl, im Schmutz und Abfall anderer Leute zu ertrinken.
Ihr alten Schurken, dachte er. Einer ihrer wenigen humoristischen oder originellen Züge war es, dass sie eine elegante, ironische Todesart erfunden hatten. Als wie passend mussten sie es empfinden, wenn sie ihre altersschwachen Körper zu den Toiletten des Bankettsaales schleppten, dass sie buchstäblich auf alle ihre Feinde schissen und sie auf diese Weise töteten!
Der Luftdruck stieg, und ein fernes, stöhnendes Grollen von Flüssigkeit kündigte einen weiteren Sturzbach von oben an. Ihr gemeinen Schurken. Nun, ich hoffe, wenigstens du hältst dein Versprechen, Balveda.
Die Jinmoti von Bozlen Zwei töten die Personen, die, durch Erbfolge dazu bestimmt … dachte ein Teil seines Gehirns, während die Rohre in der Decke blubberten und der Abfall in die warme Masse von Flüssigkeit spritzte, die die Zelle beinahe füllte. Die Welle ging über sein Gesicht, fiel wieder zurück, um seine Nase für eine Sekunde freizulassen und ihm Zeit zu geben, eine Lunge voll Luft einzusaugen. Dann stieg die Flüssigkeit sacht, berührte von Neuem die Unterseite seiner Nase und blieb dort.
Er hielt den Atem an.
Anfangs hatte es wehgetan, als sie ihn aufgehängt hatten. Sein ganzes Gewicht hing an seinen Händen, die, in engen Lederbeuteln festgebunden, direkt über seinem Kopf mit dicken Eisenschlingen an der Zellenwand festgeschraubt waren. Seine zusammengebundenen Füße baumelten innerhalb eines Eisenrohrs. Es war ebenfalls an der Wand befestigt, sodass es ihm unmöglich war, etwas von seinem Gewicht auf Füße und Knie zu verlagern und seine Beine um mehr als eine Handbreit von der Wand weg oder nach links und rechts zu bewegen. Das Rohr endete gleich oberhalb seiner Knie. Darüber versteckte nur ein dünnes und schmutziges Lendentuch seine alte, schmuddelige Nacktheit.
Er hatte den Schmerz in seinen Handgelenken und Schultern abgeschaltet, noch während die vier stämmigen Wächter, zwei davon auf Leitern stehend, seine Fesseln sicherten. Trotzdem hatte er im Hinterkopf dieses nagende Gefühl, dass er eigentlich Schmerzen empfinden müsse. Dann war die Oberfläche des Schmutzes in der kleinen Kloakenzelle gestiegen, und es hatte langsam nachgelassen.
Sobald die Wächter gegangen waren, hatte er sich in Trance versetzt, obwohl er sich sagen musste, dass es wahrscheinlich hoffnungslos war. Es hatte nicht lange gedauert; die Zellentür öffnete sich innerhalb von Minuten wieder, ein metallener Laufsteg wurde von einem Wächter auf die feuchten Steinplatten des Fußbodens gelegt, und vom Korridor fiel Licht in die Dunkelheit. Er hatte die Wandlungstrance unterbrochen und sich den Hals verrenkt, um zu sehen, wer sein Besucher war.
Es erschien, einen kurzen Stab leuchtenden kalten Blaus in der Hand, die gebeugte, graue Gestalt von Amahain-Frolk, Sicherheitsminister für die Gerontokratie von Sorpen. Der alte Mann lächelte ihm zu und nickte anerkennend. Dann blickte er in den Korridor zurück und winkte mit einer dünnen, entfärbten Hand jemandem, der außerhalb der Zelle stand, auf den kurzen Laufsteg zu treten und hereinzukommen. Der Gefangene vermutete, es sei die Kultur-Agentin Balveda, und sie war es. Sie schritt leichtfüßig über die metallene Planke, sah sich langsam um und ließ den Blick auf ihm ruhen. Er lächelte und rieb in dem Versuch, grüßend zu nicken, die Ohren an den nackten Armen.
»Balveda! Ich wusste doch, dass ich Sie wiedersehen würde. Wollen Sie dem Gastgeber Guten Tag sagen?« Er zwang sich zu einem Grinsen. Offiziell war es sein Bankett; er war der Gastgeber. Ein weiterer kleiner Scherz der Gerontokratie. Er hoffte, seine Stimme habe keine Anzeichen von Furcht verraten.
Perosteck Balveda, Agentin der Kultur, einen ganzen Kopf größer als der alte Mann neben ihr und hinreißend schön sogar in dem bleichen Glühen des blauen Leuchtstabs, schüttelte langsam den schmalen, fein gezeichneten Kopf. Ihr kurzes, schwarzes Haar lag wie ein Schatten auf ihrem Schädel.
»Nein«, sagte sie, »ich wollte Sie weder sehen noch mich von Ihnen verabschieden.«
»Sie haben mich an diesen Ort gebracht, Balveda«, stellte er ruhig fest.
»Ja, und hier gehörst du hin«, fiel Amahain-Frolk ein und trat auf dem Laufsteg so weit vor, wie er es tun konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und auf den nassen Fußboden treten zu müssen. »Ich wollte, dass du erst gefoltert würdest, aber Miss Balveda hier …« – der Minister drehte den Kopf zu der Frau zurück, und seine hohe, kratzige Stimme hallte in der Zelle wider – »bat für dich, Gott allein weiß, warum. Aber es ist schon der Ort, an den du gehörst, Mörder.« Er schüttelte den Stab gegen den fast nackten Mann, der an der schmutzigen Wand der Zelle hing.
Balveda betrachtete ihre Füße, die unter dem Saum ihres langen, trist-grauen Gewands eben noch sichtbar waren. Ein runder Anhänger, den sie an einer Kette um den Hals trug, glitzerte in dem aus dem Korridor hereinfallenden Licht. Amahain-Frolk stand neben ihr, hob den leuchtenden Stab und schielte an dem Gefangenen hoch.
»Wissen Sie, noch jetzt könnte ich beinahe schwören, dort hänge Egratin. Ich kann …« – er schüttelte den hageren, knochigen Kopf – »ich kann kaum glauben, dass er es nicht ist, jedenfalls so lange nicht, bis er den Mund öffnet. Mein Gott, diese Wandler sind furchtbar gefährliche Kreaturen!« Er drehte das Gesicht Balveda zu. Sie strich sich das Haar im Nacken glatt und blickte auf den alten Mann nieder.
»Sie sind außerdem ein altes und stolzes Volk, Minister, und es sind nur noch sehr wenige von ihnen übrig. Darf ich Sie noch ein einziges Mal bitten? Lassen Sie ihn am Leben. Vielleicht ist er …«
Der Gerontokrat schwenkte seine dünne und verkrümmte Hand gegen sie; sein Gesicht verzerrte sich. »Nein! Sie täten gut daran, Miss Balveda, nicht länger darum zu bitten, dass dieser … dieser Meuchler, dieser mörderische, verräterische … Spion verschont werde. Glauben Sie, wir nehmen es leicht, dass er einen unserer Außenwelt-Minister feige ermordet hat und als seine Verkörperung aufgetreten ist? Welchen Schaden hätte dieses … Ding anrichten können! Als wir es festnahmen, starben zwei unserer Wächter, nur weil es sie gekratzt hatte! Ein weiterer ist fürs Leben blind, nachdem dieses Monster ihm ins Auge spie! Aber …« – verhöhnte Amahain-Frolk den an die Wand geketteten Mann – »diese Zähne haben wir ausgezogen. Und seine Hände sind so gefesselt, dass er sich nicht einmal selbst kratzen kann.« Er wandte sich wieder an Balveda. »Sie sagen, es sind wenige? Ich sage: Gut, bald wird noch einer weniger da sein.« Der alte Mann sah die Frau mit zusammengekniffenen Augen an. »Wir sind Ihnen und Ihren Leuten dankbar, dass Sie diesen Betrüger und Mörder enttarnt haben, aber Sie dürfen nicht glauben, das gebe Ihnen das Recht, uns Vorschriften zu machen. Es gibt Personen in der Gerontokratie, die absolut nichts mit Einflüssen von außen zu tun haben wollen, und ihre Stimmen werden Tag für Tag lauter, je näher der Krieg uns rückt. Sie täten gut daran, jene unter uns, die Ihre Sache unterstützen, nicht gegen sich aufzubringen.«
Balveda schürzte die Lippen, blickte von Neuem auf ihre Füße und verschränkte die schmalen Hände hinter dem Rücken. Amahain-Frolk sprach wieder mit dem an der Wand hängenden Mann und schüttelte dabei den Stab gegen ihn. »Du wirst bald tot sein, Betrüger, und mit dir sterben die Pläne deiner Herren, unser friedliches System zu unterjochen! Das gleiche Schicksal erwartet sie, wenn sie versuchen, uns zu erobern. Wir und die Kultur sind …«
Der Gefangene bewegte, so gut er konnte, verneinend den Kopf und rief laut: »Frolk, du bist ein Idiot!« Der alte Mann zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. Der Wandler fuhr fort: »Erkennst du nicht, dass ihr der Übernahme in keinem Fall entrinnen könnt? Wahrscheinlich werden die Idiraner euch kassieren, aber wenn nicht sie, dann die Kultur. Ihr habt keine Gewalt mehr über euer eigenes Schicksal; der Krieg hat all dem ein Ende bereitet. Bald wird dieser ganze Sektor Teil der Front sein, es sei denn, ihr macht ihn zu einem Teil der idiranischen Sphäre. Ich bin bloß hergeschickt worden, um euch etwas zu sagen, worauf ihr von allein hättet kommen sollen – redet euch nicht ein, ihr müsstet etwas tun, was ihr später bereuen werdet. Um Gottes willen, Mann, die Idiraner werden euch nicht fressen …«
»Ha! Sie sehen ganz danach aus! Ungeheuer mit drei Füßen, Invasoren, Killer, Ungläubige … Du willst, dass wir uns mit ihnen verbünden? Mit dreimannshohen Monstern? Um unter ihre Hufe gestampft zu werden? Um ihre falschen Götter anbeten zu müssen?«
»Wenigstens haben sie einen Gott, Frolk. Die Kultur hat keinen.« Die Konzentration aufs Sprechen bewirkte, dass der Schmerz in seine Arme zurückkehrte. Er verlagerte seinen Körper, so gut es gehen mochte, und blickte auf den Minister nieder. »Sie denken wenigstens auf die gleiche Weise wie ihr. Die Kultur tut es nicht.«
»O nein, mein Freund, o nein.« Amahain-Frolk hob dem Gefangenen eine Handfläche entgegen und schüttelte den Kopf. »Es wird dir nicht gelingen, auf diese Weise den Samen der Zwietracht zu säen.«
»Mein Gott, du dummer alter Mann«, sagte der Wandler lachend. »Möchtest du wissen, wer der wirkliche Vertreter der Kultur auf diesem Planeten ist? Nicht sie«, er deutete mit einem Kopfnicken zu der Frau hin. »Es ist dieser mit eigenem Antrieb versehene Fleischschneider, der ihr überallhin folgt, ihr fliegendes Messer. Sie mag die Entscheidungen treffen, es mag tun, was sie ihm sagt, und trotzdem ist es der eigentliche Abgesandte. Das ist der Kern der Kultur: Maschinen. Du glaubst, weil Balveda zwei Beine und eine weiche Haut hat, musst du ihre Partei ergreifen, aber es sind die Idiraner, die in diesem Krieg auf der Seite des Lebens stehen …«
»Nun, in Kürze wirst du auf der anderen Seite des Lebens sein.« Der Gerontokrat schnaubte und streifte Balveda mit einem Blick. Die Agentin betrachtete unter gesenkten Wimpern den an die Wand geketteten Mann. »Gehen wir, Miss Balveda.« Amahain-Frolk drehte sich um und nahm den Arm der Frau, um sie aus der Zelle zu geleiten. »Die Anwesenheit dieses … Dings erzeugt einen übleren Geruch als die Zelle.«
Da sah Balveda zu dem Gefangenen auf. Sie ignorierte den neben ihr zwergenhaften Minister, der versuchte sie zur Tür zu ziehen. Sie sah den Gefangenen mit ihren klaren, schwarzen Augen an und breitete die Hände aus. »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm.
»Ob Sie es glauben oder nicht, das beschreibt auch meine Empfindungen recht gut«, erwiderte er mit einem Nicken. »Versprechen Sie mir nur, dass Sie heute Abend ganz wenig essen und trinken werden, Balveda. Ich möchte mir gern vorstellen, dass eine Person da oben auf meiner Seite ist, und das kann ebenso gut meine schlimmste Feindin sein.« Er wollte provozierend und witzig sprechen, aber es klang nur bitter. Er wandte die Augen von dem Gesicht der Frau ab.
»Ich verspreche es«, sagte Balveda. Sie ließ sich zur Tür führen. Das blaue Licht schwand aus der dumpfigen Zelle. An der Tür blieb sie stehen. Wenn er seinen Kopf unter Schmerzen vorreckte, konnte er sie gerade noch erkennen. Das fliegende Messer war auch da, stellte er fest, gerade noch im Raum. Wahrscheinlich war es die ganze Zeit dort gewesen, aber ihm war der schlanke, scharfe kleine Körper, der dort in der Dunkelheit schwebte, nicht aufgefallen. Er sah in Balvedas dunkle Augen. Das fliegende Messer bewegte sich.
Eine Sekunde lang glaubte er, Balveda habe die Maschine instruiert, ihn jetzt zu töten – lautlos und schnell, solange sie Amahain-Frolk die Sicht versperrte –, und sein Herz hämmerte. Aber der Apparat schwebte nur an Balvedas Gesicht vorbei und in den Korridor hinaus. Balveda hob die Hand in einer Geste des Abschieds.
»Bora Horza Gobuchul«, sagte sie, »ich grüße Sie.« Sie drehte sich schnell um, trat von der Plattform und verließ die Zelle. Der Laufsteg wurde hinausgezogen und die Tür zugeknallt. Gummiflanschen schabten über den schmutzigen Boden und zischten kurz auf, als die inneren Siegel die Tür wasserdicht machten. Der Gefangene hing dort, sah einen Augenblick auf einen unsichtbaren Fußboden nieder und versenkte sich wieder in die Trance, die seine Handgelenke wandeln und sie so dünn machen würde, dass er entfliehen konnte. Etwas an der feierlichen, endgültigen Art, mit der Balveda seinen Namen ausgesprochen hatte, hatte ihn innerlich zermalmt. Jetzt wusste er, falls er es nicht schon längst gewusst hatte, dass es keine Flucht gab.
… indem sie sie in den Tränen …
Seine Lungen barsten! Sein Mund zitterte, die Kehle schnürte sich ihm zu, Dreck war in seinen Ohren, aber er konnte ein großes Getöse hören, konnte Licht sehen, obwohl es stockdunkel war. Seine Magenmuskeln wogten, und er musste die Zähne fest zusammenpressen, damit sein Mund nicht nach der Luft schnappte, die nicht da war. Jetzt. Nein … jetzt musste er aufgeben. Noch nicht … jetzt bestimmt. Jetzt, jetzt, jetzt, jede Sekunde musste er vor diesem schrecklichen schwarzen Vakuum in seinem Innern kapitulieren … er musste atmen … jetzt!
Bevor er Zeit fand, den Mund zu öffnen, wurde er gegen die Wand geschmettert – gegen die Steine gestoßen, als habe ihn eine gewaltige eiserne Faust getroffen. In einem einzigen krampfhaften Stoß entließ er die schale Luft aus seinen Lungen. Sein Körper war plötzlich kalt, und in allen Teilen, mit denen er die Wand berührte, hämmerte der Schmerz. Der Tod, so schien es ihm, war Gewicht, Schmerz, Kälte … und zu viel Licht …
Er hob mühsam den Kopf. Er stöhnte unter dem Licht. Er versuchte zu sehen, versuchte zu hören. Was geschah? Warum atmete er? Warum war er von Neuem so verdammt schwer? Sein Körper riss ihm die Arme aus den Gelenken; seine Handgelenke waren fast bis auf den Knochen eingerissen. Wer hatte ihm das angetan?
Wo er auf die gegenüberliegende Wand geblickt hatte, war ein sehr großes und gezacktes Loch, das bis unter das Niveau des Zellenfußbodens reichte. Aller Unrat und Müll war hindurchgestürzt. Die letzten paar Tropfen verzischten an den heißen Rändern der Lücke. Dampf stieg auf und kräuselte sich um die Gestalt, die dort im Freien stand und den größten Teil des hellen Lichts blockierte. Die Gestalt war drei Meter hoch und ähnelte in etwa einem kleinen, gepanzerten Raumschiff auf einem Dreifuß von dicken Beinen. Sein Helm war groß genug, um drei menschliche Köpfe Seite an Seite aufzunehmen. Eine gigantische Hand hielt beinahe lässig eine Plasmakanone, die nur zu heben Horza beide Arme gebraucht hätte. Die andere Faust des Wesens umfasste eine etwas größere Waffe. Hinter ihm näherte sich eine idiranische Gefechtsplattform dem Loch, hell erleuchtet vom Licht der Explosionen, die Horza jetzt durch das Eisen und die Steine, an die er gefesselt war, spürte. Er hob den Kopf zu dem Riesen auf, der in der Lücke stand, und versuchte zu lächeln.
»Ich muss schon sagen«, krächzte und spuckte er, »ihr habt euch Zeit gelassen.«
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DIE HAND GOTTES 137