Für meine Familie (inkl. nunmehr zweier Enkelkinder), meine Freunde und für meine Mitarbeiter. Vor allem für die Menschen in meinem Umfeld, die Anteil nehmen an meinen Arbeiten und Beobachtungen in China, die mehr erfahren wollen als das, was ich zwischendurch erzählt habe. Und für diejenigen, die nicht immer nur das gleiche über China hören oder lesen wollen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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2. leicht überarbeitete und aktualisierte Auflage
© 2011 Bernhard Weßling
1. Auflage 2010
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8423-9816-0

Inhaltsverzeichnis

So fing alles an

ChangChun

Joint-Venture-Verhandlungen

„Was ist, wenn alle in die Stadt wollen?“

Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China

Meine Furcht vor ShenZhen

Chinesische Dimensionen

Die ersten Schritte

Die junge Stadt ShenZhen

Leben in ShenZhen

Unser Fahrer

Fußball in ShenZhen

Gan Bei

Die Ausstellungen

Wie gründe ich am besten eine Firma in China?

Natur im Stadtmoloch ShenZhen

Kleinunternehmer

Die Angestellten

LangLang und ich weihen neue Konzerthalle ein

Ich versuche, Chinesisch zu lernen

Im Krankenhaus

Börsenhype mit Top und Flop

Lärm

Zahnschmerzen

Die „Hauptstadt der Kriminalität“

Selbstmordserie bei Foxconn

Olympiade 2008

Erlebnisse im Botanischen Garten

Kinder bekommen und großziehen mit Freud und Leid

Kurios: eine WM mit 33 Mannschaften

Das chinesische Neujahrsfest

LaoWei spielt nicht nur Fußball

Anhang

Wozu dieses Buch nicht dient, wozu es aber gedacht ist (Nachwort, da es kein Vorwort gibt)

Was geschah nach „Redaktionsschluß“?

Widersprüchliche Feststellungen in Chinabüchern

Einige der handelnden Personen, einige Orte, mit Aussprachehilfe

So fing alles an

Es ging einfach nicht mehr so weiter. Aus China kamen nur noch Schreckensnachrichten. Hier platzte ein Geschäft, dort lief es mit einer Anlage beim Kunden schlecht, ständig Qualitätsprobleme, ständig Reklamationen, dann plötzlich von einem Tag auf den anderen die Mitteilung unserer taiwanesischen Händlerfirma: „Übermorgen wird beim Kunden ‚ChangHao’ die Anlage installiert, wer kann kommen? Wieso geht das nicht, wollt ihr keine neuen Kunden?“ Was für eine Anlage bei einem Kunden namens ChangHao, wir kennen den nicht. Wieso wissen wir nichts davon?

Mein Vertriebsgeschäftsführer – aber auch unser Verkaufsleiter – flogen so alle drei Monate für fünf bis acht Tage nach China, beide ließen sich von unserem Händler herumfahren und kamen immer mit der gleichen Botschaft zurück: „Unsere Konzepte lassen sich in China nicht umsetzen, wir müssen uns nach den dortigen Bedingungen richten, unser Händler weiß das besser.“ Und das in einer Zeit, in der die Produktion massiv von Europa und USA vor allem nach China verlagert wurde.

Ich war es leid. Die Kunden wollen unsere Prozesse nicht so fahren, wie wir sie entwickelt hatten, und beklagen sich dann über Qualitätsprobleme? Es werden Anlagen aufgebaut, die wir nicht kennen, die wir nicht mit dem Hersteller konzipieren konnten, und dann soll unser Prozess darin laufen können? Keiner unserer Vorschläge, die in Europa richtig sind, die ich in Korea umsetzen konnte, sollte in China richtig sein, chinesische Kunden nehmen unsere Vorschläge nicht an? Ich lehnte es ab, dies zu glauben.

Ich hatte unseren Beirat vor einiger Zeit schon einmal mit den Problemen konfrontiert, die ich mit meinem Vertriebs-Geschäftsführer hatte, und angedeutet, dass ich seine Entlassung beantragen würde. Das tat ich nun, und zwei Wochen später war ich wieder in China. Vier Jahre lang war ich nicht hierhergekommen.

ChangChun

Ich wache auf. Es ist dunkel im Zimmer. Wo bin ich? Ich taste mich zum Fenster, vor dem ein dicker schwerer Vorhang das Tageslicht abschirmt. Ich schiebe den Vorhang auf und sehe: Ich bin irgendwo in einer Großstadt in den USA. Wieso USA? Wann bin ich hierhin geflogen? In welcher Stadt bin ich? … Langsam werde ich wacher und erinnere mich: Ich bin doch eigentlich von Peking (BeiJing) nach ChangChun geflogen, oder nicht? Das ist doch eine Stadt im Norden Chinas, und der Norden ist arm und China ist unterentwickelt. BeiJing ist die Hauptstadt, da machen sie das Schaufenster für uns Ausländer auf, so schön und modern wie möglich, aber in ChangChun doch nicht?

Ich zweifele an meinem Geisteszustand, alles vermutlich nur innerhalb von Sekundenbruchteilen, aber es kommt mir endlos vor. Schließlich entdecke ich draußen unter mir chinesische Schriftzeichen, ich erinnere mich, in ChangChun gelandet zu sein, gestern Abend checkte ich im Hotel ein, und nun zeigt mir das Informationsmaterial auf dem Schreibtisch, dass ich tatsächlich hier bin. Aber es sieht aus wie in Philadelphia …

Ich bereite ein Joint Venture mit einem Tochterunternehmen der Chinesischen Akademie der Wissenschaften vor. Ich kenne Professor Xu seit Jahren, er ist jung, hochintelligent, lustig, offen, dynamisch und ausgesprochen hässlich mit seinen vorstehenden Zähnen.

Wir fahren zu seiner Fabrik am Rand von ChangChun. Alle zehn Kilometer werde ich 20 Jahre zurückversetzt, hier wird ChangChun nach und nach so, wie ich es mir hätte vorstellen können, wenn ich genügend Phantasie gehabt hätte. Pferde und Esel ziehen Karren mit allen möglichen Ladungen. Auf der Straße liegen Kohlehaufen, die auf andere Karren geschaufelt werden, daneben werden Kohlhaufen (Chinakohl) auf wiederum andere Karren geladen.

Am Wochenende fahren wir auf meinen Wunsch an die Grenze zur Inneren Mongolei. Ich möchte Kraniche beobachten. Am Ende der 300km langen Fahrt sind wir im Jahre 1398, kein Strom, kein Wasser, die Hütten haben Maisblätter als Bedachung, der See ist fast trocken gefallen, die Bauersfrauen dreschen das Korn mit Flegeln von Hand vor der Hütte. Alle 50km fuhren wir um 100 Jahre in der Zeit zurück. Die Esel laufen frei herum. Die Hunde streunen. Kinder sind nackt. Es ist staubtrocken. Ich werde durstig allein schon vom Anblick der Dürre.

Nur eines erinnert mich an die moderne Zeit, in der ich lebe: Mein Handy hat immer ein volles Signal. Ich kann sieben verschiedene Kranicharten sehen an diesem Tag – und die Lebensweise Jahrhunderte vor meiner Zeit.

Joint-Venture-Verhandlungen

Wir tauschen Vertragsentwürfe aus, Professor Xu und ich sind uns einig, wie wir eine gemeinsame Firma in ChangChun, ein Joint Venture, bilden und managen wollen. Wir würden aus Deutschland Vorprodukte liefern und Know-how für die weiteren Prozessschritte und Anwendungen. Aber die Provinzregierung ist anderer Meinung. Sie will, dass wir keine Vorprodukte liefern, in die unser Schlüssel-Know-how gewissermaßen hineindispergiert wurde und die somit zwar nutzbar, aber nicht kopierbar sind, sondern dass wir dem Joint Venture eine Lizenz erteilen, die Vorstufen selbst herzustellen.

Ich lehne ab. Die Regierung der Provinz Jilin lädt mich zu Verhandlungen ein.

Zum dritten Mal fliege ich nach ChangChun, diesmal ist es tiefer Winter, minus 25° C. Diesmal lasse ich mich morgens nicht zum Narren halten, ich weiß schließlich, wo ich bin. Nach den ergebnislosen Verhandlungen tagsüber lädt der Vizegouverneur zum Abendessen. Wir treffen uns an einem großen runden Tisch mit einem gefühlten Durchmesser von fünf Metern. Es sind etwa 20 Leute am Tisch, Professor Xu fehlt, ich bin allein mit mindestens 19 Regierungsbeamten.

Alle sind freundlich, lächeln mir zu, der erste Toast wird in stockendem Englisch ausgebracht. Die buntesten Gänge werden aufgetischt. Alle fünf Minuten kommt einer der zahllosen Tischgäste zu mir mit der freundlichen Aufforderung, mit ihm das Glas zu leeren: „Gan Bei!“ Ich bekomme BaiJiu ins Glas, einen chinesischen klaren Schnaps, hoch-prozentig und hoch-gefährlich. Dazu gibt es chinesischen Rot- und Weißwein, alles durcheinander. (Der BaiJiu schmeckt besser, ist aber auch gefährlicher.)

Alle wollen mit mir anstoßen, und jedes Mal soll ich das Glas leeren. Wie nett alle sind.

Ich bin sehr freundlich, habe mein Glas immer leer, den Mund oft voll, manchmal ist mein Glas auch nicht leer nach dem Trinken, aber die große Pflanze im Topf hinter mir – wenn ich richtig erinnere, ein Bambus – ist noch Tage danach betrunken und musste nach Auskunft informierter Kreise sofort nachts in eine Pflanzenklinik. Am Ende des Abends sind alle betrunken außer mir. Ich habe am wenigsten getrunken.

Der Vertrag kommt nicht zustande. Das Know-how bleibt in Deutschland. Professor Xu versteht mich und respektiert es, der Provinzgouverneur wollte etwas anderes.

„Was ist, wenn alle in die Stadt wollen?“

Professor Xu stammt aus einer sehr armen Familie. Er wuchs in den Feuchtgebieten und Kanalsystemen weit außerhalb der „Wasserstädte“ um ShangHai herum auf. Es gab niemals Fleisch zu essen, mit wenigen Ausnahmen: Nur wenn es ihm gelang, eine Maus oder eine Ratte zu fangen, hat er diese am Stock über offenem Feuer gegrillt.

Damals, als ich ihn in ChangChun besuchte, arbeitete sein Vater nach wie vor als Selbstversorger für seinen Lebensunterhalt. Sein Einkommen in Form von verfügbarem Geld betrug etwa zehn Euro. Im Jahr. Alles, was er und seine Frau aßen und tranken, erzeugten sie selbst.

Der kleine Xu bekam schon früh aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung und Leistung ein Stipendium und wurde als nicht einmal 30-jähriger junger Mann Professor für Chemie an der Akademie der Wissenschaften.

Ein paar Jahre später gelang es ihm endlich, seine Eltern zu überzeugen, ihn zu besuchen. Er holte sie in seinem Heimatdorf ab, sie fuhren zum Flughafen, flogen von dort nach ChangChun. ShangHai und ChangChun waren Städte, wie sie sein Vater und seine Mutter noch nie zuvor gesehen hatten. Für sie war es finanziell unvorstellbar, dorthin zu reisen.

Am zweiten Abend gingen sie in ein Restaurant zum Essen, der Sohn lud die Eltern ein, zusammen mit seiner Frau und dem kleinen Baby. Vater und Mutter bekamen das Menu nicht zu sehen, der Sohn bestellte.

Als die Rechnung kam, hörte der Vater die Summe, die zu zahlen war. Er fing noch am Tisch an, bitterlich zu weinen, und konnte nicht mehr aufhören. Sein Sohn hatte allein an diesem Abend vier- oder fünfmal mehr ausgegeben, als er in einem ganzen Jahr an Geld zur Verfügung hatte.

Diese Erzählung berührte mich sehr und erinnerte mich an den Ausflug an die Grenze zur Inneren Mongolei. Auf dem Weg dorthin wurden das Land und die Dörfer zusehends ärmlicher. Man muss wissen, dass nicht einfach jeder, der will, in die Stadt kommen und dort arbeiten kann. Ich fragte Professor Xu: „Was ist, wenn auf einmal, am gleichen Tag, alle armen Mais- und Kohl-Bauern aus dem Umkreis von 50km gleichzeitig in die Stadt kommen?“ – „Dann haben wir ein Problem.“

Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China

Am 11.9.2001 fahre ich in Wisconsin mit einem Leihwagen vom Kranichschutzgebiet Necedah National Wildlife Refuge in die nächste größere Ortschaft mit FedEx-Station, um einige von mir gelieferte Apparate, die wir im Schreikranich-Auswilderungsprogramm brauchen, nach Deutschland zur Reparatur zu schicken. Diese Aktivität hat nichts mit meinen chemischen und geschäftlichen Arbeiten zu tun, ich bin „nebenher“ Kranichforscher und beteiligt am Programm zur Rettung der Schreikraniche in Nordamerika.

Der Sender „National Public Radio“, den ich wegen der fundierteren Nachrichten und Analysen und wegen der klassischen Musik immer einstelle, teilt mit, ein Flugzeug sei in einen Turm des World Trade Centers geflogen, es brenne, es herrsche Chaos. Ich fahre im nächsten Dorf rechts ran, telefoniere von einer Telefonzelle aus mit meinen Finanzberatern.

Während des Telefonates fliegt das zweite Flugzeug in den zweiten Turm. Jeder Leser weiß, wie es weitergeht. Nur ich wusste damals nicht, wie ich weitermachen sollte – die Finanzierung der Firma stand auf Messers Schneide, unsere Kapitalrücklagen (in Aktien und anderen Finanz-Anlagen) schmolzen dahin wie der berühmte Schnee in der Sonne.

Noch während ich in Wisconsin im Feuchtgebiet fernab aller Geschehnisse auf die Möglichkeit warte, nach Deutschland zurückzufliegen, landet auf meinem verwaisten Schreibtisch in meinem Büro in Deutschland ein Schreiben des Bundeskanzleramtes, das sicherlich automatisch abgeschickt wurde, ohne die aktuelle Lage zu berücksichtigen: Bundeskanzler Schröder lädt mich ein, ihn im November auf seiner nächsten Reise nach China zu begleiten. Mich? Jetzt?

Ja, ich hatte dem Bundeskanzler irgendwann geschrieben, hatte die Situation in ChangChun geschildert (ohne den unglückseligen Bambus zu erwähnen), aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass irgendetwas daraus folgen würde. Ich wollte eigentlich nur jemandem auf der Regierungswolke, die von all den Chancen mit China phantasieren, etwas aus dem Leben des kleinen Mannes erzählen, der ein unbedeutendes Joint Venture starten wollte und dann vom Provinzgouverneur besoffen gemacht werden sollte (was aber fehlschlug), erzählen. Nun sollte ich mit all den Spitzenpolitikern und Konzernbossen nach China fahren?

Ich lege die Einladung erst einmal zur Seite. Habe ich überhaupt das Geld, die Ruhe, die Zeit, diese Reise mitten im Chaos der Weltgeschichte und mitten im Chaos der Firmenfinanzierung zu unternehmen?

Natürlich fliege ich am Ende doch mit. Die Neugier und der Abenteurergeist siegen über die trockene Vernunft. Vielleicht kann ich ja sogar etwas lernen?

Im November 2001 sitze ich im zweiten Regierungsflugzeug, im ersten fliegt Schröder mit Journalisten und diversen Politikern, im zweiten Wirtschaftsminister Müller und eine 50-köpfige Wirtschaftsdelegation mit 49 Wirtschaftskapitänen, die Rang und Namen haben, und einem Niemand – mir.

Mit den Kapitänen der deutschen Großindustrie stehe ich auf dem Roten Teppich in der Großen Halle des Volkes, als Schröder von Ministerpräsident Zhu RongZhi empfangen wird, mit allen protokollarischen Ehren, wie man es sonst allenfalls im Fernsehen sieht. Es ist schon beeindruckend, aber natürlich diplomatische Show.

Auch das folgende Abendessen im Riesenrestaurant der Großen Halle des Volkes ist ein Erlebnis. Ich überreiche Ministerpräsident Zhu RongZhi und Kanzler Schröder jeweils eine CD mit Kranichfotos und Kranichrufen aus aller Welt, die ich aufgenommen hatte, lasse die über die Ländergrenzen hinweg ziehenden Kraniche mit ihren Rufen als Symbol der Völkerverständigung sprechen.

Am nächsten Tag treffe ich nochmals Professor Xu, der weitere Vorschläge der Provinzregierung in der Tasche hat. Aber auch diese können mich nicht überzeugen, wir kommen zu keinem Ergebnis. Der Joint-Venture-Plan ist gescheitert.

In BeiJing und ShangHai gibt es mehrere Veranstaltungen, Besichtigungen und offizielle Treffen. Wir, die Wirtschaftskapitäne und ich, fahren mit einem Bus. Ich sitze mal neben von Pierer (Siemens), mal neben Weber, dem damaligen Vorstandschef der Lufthansa, und wir sprechen auch über Kraniche. Ron Sommer, damals Vorstand der Telekom, ist im Bus wie alle anderen sehr locker, viel lockerer, als man sie sich nach der TV-Berichterstattung vorstellt. Bahnchef Mehdorn ist der Oberclown und unterhält uns mit kabarettreifen Einlagen. Ich bin in die Gesprächsrunden eingebunden, als sei ich immer schon dabei gewesen und auch ein wichtiges Mitglied des deutschen Großunternehmensnetzwerks.

Nebenbei erfahre ich von anderen Mitreisenden viel über China, während wir auch mein Problem mit der Provinzregierung von JiLin diskutieren. Der Vertriebsvorstand von VW erzählt mir, dass sie – nach mehreren Hinweisen, merkwürdigen Beobachtungen und systematischer eigener Fahndung – eines Tages eine Geisterfabrik entdeckten, in der Original-VW-Teile nachgebaut wurden.

Der Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzende eines großen Hightech-Unternehmens berichtet mir, dass die Chefsekretärin und ein Betriebsleiter, die miteinander verwandt sind, heimlich ein Handelsunternehmen aufgebaut hatten, das wertvolle Rohstoffe von seiner Firma weit unter dem normalen Preis aufkaufte. Angeblich waren diese Rohstoffe verschmutzt, nicht innerhalb der Spezifikation. Das familieneigene Handelsunternehmen deklarierte diese um, nun waren sie sauber und rein und wertvoll und wurden zu Bestpreisen irgendwo in China veräußert.

Die Polizei habe den Fall zuerst nicht verfolgen wollen, dann habe man dem deutschen Geschäftsführer gedroht, ihn festzunehmen, auszuweisen, dann wurde diesem zeitweise die Geschäftslizenz entzogen. Währenddessen war der offizielle Stempel (ohne den in China kein Unternehmen rechtskräftig Geschäfte machen kann) auf einmal im Besitz des Betriebsleiters, der mit der Chefsekretärin zusammen das Handelsunternehmen aufgezogen hatte. Nur mit der Drohung, man werde den Wirtschaftsminister einschalten (den der Hauptaktionär kannte), konnte diese Affäre schließlich gelöst und der Ausverkauf der Firmenwerte beendet werden.

Meine Firma (falls ich jemals eine in China haben würde) wird niemals eine solche Bedeutung haben, dass meine Drohung, ich würde mich an den Wirtschaftsminister wenden, irgendeinen Effekt haben würde, sollte ich einmal in eine ähnliche Situation geraten.

Ein anderer Delegationsteilnehmer erzählte mir, dass sie eine ganze Tochterfirma verloren hatten, weil der chinesische Geschäftsführer eines Tages mit dem Firmen-Stempel in der Hand zu den Behörden ging und alles auf seinen Namen umschrieb. Zwar konnte später in langwierigen Gerichtsverfahren nachgewiesen werden, dass es sich effektiv um den Diebstahl einer ganzen Firma handelte, aber mehr als eine Entschädigung kam nicht zustande, die Firma war weg.

All das machte mir nicht viel Hoffnung, sondern ließ meine Befürchtungen ins Uferlose wachsen. Sollte ich jemals den Mut haben, einmal eine Firma in China aufzumachen (was ich später tatsächlich tun würde, aber auf dieser Reise noch nicht wissen konnte), musste ich aufpassen, nicht in ein Netz von Bestechung und Verwandtenklüngel zu geraten – und vor allem den Firmenstempel gut im Auge behalten. Aber wie?

In ShangHai hatten wir wichtige Termine: zuerst die Feier der Aufstellung des ersten Stützpfeilers der Magnetschwebebahn Maglev. Es war beeindruckend zu sehen, wie die Chinesen dieses Projekt managten und sogar eine Betonund Stützpfeilerfabrik direkt an Ort und Stelle nur für den Bau des Maglev hinstellten und nach Fertigstellung wieder abbauten.

Neben einem deutsch-chinesischen Joint Venture, das eine Messehalle baute, die nun in unserem Beisein eröffnet wurde, halfen wir noch kräftig bei der Eröffnung des ersten Obi-Marktes in China mit. Am Abend saß ich zufällig neben Manfred Maus, dem Obi-Gründer, und er erzählte mir und allen Tischnachbarn, wie er (mit einem Dolmetscher) in China Marktstudien betrieb, um zu lernen, was die Chinesen wollen. Er besuchte junge Familien in Neubaugebieten und fragte selbst direkt nach. Das beeindruckte mich sehr.

Aber irgendwas muss er doch falsch gemacht haben, denn nachdem Obi in China (beginnend mit dem damals eröffneten ersten Markt) schließlich 13 Märkte betrieb, zog man sich im April 2005 aus China zurück. Nur ein Jahr zuvor war der Obi-Asienchef und Einkaufsvorstand zusammen mit dem Kern des Managements eigene Wege gegangen, und der wichtigste Handels- und Joint-Venture-Partner Haier hatte sich ebenfalls zurückgezogen.

Aus heutiger Sicht sind also zwei der wichtigsten Wirtschaftsprojekte, die wir bei dieser Reise unterstützten, Magnetschwebebahn und Obi, gescheitert. Was auch immer der Grund gewesen sein mag – die deutsche Seite hatte den Kürzeren gezogen. Und die Erfahrungsberichte, die ich bei den Busfahrten einsammelte, waren alles andere als motivierend.

Mit diesem Erfahrungshintergrund finde ich mich ein paar Jahre später plötzlich dauerhaft in China wieder.

Meine Furcht vor ShenZhen

Ich mag Städte nicht, erst recht keine Großstädte. Sie engen mich ein – die vielen Menschen, die hohen Häuser und engen Straßen. Man kann nicht einmal hundert Meter weit sehen. Ich liebe die Natur, das Meer, den weiten Blick, Bäume, Wellen, Vögel.

Ich lechze nach Möglichkeiten, in die Landschaft hinauszublicken, wenigstens ein Mal am Tag, zumindest aber am Wochenende.

Eine Stadt mit einigen Zehn- oder Hunderttausend Einwohnern ist für mich höchstens interessant, wenn es dort gute Buchläden, vor allem aber einen gut sortierten Kartenladen gibt, und ich muss gelegentlich die Chance haben, ein klassisches Konzert zu besuchen. Nur zu solchen Zwecken bin ich „in der Stadt“. Einkaufen, spazieren gehen oder gar dort ein paar Tage Urlaub machen, „übers Wochenende mal nach New York fliegen“ finde ich furchtbar. Eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern ist für mich eine Bedrohung.

Als ich nach China verschlagen wurde, war klar, dass ich in GuangDong, einer Provinz in Südchina, meine Basis errichten musste. Dort ist der größte Teil unserer Kunden angesiedelt, und von dort aus würde ich auch Ostchina, Korea, Taiwan, Japan und Singapur besuchen. Zuerst plante ich, in einer Kleinstadt am Rande von GuangZhou zu wohnen. Für die Wochenenden war es herrlich – Hügel, Wälder, Flüsse, Vögel, ich konnte wunderbar wandern und mich entspannen.

Aber für die Arbeitswoche war es schlicht und einfach die falsche Wahl. Die Verkehrsanbindung war unerträglich, außerdem wollte ich nicht dauerhaft auf einen Übersetzer angewiesen sein und nicht während der Arbeitswoche ständig in wechselnden Hotels wohnen. So entschloss ich mich, eine Wohnung in ShenZhen zu suchen.

ShenZhen ist für chinesische Verhältnisse eine mittelgroße Stadt. Sie hat offiziell sieben oder acht Millionen Einwohner, in Wirklichkeit, je nach Quelle, aber 12 bis 15 Millionen. Wenn mir bisher Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern Unwohlsein bereiteten, mit mehr als einer Million Einwohnern als Bedrohung vorkamen, was sollte ich dann von einer Megastadt mit über zehn Millionen Einwohnern halten?

Chinesische Dimensionen

Man kann sich die Dimensionen in China kaum vorstellen, jedenfalls nicht als Durchschnittsdeutscher. Selbst die „mittelgroße“ Stadt ShenZhen ist ein Moloch, fast 100km lang (von Ost nach West), an der schmalsten Stelle vielleicht 10km Süd-Nord-Ausdehnung, an der breitesten, im Westen, über 40km. Auf dieser Fläche, ähnlich der Form einer auf einer Seite platt geschlagenen Wurst, leben und arbeiten Millionen von Menschen.

Ich stamme aus dem Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, dem fünftgrößten Europas. Hier leben etwa fünf Millionen Menschen, verglichen mit ShenZhen also etwa ein Drittel, auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie die von ShenZhen.

Wenn man von Herne, das man als Mittelpunkt des Ruhrgebietes betrachten kann, nach Norden oder Süden fährt, ist man nach spätestens 30km aus den Städten heraus und in dünner besiedelter Landschaft, im Münsterland oder im Sauerland (beide zugegebenermaßen immer noch dichter besiedelt als das tibetanische Hochland), welche Richtung auch immer man eingeschlagen hat.

Wenn man jedoch zwei, drei oder vier Stunden mit dem Auto von ShenZhen nach Norden (und etwas später nach Westen) fährt, durchquert man nacheinander weitere Molochstädte – vorausgesetzt, man bleibt nicht in einem der unvermeidlichen Staus stehen. Zunächst erreicht man DongGuan, das flächenmäßig etwa genauso groß wie ShenZhen ist und ein Drittel mehr Einwohner zählt, dann GuangZhou, die Provinzhauptstadt mit tiefen historischen Wurzeln, in der Fläche dreimal so groß wie ShenZhen mit etwa doppelt so viel Einwohnern.

Im Süden von ShenZhen sind auch keine größeren dünn besiedelten Gebiete zu finden. In Sichtweite über dem Meer erhebt sich bereits HongKong.

Unter anderem weit im Norden der Molochstädte DongGuan und GuangZhou liegen große landwirtschaftlich genutzte Flächen. Bekannt sind die großen Bananenplantagen, sie bauen eine sehr wohlschmeckende Sorte an (kürzer, aber dicker, als wir sie kennen). Im Süden im Perlfluss-Delta wird dagegen Gemüse angebaut und sehr viel Aquakultur betrieben. Irgendwie müssen sich ja auch die Millionen von Menschen versorgen.

ShenZhen und DongGuan zusammen weisen also in etwa die Fläche des Ruhrgebietes auf, mit mehr als sechs Mal so vielen Einwohnern. Nimmt man GuangZhou dazu, finden wir auf einer Fläche, die weniger als drei Mal so groß wie das Ruhrgebiet ist, so viele Menschen wie in halb Deutschland. Da haben wir ZhongShan und ZhuHai, die danach kommen mit ihren weiteren Abermillionen an Einwohnern, noch nicht mitgezählt.

Und all diese Einwohner konkurrieren täglich miteinander, in allen Aspekten. China ist weit mehr, als wir von außerhalb Chinas glauben, ein kochendes Wettbewerbsfeld, auf dem sich die Menschen mit enormer Geschwindigkeit bewegen wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte, die unbedingt als Erste einen kühleren Ort finden wollen, so dass sie nicht als erste verdampfen.

Deshalb will jeder als Erster dort ankommen, wo auch die anderen hinwollen, sei es am Bankschalter oder am anderen Ende der Stadt oder im Stadtzentrum. Im Verkehr gelten formal die gleichen, real andere Regeln als bei uns in Deutschland oder in den USA oder in England. An manchen Orten zu manchen Zeiten ist das Hupen dermaßen wild, so dass ich eines Tages sagte: „Die üben wohl alle für das große südchinesische Autohupfestival!“ –„Welches Festival?“, fragt unser Fahrer irritiert, denn er hatte von einem solchen Wettbewerb verständlicherweise noch nie etwas gehört, da ich es mir erst in der Sekunde meiner Frage ausgedacht hatte.

Wenn die Ampel von Rot auf Grün springt, weiß man nicht, was nun geschieht: Alle können ganz normal losfahren, aber es kann ebenso sein, dass jemand aus der Mitte losspurtet, nach links ausschert und vor allen anderen links einbiegt. Wenn die Ampel so geschaltet ist, dass gleichzeitig auch die Gegenspur Grün bekommt, werden ganz Eilige versuchen, noch vor den Autos der Gegenfahrbahn nach links abzubiegen, selbst wenn man vielleicht vor einigen langweiligen Fußgängern etwas abbremsen muss, denn man kann schlecht über zwanzig Leute hinwegfahren, das würde nur Geschwindigkeit kosten.

Merkwürdigerweise regt sich dabei aber niemand auf. Obwohl dauernd gehupt wird, bei jeder Gelegenheit, wird bei solchen Aktionen nicht gehupt – es sei denn, der Vorwitzige bleibt auf einmal mitten auf der Spur stehen. Wenn er aber vorschnell durchzieht, vorbeispurtet, wird das als Wettbewerbsvorteil anerkannt, man hätte ja selbst auch schneller sein können!

Hervorragende Leistungen im Wettbewerb, und seien es solche im Verkehr, sind in China anerkannt. Den Typ „Oberlehrer“, wie wir ihn in Deutschland überall finden können, scheint es in China nicht zu geben. Niemand wird in China, wenn ein anderes Auto vor einem einschert, dieses überholen, hupen, schimpfen oder sogar noch betont langsam vor demjenigen herfahren, um ihn zu bestrafen.

Die ersten Schritte

Ich bekomme die Rundum-Versorgung – Abholung vom Flughafen HongKong zuzüglich einer kleinen Rundfahrt, die mich beeindrucken soll, danach fahren wir über die Grenze nach ShenZhen, nach „mainland China“. Während ich mich zuerst wohl und behütet fühle, weil unser Händler sich so schön um mich kümmert, kommt schon der erste Verdacht auf: Je mehr ich es genieße, dass man sich um mich kümmert, umso mehr werde ich davon abhängig. Allerdings weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie sich alles weiter entwickeln wird.

Wir kommen in ShenZhen an und holen SunLi ab, die sich bei uns beworben hat – sie möchte für uns arbeiten.

Das erste Gespräch ist etwas zäh, sie ist sehr zurückhaltend, aber ihr Englisch ist gut, ihr Verständnis des Marktes ebenfalls. Mir fällt auf, dass sie mir nicht nach dem Mund redet, sie gibt mir keine wohlfeilen Antworten, sondern eher unbequeme. Sie erzählt mir, dass sie schon von zwei Managern unserer Firma interviewt wurde. Ich gebe vor, darüber unterrichtet zu sein, was aber nicht der Fall ist, und ich erkläre, dass ich mir ein eigenes Bild machen möchte.

Sie hat ihr Studium an einer im Ranking weit oben stehenden Universität in Peking mit einem Master in einem Spezialgebiet der Ingenieurskunst abgeschlossen und arbeitete danach vier Jahre lang bei einem unserer Kunden. Sie ist verheiratet mit einem Elektronikingenieur und wird vermutlich irgendwann ein Kind haben wollen, spätestens in wenigen Jahren, wegen der biologischen Uhr, die sonst abläuft. Das stört mich aber jetzt nicht, wer weiß, was dann ist, es wird sich schon etwas ergeben.

Nach dem Interview lasse ich alles offen, ich werde ihr später Bescheid sagen, ob ich sie nehme oder nicht. Nur unser Händler ist pikiert: Wieso brauchen wir eigene Angestellte in China? Ist er nicht unser bester Übersetzer und Helfer für alle Lebenslagen? Wieso buche ich Hotels allein bzw. über eine Angestellte, nicht über unseren Händler? Aber Kundentermine werden nur über den Händler ausgemacht, nicht wahr? – Nein, ich werde Termine abmachen, wie ich es für nötig halte, das mache ich gleich klar. Ich werde Kunden besuchen, so wie ich es für nötig halte, und nicht immer vom Händler begleitet.

Zurück in Deutschland erfahre ich Folgendes: Der inzwischen entlassene Vertriebsgeschäftsführer, aber auch sein Verkaufsleiter waren strikt gegen die Einstellung der jungen Dame, die ich interviewte. Sie hielten sie für schwach („in dieser Industrie können sich Frauen nicht durchsetzen“), und sie konnten wohl mit den unkonventionellen Antworten nichts anfangen. Sie war beiden wohl zu unabhängig und (trotz ihrer zurückhaltenden Art) zu selbstbewusst. Andererseits machte sie mit ihrem Äußeren (auch mit ihrer Kleidung) keinen besonderen Eindruck, schon gar nicht den einer modernen Managerin. Das aber erschien meinem ehemaligen Mitgeschäftsführer wohl wichtig.

Merkwürdig, dass beide mir von dem Bewerbungsgespräch nichts erzählt hatten. Ich stellte die junge Dame ein.

Die junge Stadt ShenZhen

SunLi und Zhu

1996. Die 18-jährige SunLi geht an eine der anerkanntesten Universitäten in BeiJing. Sie sitzt 33 Stunden im Zug von ihrer Heimatstadt an ihr etwa 1.500 Kilometer entferntes Ziel. Im Verlauf der sieben Jahre, die sie in BeiJing studiert, verkürzt sich die Fahrzeit schrittweise von 33 auf 27, dann 22 und schließlich 13 Stunden; heute wird es noch weniger sein, und in wenigen Jahren werden auch auf dieser Strecke Hochgeschwindigkeitszüge verkehren und die Fahrtzeit auf fünf bis sechs Stunden verkürzen. In BeiJing angekommen, zieht sie in ein Studentenwohnheim, in dem schon ihr Vater vor 25 Jahren gewohnt hatte, er damals natürlich im Männertrakt, nicht bei den Studentinnen. Es hat sich nur wenig verändert seither, China ist noch nicht aus der Stagnation heraus, die Politik der Öffnung hat gerade erst angefangen. Noch ist unklar, was daraus wird.

Es gibt nur ein Telefon unten im Eingangsflur, eine Hausverwalterin achtet darauf, dass sich keine jungen Männer in den Frauentrakt einschleichen, die jungen Studentinnen wohnen zu sechst in einem Raum, schlafen in drei Doppelstockbetten. Es ist eng. Waschen und Duschen muss angemeldet werden, es gibt nicht immer warmes Wasser. Um 23 Uhr wird das Licht abgestellt.

Wenige Jahre später hat sie den Bachelor abgeschlossen und beginnt das Master-Studium. Wieder lebt sie mit fünf anderen Studentinnen für Jahre in einem Sechser-Zimmer. Mit fast allen diesen damaligen Zimmergenossinnen wird sie auch als berufstätige Frau immer Kontakt halten. Auch mit einigen männlichen Studenten entwickeln sich Freundschaften, die über Jahrzehnte Bestand haben.

Ingenieurin Sun und Ingenieur Zhu kennen sich seit der Schulzeit. Sie studieren in verschiedenen Städten, fleißig und zielorientiert. Beide haben jeweils für eine gewisse Zeit eine Liebschaft, aber nichts „Ernstes“. SunLi hat eine platonische Beziehung zu einem Studenten, den sie schließlich „abschießt“, als er ihr eines Tages eröffnet: „Niemand dreht sich auf der Straße nach dir um, niemand würde dich wiedererkennen, du bist hässlich.“ Er will damit wohl ausdrücken, dass sie dankbar sein soll, dass er sich ihrer erbarmt, sie versteht das aber anders und lässt ihn zu schöneren Mädchen ziehen. Ihr Ex-Freund heiratet später eine ihrer besten Freundinnen, die beiden Frauen bleiben im Kontakt, aber jeder Versuch ihres Ex-Freundes, wieder Kontakt aufzunehmen, wird von ihr nicht einmal ignoriert.

Als sie später ihren Schulkamerad Zhu einmal wieder trifft, kommen sich die beiden näher und vereinbaren, nach gewissen Überlegungen, Diskussionen und Abwägungen, zu heiraten. Beide haben aber weder eine Wohnung noch einen Job. Ingenieurin Sun schreibt keine Bewerbungen, sie geht auf einige Stellenmessen an ihrer Universität.

Eine Elektronik-Firma aus ShenZhen wirbt sie an, sie bekommt einen Vier-Jahres-Vertrag, obwohl sie eine ganz andere Ausbildung genossen hat, als auf dieser Stelle gefordert wird. Sie zieht zuerst einmal allein nach ShenZhen und muss das neue Arbeitsgebiet von Grund auf kennenlernen. Ihr Mann sucht zur gleichen Zeit nach einer Stelle, kommt nach einigen Monaten ebenfalls nach ShenZhen, weil er eine Stelle bei HuaWei findet, einem damals noch weitgehend unbekannten aufstrebenden Unternehmen, das Hardware und Software für Telekommunikations-Netzwerke liefert. Heute ist es im Weltmarkt die Nummer zwei oder drei geworden.

Die Telekommunikationsfirma HuaWei ist ein Paradebeispiel für die dramatischen Veränderungen, die das frühere Fischerdorf ShenZhen in den letzten gerade mal 30 Jahren erlebt hat. 1979 wurde beschlossen, in ShenZhen eine der vier speziellen Wirtschaftszonen im „Perlflussdelta“ in der Provinz GuangDong (Kanton) zu begründen, mit denen Deng XiaoPing die Wirtschaft Chinas reformieren wollte, was schließlich gelang. Am 26. August 1980 eröffnete Deng XiaoPing diese erste Wirtschaftszone in ShenZhen, dies gilt als der Geburtstag dieser Stadt. Während ich an diesem Buch schreibe, feiert ShenZhen seinen 30. Geburtstag, und Deng Xiao Ping wäre heute 106 Jahre alt.

Aus einem „Dorf“ mit damals um die 30.000 Einwohnern (zusammen mit ein paar Nachbardörfern vielleicht 100.000 Einwohnern), die alle überwiegend von der Fischerei lebten, entwickelte sich innerhalb dieser extrem kurzen Zeit eine Megastadt von etwa 15 Millionen Einwohnern. Viele Millionen der heutigen Bewohner sind jedoch nicht registriert, also auch offiziell nicht gezählt. Aber sie wohnen dennoch hier.

In den ersten Jahrzehnten zogen Fabriken für Billigwaren wie Kleidung, Schuhe und Spielzeug aus dem nahen HongKong, wo es ihnen zu eng und zu teuer wurde, nach ShenZhen. Schon bald jedoch wanderte die Billigproduktion nach DongGuan und weiter ins Landesinnere hinein, während sich in ShenZhen die Elektronikindustrie entwickelte.

ShenZhen zieht durch moderne Hightech-Unternehmen die bestens ausgebildeten, heißen und aufstrebenden jungen Leute an. Sie wollen bei HuaWei, ZTE, Tencent, IBM, HonHai, Foxconn, beim Automobilhersteller BYD, in Software-Firmen und bei dynamischen Start-ups arbeiten. Oder in der Finanzindustrie und in der riesigen Logistikbranche am Hafen, der inzwischen zum viertgrößten Hafen der Welt geworden ist. Oder in der Bauindustrie und in zahllosen Servicebetrieben, die werben, drucken, einrichten, beraten, verkaufen – oder als Anwälte, Steuerberater, Unternehmensberater, die alle von der Industrie nachgefragt werden.

Und am Vorabend des 30-jährigen Geburtstages von ShenZhen gibt die in ChongQing ansässige Automobilfirma ChangAn bekannt, sie werde in ShenZhen eine Automobilfertigung errichten.

Das Unternehmen HuaWei wird inzwischen überall auf der Welt gefürchtet, aber es ist selbst innerhalb, geschweige denn außerhalb Chinas kaum bekannt, dass dem Gründer der Firma, der sie mit allerstrengstem Regiment führt, nur 1,42% der (nicht frei handelbaren) Aktien gehören. Die restlichen über 98% gehören ausschließlich den inzwischen über 60.000 Mitarbeitern. Dies wird über eine Holding organisiert. Es gibt keinerlei sonstige Anteilseigner, weder Investmentfonds, Rentenfonds, VC-Investoren, noch staatliche Institutionen oder Banken. Wer bei HuaWei ausscheidet, verkauft seine Aktien wieder an die Holding zum jeweils gültigen Tagespreis.

Natürlich ist ShenZhen keine Stadt mit 90% Akademikern. Die boomende Wirtschaft zieht auch die weniger gebildeten, einfachen Arbeiter an, bei weitem nicht nur Wanderarbeiter, sondern Facharbeiter oder Anzulernende, Handwerker und Kleinunternehmer, die Restaurants, Auto-, Fahrrad- und Mopedwerkstätten betreiben, dort wiederum junge Leute einstellen, die mitarbeiten, kochen, bedienen, nähen, liefern und entsorgen. Geschäfte aller Art schießen aus dem Boden, blühen auf, wenn sie einen Bedarf decken, schließen, wenn sie nicht angenommen werden.

Sie alle – zusammen mit den Angestellten der öffentlichen Verwaltung, Ärzten, Krankenpflegern, Kindergärtnern und Lehrern (weiblichen wie männlichen) und die Infrastruktur darum herum, Friseure, Schönheitsinstitute, Massagesalons und was es alles braucht in einer großen Stadt (und auch, was man nicht braucht, so zum Beispiel Scharlatane, Wahrsager und Handlinienleser) – sind die Basis dafür, dass ShenZhen inzwischen wirtschaftlich die viertgrößte Stadt Chinas ist.

Das junge Ehepaar Zhu und SunLi sorgt bei seiner Ankunft in ShenZhen mit dafür, dass das Durchschnittsalter der Einwohner ShenZhens auf unter 30 Jahre fällt. Als sie beide ein paar Jahre später aber die 30 überschreiten, bekommen sie einen Sohn namens HaoKang, der zusammen mit Millionen anderer Babys und Kleinkinder der jungen Familien in ShenZhen das Durchschnittsalter weiter drückt. Angeblich fällt es konstant Jahr für Jahr auf inzwischen unter 27. Wenn man durch die Straßen und Parks wandert, glaubt man das aufs Wort.

Die jungen Eltern Zhu und Sun sind aber auch mit Millionen anderen die Treiber des Baubooms. Schon während der ersten Berufsjahre kaufen sie sich ein Appartement. Wenige Jahre später kaufen sie ein zweites, größeres, das sie aber nicht bewohnen (und auch nicht fremdvermieten). Hier oder in die erste Wohnung sollen die Großeltern einziehen und sich um ihr künftiges Kind kümmern. Die beiden wollen nicht, dass ihr Baby (das sie planen) für viele Jahre bei den Großeltern in der Heimatstadt aufgezogen wird. Darin denken sie anders als viele andere junge chinesische Eltern, die ihre Kinder nicht nur – wie traditionell üblich – bei den Großeltern, sondern auch weit entfernt in einer anderen Stadt aufwachsen lassen.

Beide Wohnungen sind aus Ersparnissen der drei Familien – Zhu und Sun, und deren Eltern – nahezu sofort komplett bezahlt worden, die letzten „Raten“ nur wenige Monate nach dem jeweiligen Kauf. Ingenieur Zhu verdient außergewöhnlich gut bei HuaWei. Dafür muss er aber auch außergewöhnlich viel arbeiten.

Auch SunLi arbeitet hart, zuerst muss sie die komplizierten Herstellungsprozesse ihrer ersten Firma kennenlernen und stundenlang bis in die Nacht hinein die Testproduktion neuer Produkte für die Kunden überwachen. Später, als sie die erste Angestellte der deutschen Firma wird, die von ShenZhen aus Kunden technisch betreuen will, wird es noch intensiver. Ihre Mutter meint öfter, ihr ausländischer Boss sei ja sicher ganz o.k., aber doch ein wenig zu ausbeuterisch, denn er verlange ja viel zu viel von ihr, ob sie nicht besser wechseln wolle und sich einen ruhigeren Job suchen? Da aber ihr Mann mindestens ebenso viel arbeitet und sie die Fortschritte der Arbeit sieht, und weil sie außerdem meint, ihr ausländischer Boss verlange es ja gar nicht, sondern die Kunden verlangten es, bleibt es erst mal bei der sehr intensiven Arbeit, Tag für Tag.

» Im Künstler„dorf“ DaFenCun trägt eine Malerin ihr Baby bei der Arbeit auf dem Rücken.

» Ein kleiner Junge läuft im „Vier-Seen-Park“ begeistert hinter Seifenblasen hinterher, die ein etwa 10-jähriger Junge pausenlos produziert; der Kleine ist nur begeistert von der Blase, will sie nicht fangen, nicht zerstören.

» Am späten Nachmittag fährt ein Junge auf seinem zweirädrigen Rollerblade (nur vorn und hinten je ein Rad, man muss sehr gut balancieren können, Schwung wird durch eine Seitwärtsbewegung der hinteren Hälfte dieses Fahrzeugs gemacht, zwischen der hinteren und der vorderen Hälfte ist ein Kugellagergelenk), gedankenverloren und vollständig mit sich im Gleichgewicht.

» Die Mädchen kommen von der Schule, sie gehen nach Hause zum Mittagessen; sie praktizieren bereits, wie sie später als erwachsene Frauen auch pausenlos über alles werden reden können.

» Das heranwachsende Mädchen findet sich wunderschön und dokumentiert es – mangels eines passenden Partners – selbst.

Leben in ShenZhen

Handwerker Wang

Handwerker Wang lebt seit zehn Jahren in ShenZhen. Er kommt aus einer kleineren Stadt im Inland, wo er befürchtete, seinem Kind nicht die erhoffte Zukunft ermöglichen zu können. Seine Eltern und die Eltern seiner Frau sind früh verstorben, ihn hält nichts mehr dort. Er zieht mit Frau „LuLu“ („wunderschöner Edelstein Jade“) und dem Baby nach ShenZhen. Zuerst arbeitet er tagsüber als Fabrikarbeiter, seine Frau kümmert sich um das Kind. Wenn er nach Hause kommt, geht sie arbeiten, in eine große Näherei in der Nähe. Sie arbeitet jeweils nachts, er tagsüber, so dass das Kind immer betreut und beaufsichtigt ist.

Ein paar Jahre später spüren sie, dass es so nicht weitergeht, sie leben aneinander vorbei, sie sind müde, überarbeitet. So beschließen sie, einen Handwerksbetrieb aufzumachen. Handwerker Wang kann alles reparieren, das macht er auch in der Fabrik, nie wartet er auf die interne Werkstatt; also eröffnet er eine Fahrrad- und Moped-Werkstatt in einer Nebenstraße. Hier ist ständig Betrieb, denn alle möglichen kleinen Geschäfte, Handwerker und Restaurants, falls man die kleinen Essensbuden so nennen darf, sind im Erdgeschoss der Häuser angesiedelt und von früh morgens bis Mitternacht oder länger, wenn Bedarf ist, geöffnet.

LuLu bietet abends auf der Straße warmes Essen an, Snacks und Fleischspieße. Nun sind sie den ganzen Tag zusammen, arbeiten und leben auf der Straße, schlafen in einem kleinen Zimmer im hinteren Teil der Werkstatt, quasi im Büro. Dort machen sie auch die Buchhaltung, falls man das so nennen will. In der Werkstatt steht ein Fernseher, der den ganzen Tag läuft. Xiao LuLu (die „kleine Lulu“), ihre Tochter, geht inzwischen zur Schule.

Mittags kommt sie mit einer Handvoll Freundinnen zum Essen nach Hause, Mutter LuLu kocht, gegessen wird auf kleinen Plastikhockern auf der Straße. Nebenan und auf der ganzen Straße sieht es ähnlich aus. Kinder werden gewaschen, gebadet, gefüttert, sie bekommen draußen die Haare geschnitten; die größeren Kinder machen nachmittags Hausaufgaben im „Büro“ der Werkstätten oder vorne im Geschäftsraum. Die Wäsche hängt am Geschäftseingang oder auch auf der Straße in den Ästen der Straßenbäume.

Die Kinder spielen zusammen vor dem Geschäft oder daddeln an Computern, die Erwachsenen unterhalten sich – wenn gerade keine Kunden da sind – laut von einem Geschäft zum anderen, und wenn der Autoverkehr nicht so intensiv wäre, auch über die Straße rüber. So muss man, wenn man das Gegenüber sprechen will, halt hinüberlaufen.

Die Nachbarn betreiben alle möglichen Geschäfte, es gibt einen Friseurladen, in dem ich auch gelegentlich meine Haare schneiden lasse. Alle Friseure dort sind Männer, die meisten davon anscheinend oder offen schwul (einer fragte mich mal nach meiner Telefonnummer …), während die Frauen und Mädchen nur fürs Haarewaschen und die Kopfmassage, die in China zur Haarpflege gehört und eine Wohltat ist, zuständig sind. Einige Hundert Meter weiter stehen sechs Friseure an der Straßenkreuzung auf dem Bürgersteig, dort kostet das Haareschneiden nur einen Bruchteil des ohnehin aus meiner Sicht schon niedrigen Preises. Ob Malergeschäft, Apotheke, Metallverarbeitung („fünf Metalle“), Bettenzubehör, Lampen oder Laptop-Reparatur – in der Straße findet sich alles, was man braucht! LuLus Konkurrenz bietet dort köstliche „BaoZi“, eine gefüllte Art Dampfnudeltasche, an. Die BaoZi gibt es mit verschiedenen Fleisch- oder Gemüsefüllungen oder mit Suppe, die man vor dem Essen der kompletten Tasche besser heraussaugt, bevor sie auf die Hose oder das Hemd spritzt.

In der Nebenstraße werden Schuhe (und andere Lederwaren) auf offener Straße repariert, es gibt mindestens ein Dutzend Schuster dort, einige haben einen kleinen Laden, andere mobiles Gerät an der Straße, wieder andere arbeiten hinter einem Zaun, die Frau davor wirbt die Kunden an. Ich habe meinen eigenen Schuster für meine ständigen Rucksack-Reparaturen in der Nähe meiner Wohnung, auch ein kleiner Straßenladen. Nicht weit davon entfernt findet man Schneidereien.

Abends und an Sonntagen, wenn weniger Kunden die Dienste nachfragen, sitzt man zusammen, spielt Karten, trinkt Tee oder Bier, an besonderen Tagen auch mal BaiJiu, aber nur selten den guten MaoTai-Schnaps, der ist doch meistens zu teuer. So ist die Straße, auf der Handwerker Wang seine Werkstatt eingerichtet hat, ein kleines Dorf in der Megastadt.

Bauer Song

Bauer Song ist schon lange kein Bauer mehr, sondern Investor. Mit seinen heute 75 Jahren hat er es weit gebracht in ShenZhen. In seinem „Dorf“ XiaShaCun („Dorf unter dem Sand“), heute ein Stadtteil von ShenZhen, ist er einer der zahlreichen anerkannten und geachteten Alten. Ihm gehörte 1979, als in ShenZhen die spezielle Wirtschaftszone eingerichtet wurde, ein Stück Land, das er von seinen Eltern geerbt und bewirtschaftet hatte. Sie waren eine der wenigen Bauernfamilien in diesem Fischerdorf.

Schnell wuchs die Stadt auch in das Gebiet des „Dorfes“ XiaShaCun hinein, und Bauer Song verkaufte sein Land. Mit dem Geld baute er eines der ersten großen Mietshäuser in XiaShaCun und lebt heute von den Mieteinnahmen weiterer Häuser, die er später baute. Längst kümmert er sich nicht mehr selbst um die Verwaltung. Warum soll er sich in seinem Alter die Klagen der Mieter anhören darüber, dass es hier tropft, dort das Licht nicht funktioniert, hier die Tür klemmt? Das können die jungen Hüpfer, die er angestellt hat, viel besser.

Bauer Song, wie er nichtsdestoweniger nach wie vor respektvoll genannt wird, liebt seine weißen (und auch die oft nicht mehr ganz weißen) Unterhemden, er hat nur ein einziges „echtes“ Oberhemd, das zieht er an, wenn sie sich sonntags zum Essen treffen. Sonst braucht er das nicht. Wenn es im Winter kühler ist, zieht er eine etwas in die Jahre gekommene und auf der Oberfläche durchaus die Geschichte von Arbeit und Essen erzählende Lederjacke über, diese Jacke liebt er. Dass er sie nicht mehr schließen kann, weil sein Bauch etwas zu weit nach vorn schaut, ist ihm egal. Bauer Song hat kein Auto und braucht keins, alles, was er braucht, ist in Fußnähe. Was er nicht in XiaShaCun finden kann, findet er im nur wenige Gehminuten entfernten Nachbardorf ShangShaCun („Dorf über’m Sand“).

Tagsüber kümmert er sich um seine Geschäfte, das heißt, er frühstückt in einem kleinen Eckrestaurant, läuft anschließend im Dorf herum, spricht mit diesem und jenem und allen, hat seine Nase im Wind und überlegt, ob er das eine Haus abreißen und ersetzen oder doch besser renovieren soll. Und vielleicht sollte er die kleinen Mietwohnungen zusammenlegen zu größeren Einheiten, die dann die jungen Hüpfer, die hier überall rumlaufen und zahllose Kinder bekommen, kaufen könnten, dann wäre er auch seine Sorgen als Vermieter los. Er kann das ja mal mit einem seiner vier Häuser versuchen. Ein Nachteil ist, dass die Häuser so eng zusammenstehen, die Gassen sind ja teilweise gerade mal zwei Meter breit, und die Häuser sechs oder acht Etagen hoch! Werden junge Familien da Eigentum kaufen wollen? Andererseits ziehen sie ja hier hin wie wild, paaren sich und gebären, haben dicke Autos, dass man sich schämen sollte, warum sollten sie keine Wohnungen hier kaufen? Es ist ja immerzu ein reges Leben hier in den kleinen Straßen und Gässchen, ihm und all den anderen Leuten hier gefällt es.