Auf der Fähre von Kiel nach Oslo
Oslo
Im Hotel „Thon Bristol“ in Oslo
Zur Geschichte Norwegens (I)
Das Ibsen-Museum in Oslo
Henrik Ibsen (1828-1906) - Leben und Werk
Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910)
Edvard Munch (1863-1944)
Edvard Munchs Bilder im Munch Museum Oslo
Der Schrei, 1893
Der Lebensfries – ein Gedicht über die Liebe, die Angst und den Tod
Lyrik zu Bildern von Edvard Munch
Nordische Mythologie
Bygdøy – Museums-Halbinsel
Die Wikinger
Exponate des Wikingermuseums
Fridtjof Nansen und das Fram-Museum
Expedition mit der Fram (1893-96)
Roald Amundsen (1872-1928)
Thor Heyerdahl und das Kon-Tiki-Museum
Volkskundemuseum Oslo
Historisches Museum Oslo
Vigeland-Park (Frogner-Park)
Von Oslo zur Hardangervidda
Die Stabkirche von Torpo
Zur Geschichte Norwegens (II)
Bergen I
Ole Bull, Geiger und Komponist aus Bergen
Edvard Grieg (1843-1907)
Henrik Ibsen, Peer Gynt
Griegs Musik
Peer Gynt Suite N.2, Op.55
Über Trolle
Der Aschenhans
Bergen II
Hanseviertel Bryggen
Stadtrundgang
Der Fløyen und die norwegischen Frauen
Jan Garbarek
Von Bergen nach Ålesund
Lygra – Insel der Schafe
Fjordlandschaften
Der Jostedalsbree – Norwegens Gletscherwelt
Ibsens „Brand“ und die Kirche in Norwegen
Die Stabkirche von Lom
Übernachtung im Grotli
Von Ålesund nach Trondheim
Fischereiwirtschaft
Karin Krog und Molde
Von Molde nach Trondheim
Trondheim – die alte Königsstadt
Der Nidarosdom
Von Trondheim ins Binnenland
Rondane und die Samen
Mari Boine und die Musik der Samen
Røros - Kupferbergbau
Rondane Nationalpark
Lillehammer und das Freilichtmuseum Maihaugen
Zurück nach Oslo
Norwegen und die Emanzipation der Frau
Ein paar Daten
Die Nationalgalerie Oslo und die Maler
Exkurs: Norwegische Maler in der Künstlerkolonie Skagen
Im Nationalmuseum Oslo
Der Esslinger Rolf Nesch in der Nationalgalerie
Auf der Fähre von Oslo nach Kiel
Literatur
Graublau getönt erstreckt sich die Ostsee. Auch die Küste verläuft ohne großen Kontrast zum Wasser, so als wolle sich das scheidende Land mit ganz leicht nieselndem Nebeldunst unauffällig verabschieden. Die ‚Gorch Fock’ liegt weit entfernt am Rande des Militärhafens. Der Nord-Ostsee-Kanal ist gerade erkennbar. Danach geht es an dänischen Küsten entlang, wobei das östliche Ufer weiter abgerückt erscheint, ein gewellter Strich, ähnlich einem unregelmäßig gesponnenen Wollfaden. Gelegentlich erheben sich Windräder. Ab und zu taucht ein Segelboot auf oder ein Containerschiff. Unsere schwere Fähre liegt ruhig auf dem Wasser, nichts als ein leichtes Vibrieren ist spürbar. Über 2000 Menschen sind an Bord, doch schafft uns unsere Außenkabine die Ruhe, die in diesem Zwischenstadium von Abreise und Ankunft günstig ist.
Die riesige Glasfront am Heck bietet die Kulisse für ein Spektakel aus schäumender Gischt. Im Vordergrund ein Arrangement aus fein gedeckten Tischen, logenartigen Galerien vor diesem Naturschauspiel. Der Strom aufgewirbelten Wassers verläuft in sanften großräumigen Biegungen, und der Himmel streut je nach Tageszeit und Wetterlage unterschiedliche Antworten aufs Wasser.
Über dem blaugrauen Meer wächst im Osten ein hellblauer Abendhimmel mit leichten, vom Wind zerfaserten Wolken. Die Sonne hinter Wolkenschleiern am Westhimmel schickt eine silbern glänzende Straße über das Wasser. Auch Edvard Munchs Bilder halten diesen Vorgang fest. Er legt eine expressive, ihm eigene Symbolik hinein. Die Nacht gleicht einer immer stärker ergrauenden Kuppel.
Silberstraße
mit leisen roten Sonnenklängen
im bleiernen Indigo
Wolken sturmzerzaust
um eine farblos helle Mitte –
Röte über dem Horizont.
Dunkle Wolkengestik
versucht sich in der Vorstellung
von einer Vorwegnahme der Nacht
an diesem dämmerhellen Abend.
Die Pflugspuren der Bugwellen
stoßen sich zum Pfeil zuspitzend
durchs bleiblaue Wasser zum Horizont.
Darüber liegt beschwichtigend
die dämmernde Hand
des nördlichen Himmels.
Ein Frachter quert die silberne Bahn
und wird zum Zellkern inmitten der Weite.
Ein dunkler Vogel teilt die Sonnenscheibe
in die Zweifarbigkeit des Apfels
aus der Hand von Schneewittchens Stiefmutter
rot und verführerisch, hell und klarsichtig
und beide Hälften spiegeln sich
in der phallisch anmutenden Wasserstraße
wie sie Munch auf vielen Bildern
zum Symbol verklärt.
Doch das Schauspiel geht weiter:
der dunkle Vogel wird zum
lang gezogenen Schwarm
der einen lichten Schatten
unter sich mitführt, eine warme
Markierung am Horizont, die
ein weites Meer der Dunkelheit
beschließt.
Am nächsten Morgen geht es in gemäßigten Slalom durch die Inselwelt. Die Bugwelle zeichnet den Bogen der Fahrrinne nach, wird markiert von den Schären, kleinen Inseleinsamkeiten, eingefasst von ihren eigenen matten Spiegelungen.
Die seitlichen Wellen unserer Fähre entwickeln eine Schrift aus kalligraphischen Zeichen, die sich zu Tableaus vernetzen. Die aufschäumenden Wogen sind einem ständigen Wechsel unterworfen wie Erinnerungen, die sich ständig neu formieren, Synapsen, die immer neue Bewusstseinsströme legen, Wasserspiele aus dem Zufall geboren, ausfransende Gedanken, sich verbindende und sich trennende Stränge. Klare Wellenlinien laufen in die Weite des Wasseruniversums aus.
Später folgen wir dem sich lang hinziehende Oslofjord, einem tiefblauen Meeresarm, wobei die nun üppig grün bewachsenen Ufer näher heranrücken, von Schären begleitet, deren erodierte Felskörper von grünen Rändern eingefasst werden. Hütten haben sich behaglich eingefügt, rotes Holz komplementär zum lichtgrünen Rasen, zu dunkelgrünen Tannen und Kiefern. Bojen markieren die Fahrtrichtung. Sie gleichen kleinen Türmchen oder kleinen Häuschen, wie sie für griechische Heilige am Straßenrand errichtet werden. Hier sind es sehr säkulare Hausaltäre mit ganz und gar praktischer Bewandtnis.
Bücher, Bilder
holzgetäfelte Wände, abgelöst
von in Goldton gefassten Mustern
die weder der eigenen Vergangenheit
entspringen, noch maurisches Erbe sind
und doch schimmert zu Zeiten
ein wenig von beidem in diesem
dem horror vacui verpflichteten Stil.
Auf üppigen Lüstern wachsen
elektrische Stalakmiten, beleuchten
dezent die weiten Räume, die
in kleine Sitznischen auslaufen:
einem jeden seine eigene Zelle
verbunden mit dem Zellgefüge
als Ganzem – der Einzelne
der Gruppe bedürftig, bleibt
dennoch auf sich selber bezogen.
Wenige Menschen leben
in diesem weiten Land, allein
und vermeintlich autonom,
und doch erlebt man sich als Teil
eines größeren Ganzen
mit etwas mehr Vertrauen
einer größeren Gelassenheit.
Das Hotel spiegelt die feine Gesellschaft zu Beginn des letzten Jahrhunderts, etwa die Zeit, als Ibsen nach Oslo zurückgekehrt war und seinen täglichen morgendlichen Gang zum Grand Café unternahm.
Bücher
In jedem Hotel fand ich Bücher
ganze Regale von Büchern
eine Bibliothek – auch oder gerade
in den abseits gelegenen Hütten
des Hochlands – lange Winterabende
führen den Menschen in die fremden
Welten, die in der erstarrten Landschaft
unerreichbar erscheinen, und so sind es
denn Träume, die einen Peer Gynt
in die Abenteuer seines Lebens
schicken und in die eigene innere Not.
Bilder, Porträts hängen an den Wänden
manchmal in einer Nische auch eine Büste.
Man gedenkt der Personen, die sich hervortaten
in diesem so spärlich besiedelten, kargen Land.
Traten sie hervor, so verließen sie
häufig dieses Land, brachen auf
gen Süden, kehrten später zurück oder
vergaßen doch ihre Herkunft nicht.
Es waren ihrer nicht allzu viele,
und so wundere man sich nicht
dass sie in Freundschaft verbunden
verschwägert waren, auch Konkurrenten
die einander widersprachen
und doch befruchteten
wie das große Porträt des Schweden
Strindberg im Arbeitszimmer Ibsens
in seiner letzten Lebensphase
in Kristiania bezeugt.
Oslo (der Name bedeutet entweder „Ebene der Götter“ oder „Ebene unterhalb des Hügels“) heißt von 1624 bis 1924 Christiania (nach dem König Johan Christian), geschrieben wird es unter dem Schweden Oscar II. (1829-1907) ab 1877 Kristiania. Erst zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit Norwegens erhielt die Stadt 1925 ihren Namen Oslo zurück. Im Großraum Oslo leben heute 1,9 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Bevölkerung des Landes, wobei Norwegen in etwa der Größe Deutschlands entspricht, das 80 Millionen Einwohner hat. Dies ist ein Faktor, den man im Auge behalten muss.
1048 wurde Oslo von König Harald III. gegründet, doch fand man hier christliche Gräber vom Ende des ersten Jahrtausends. 1299 ließ König Håkon V. (1270-1319) die Festung Akershus bauen und verlegte seinen Hof von Bergen nach Oslo.
Oslos Wappen zeigt den Heiligen Halvard, der eine Frau vor Gewalttätern zu retten versuchte und selbst von deren Pfeilen durchbohrt wurde, um danach mit einem Mühlstein beschwert, ertränkt zu werden. Das Motto heißt „unanimiter et constanter“ [einig und beständig].
Bis zum 8. Jh. n.Chr. gab es im heutigen Norwegen eine große Zahl kleiner Königtümer. Eine erste Einigung wurde unter Harald Schönhaar um 872 erreicht, ein Reich, das nach seinem Tod wieder zerbrach. Zu dieser Zeit kommen auch die Wikinger ins Spiel, die zu Beutefahrten nach Mitteleuropa aufbrachen. Die eigentliche Einigung Norwegens durch König Olav wurde zusammen mit der Christianisierung des Landes vollzogen, denn es war das Christentum, das die Zentralgewalt und damit den König gegenüber den kleinen Herrschaftsträgern stärkte. Allerdings fiel Olav schon 1030 in der Schlacht von Stiklestad. Bis 1940 wurden Olavsmessen gelesen, und es besteht in diesem Land mit einer protestantischen Staatskirche eine Wallfahrt nach Trondheim zur Reliquie des Heiligen Olav.
Am Grand Café in der Carl Johans Gate, der Hauptstraße Oslos, beginnen die in den Boden eingelassenen Texte aus Ibsens Peer Gynt. Sie führen geradewegs zum Ibsenmuseum im Drammensvei. Vor dem Haus sitzt eine Bronzefigur mit gekreuzten Beinen, die Hände auf einen Stock gestützt, ein freundlicher, klein wirkender Herr mit Brille, der nicht so recht mit dem Verfasser ernster Dramen identisch erscheinen will. - Henrik Ibsen hatte Jahrzehnte in Kontinentaleuropa verbracht, zunächst in Italien, dann in Deutschland. Als er, inzwischen berühmt geworden, nach Kristiania / Oslo zurückkehrte, bezog er eine luxuriöse Wohnung gegenüber dem königlichen Park. Die Wohnung hatte 350m2 und war fürstlich, gemäß dem Ruf eines Dichterfürsten, den er sich erworben hatte. Die Wohnung ist nun Museum. Die Räume sind in dem Zustand belassen, wie sie zu Ibsens Zeit waren. Die Böden sind mit bemaltem Linoleum belegt – zwölf Schichten übereinander. Das großformatige Porträt Strindbergs hängt immer noch linker Hand über seinem Schreibtisch. Er mochte ihn offenbar nicht, aber hatte ihn wohl als eine Art von Herausforderung in seinem Arbeitszimmer hängen. Er spürte vielleicht die Nähe zu dem 21 Jahre jüngeren Strindberg, dessen „Traumspiel“ die von Ibsen mit „Peer Gynt“ begonnene Struktur des offenen Dramas konsequent weiterentwickelt. Gleichzeitig gehörte der Jüngere einer anderen Generation an und vertrat ein radikaleres Weltbild. Ibsen stellte sich auf die Seite der Frau, Strindberg erblickte in ihr eher die femme fatale und steht damit näher bei dem norwegischen Maler Edvard Munch.
Seine Frau Suzannah war noch in Deutschland, als er schon nach Oslo zurückgekehrt war. Er soll gerne mit jungen Mädchen geflirtet haben. Man weiß nicht, was davon zu seiner Frau drang, jedenfalls nimmt man an, dass er die luxuriöse Wohnung in unmittelbarer Nähe des Königsschlosses erwarb, um sie zu besänftigen. In der Wohnung gab es eine Badewanne, die es Ibsen ermöglichte, zweimal täglich ein Bad zu nehmen. Beleuchtung erfolgte durch Ampeln, man lebte am Abend also unter der Ampel Schimmer. Das Arbeitszimmer hatte einen separaten Zugang und diente der Repräsentation. Ibsen hielt die Familie getrennt von offiziellen Funktionen. Er war keiner, der große Essen gab. Morgens arbeitete er zweieinhalb Stunden, dann ging er zu Fuß zum Grand Café. Man habe nach ihm die Uhr stellen können, heißt es. Dort hatte er seinen festen Tisch. Er trank stets ein ganz bestimmtes Bier, das extra für ihn bestellt wurde. Dort waren auch die Zeitungen ausgelegt, hinter denen er sich nun verbarrikadierte. Aus ihnen entnahm er, was sich in der großen und der kleinen Welt ereignete, Kenntnisse, die auch in seine Schauspiele eingeflossen sind. Er reagierte höchst ungnädig, richtete jemand das Wort an ihn oder wollte sich gar zu ihm setzen. Doch muss er 1898 dem Maler Edvard Munch gestattet haben, ihn dort zu malen. Ibsen verkehrte nicht in den Kreisen der Intellektuellen oder der Bohème, die damals recht prominent vertreten war. Dazu gehörten Maler wie Christian Krohg und Edvard Munch. Als er nach Norwegen zurückkehrte, war er ein Dichterfürst, ähnlich wie in Deutschland Gerhart Hauptmann. - Das Museum projiziert den „wandelnden“ Schattenriss des Dichters auf eine Tür, so hat der Besucher den Eindruck, als habe dieser gerade das Zimmer verlassen und man habe ihn nur um ein Haar verpasst. Die Aufnahmen zeigen allerdings einen Schauspieler, der diese Rolle sehr überzeugend spielt.
Henrik Ibsen wurde 1828 in Skien geboren, das sowohl ein Zentrum des Handels, als auch um 1850 Austragungsort religiöser Kontroversen war. Ibsens einzige Schwester konvertierte zum Puritanismus und zog den jüngsten Bruder und die Mutter nach. Henrik Ibsen litt sehr unter der Verwandlung der Mutter von einer liebevollen und aufgeschlossenen Frau zu einer strengen Christin. In seinen Erinnerungen reagiert er verletzt und bitter. Das Thema Religion wurde zu einem wichtigen Thema seiner Dramen. In „Brand“, dem ersten Stück, das Ibsen 1865 im italienischen Exil schrieb, steht ein fundamentalistischer Pastor im Mittelpunkt, der alle Halbheiten und Kompromisse ablehnt und schließlich seine ganze Familie, sowie die Kirche seinen Idealforderungen opfert. In Norwegen galt Ibsen als Freidenker, und so kamen seine Dramen bei Teilen der Norweger schlecht an. Er hielt sich zurück und diskutierte selten in der Öffentlichkeit. Er betrachtete Religion als seine ganz persönliche Angelegenheit. In der Mythologie erblickte er eine frühe Stufe der Religion, die im Christentum eine Nachfolgerin habe. Er sah die Religionen in einer evolutionären Entwicklung, die der der Natur, wie sie Darwin dargelegt hatte, entsprach. Und er glaubte an den Fortschritt.
Er legte Wert darauf, dass er aus einer respektablen Familie kam, doch machte sein Vater Bankrott und wurde in der Folge zum Alkoholiker. Die Mutter war, wie schon gesagt, sehr fromm. Die Stoffe seiner Dramen wachsen teilweise aus den Erfahrungen mit seiner eigenen Familie. Mit sechzehn Jahren wurde er Apothekerlehrling in Grimsted. Mit siebzehn Jahren zeugte er ein Kind mit einer Hausangestellten, die zehn Jahre älter war als er. Er zahlte fünfzehn Jahre lang Alimente, ohne das Kind je gesehen zu haben. Er begann zu schreiben, verfasste Theaterstücke für das Nationaltheater in Bergen, das erste, 1850 von Ole Bornemann Bull gegründete Norske Theater. Dort arbeitete der junge Ibsen als Dramaturg und Regisseur. Und dort lernte er Suzannah Thoresen kennen, deren Mutter in Bergen einen literarischen Salon unterhielt. Inzwischen war er künstlerischer Direktor am Theater in Christiania / Oslo geworden. Er heiratete Suzannah am 18. Juni 1858. Am 23. Dezember 1859 kam ihr einziger Sohn Sigurd zur Welt, der später die Tochter von Bjørnstjerne Bjørnson, Bergliot, heiraten wird. Doch litt die Familie unter materiellen Sorgen. Ibsen selbst fühlte sich unverstanden in Norwegen. Aus diesem Grund zogen sie nach Süden. 1864 nach Rom, später nach Ischia und Sorrent, wo 1867 „Peer Gynt“ entstand. Wahrscheinlich ist es ja kein Zufall, dass Ibsen gerade in Süditalien, mit dem Blick auf das Meer des Odysseus, diesen norwegischen Stoff bearbeitete. Peer Gynt ist ja auch einer, den es ähnlich wie Odysseus in die Welt verschlägt, der in Abenteuer verwickelt wird, Verführungen unterliegt, auf der Flucht ist, an die Grenzen der Unterwelt gelangt. Und auch die Heimkehr des im Sturm gekenterten Peer gleicht der des großen mythischen Vorfahren, der aus dem Land der Phäaken an die von ihm zunächst nicht erkannten heimatlichen Gestade gelangt. Solvejg wartet getreulich auf Peer wie Penelope auf Odysseus. 27 Jahre lebten die Ibsens im Exil, die längste Zeit davon in Deutschland.
Ibsen verfasste etwa ein Dutzend Gesellschaftsdramen. Er gilt als Schöpfer scheinbar natürlicher Menschen, die dem Zuschauer Möglichkeiten der Identifikation geradezu anbieten. Hinter den Problemen seiner Zeit verbergen sich allgemeinmenschliche Konflikte. Es ist eine scheinbare Wirklichkeitsnähe, was die Situationen, die psychologische Unterfütterung und die sprachliche Gestaltung betrifft. Und doch ist Ibsen ein Dramatiker, dem es gelingt, eine unmittelbar verständliche Symbolik in seine dramatischen Strukturen einzubauen, so dass ihre Metaphorik geradezu natürlich wirkt. Seine Kritik an der Gesellschaft, an ihrer Verlogenheit, ihrer Doppelmoral ist deutlich und ging und geht unter die Haut, auch wenn der Theaterbesucher heute mit drastischeren Bildern konfrontiert wird. In „Die Gespenster“ sind es die Erinnerungen, die sich ins Großhirn eingeschrieben haben und als Gespenster, Wiedergänger zurückkehren, sich als Metaphern in der Psyche der einzelnen Personen festsetzen. Doch belässt Ibsen die komplexen Zusammenhänge, verurteilt nicht. Nicht nur in der „Wildente“ wird die Lebenslüge zum eigentlichen Thema. Ibsen erkennt vor Freud, dass es dem Menschen im Allgemeinen schwer fällt, die Wahrheit im Lebensvollzug zu ertragen, ohne sich etwas vorzumachen. Die Erinnerung als Fiktion, die Lebenslüge als Wundschorf?
Über das Drama des Naturalismus in Skandinavien urteilt Sigfrid Hoefert folgendermaßen: „Hier war neben Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910) und August Strindberg (1849-1912) der Norweger Henrik Ibsen (1828-1906) die alles überragende Gestalt. Mit seinen Dramen übte er die nachhaltigste Wirkung auf die naturalistischen Dichter aus. Diese Wirkung beruhte auf seinem Wahrheitsstreben und seiner nachdrücklichen Stellungsnahme für die freie Entwicklung der Persönlichkeit, auf seiner Gesellschaftskritik und fortschrittlichen Dramentechnik [...] Gestalten aus seiner Dichtung wurden zu festen Begriffen (z.B. Nora) und von ihm stammende Ausdrücke (z.B. Lebenslüge) wurden zu Schlagwörtern der jungen Generation.“1
Bjørnstjerne Bjørnson war Freund, Kollege und Konkurrent Ibsens. Beiden wurde vor dem Osloer Nationaltheater ein Denkmal gesetzt, das in der Symmetrie der Positionierung eine Gleichwertigkeit zum Ausdruck bringen will, die im Urteil der Nachwelt nicht mehr gegeben ist. Während Bjørnson den Nobelpreis gewann, gehört Ibsen der Weltruhm. Man erzählt sich eine Anekdote, die nicht wahr sein muss, aber die Sache doch auf den Punkt bringt: Bjørnson, als früherer Direktor des Nationaltheaters, habe ohne Eintrittskarte das Theater betreten und sei vom Ordner zurückgewiesen worden, worauf er sich als ehemaliger Direktor des Theaters zu erkennen gab. Darauf habe der Ordner mit „natürlich, Herr Ibsen“ reagiert.
Edvard Grieg schreibt an seinen Biographen: „Ich darf nicht vergessen, einen Mann zu erwähnen, der mich in meinen musikalisch leeren Kristiania-Jahren 1868-72 mit seiner mächtigen Persönlichkeit füllte, das war Bjørnson.“ Sie hatten sich schon in Kopenhagen getroffen. Und Grieg hat daraufhin lyrische Texte Bjørnsons vertont, der Versuch einer gemeinsamen Oper aber blieb Fragment. Als Grieg Musik zu Ibsens Peer Gynt komponierte, kam es zum Bruch mit Bjørnson, der sechzehn Jahre anhielt. Andererseits kam es zwischen Grieg und Ibsen nie zu einer engeren Beziehung, obwohl Grieg fasziniert war vom Autor Ibsen. Eineinhalb Jahre arbeitete Grieg an Peer Gynt. Später sammelte Grieg Auszüge dieser Bühnenmusik in zwei Suiten.
Bjørnson war Sohn eines Landpastors. Nach dem Besuch eines privaten Gymnasiums in Christiania und einem abgebrochenen Studium, war er dort als Journalist tätig, ähnlich wie Henrik Ibsen. Es gibt in der Tat einige Parallelen zu Henrik Ibsen. Beide arbeiteten am 1850 von Ole Bornemann Bull gegründete Norske Theater, und nach Bjørnsons Rückkehr 1865 aus Italien und Deutschland arbeitete er am königlichen Theater in Christiania, das vor ihm Ibsen 1857 übernommen hatte, der dann 1864 Norwegen für fast drei Jahrzehnte bis 1891 den Rücken kehrte. Noch einmal bekleidete Bjørnson dieses Amt zwischen 1870 und 1872. Danach ging auch er wieder ins Ausland, nach Italien und Deutschland. Von 1880 bis 1881 bereiste er die USA. Doch blieb er Norwegen treu und erhielt für seine Verdienste als Erneuerer der norwegischen Literatur 1903 den Nobelpreis. Er ist auch der Verfasser der norwegischen Nationalhymne. Doch fanden seine politischen Ansichten, die stark um das Romantische und das damit eng verbundene Nationale kreisten, nicht die allgemeine Zustimmung.
Am 12. Dezember 1863 kam Edvard Munch als zweites von fünf Kindern zur Welt. Sein Vater war Militärarzt. 1861 hatte der 44-jährige ehemalige Marinearzt die 23-jährige Laura Catherine geheiratet. Die Mutter litt an Tuberkulose und starb kurz nach Weihnachten, als Edvard gerade fünf Jahre alt war. Der Tod der Mutter war eine einschneidende Erfahrung. Er erinnert sich an brennende Kerzen am Weihnachtsbaum und an die Mutter, die „mitten auf dem Sofa saß in ihrem großen schwarzen Kleid [...] still und bleich. Um sie herum saßen oder standen alle fünf Kinder. Der Vater ging auf und ab in der Stube und setzte sich dann zu ihr auf den Sofa [...] Sie lächelte, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen [...]“.2
Die jüngere Schwester der Mutter übernahm nun den Haushalt und die Erziehung der Kinder. Sie hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die kreative Entwicklung der Kinder. Sie selbst stellte aus Moos und Laub Bilder her und trug dadurch, dass sie sie verkaufte, zum Einkommen der Familie bei. Sie regte die Kinder an, selbst schöpferisch zu sein, indem sie sie zum Zeichnen ermunterte und die Ergebnisse ernst nahm und aufbewahrte. Edvard arbeitete schon als Zwölfjähriger systematisch. Der Vater las den Kindern vor, auch aus dem Werk seines berühmten Bruders über die norwegische Geschichte. Und es ist der Historiker Munch, nach dem eine Straße in Oslo benannt ist, nicht der so viel berühmtere Maler.
1877, Edvard war inzwischen vierzehn, starb die knapp ältere Schwester Johanne Sophie an Tuberkulose. Krankheit und Tod von Mutter und Schwester, die eigene Todesangst als kränkelndes Kind führen zu Darstellung von Sterben und Tod, die sein ganzes Werk durchziehen. Die erste Fassung von Das kranke Kind geht auf das Jahr 1886 zurück. Er selber äußert sich dazu folgendermaßen: „[...] ich behaupte, dass kaum einer dieser Maler [von Sterbeszenen, wie sie auch sein Lehrer Christian Krohg gemalt hat] sein Motiv bis zum letzten Wermutstropfen so miterlebt hat wie ich in Das kranke Kind. Nicht nur ich saß am Bett des kranken Kindes – sondern alle meine Lieben.“3