Geleitwort
Das Zeichenbuch
Wächtertrias 1: Skalitzer Totem
Wächtertrias 2: Faustrecht des Anfangs
Wächtertrias 3: Wikingerausflug
Serie A: Tätowierungen
Tätowierung 1: Notdürftig verhüllt
Tätowierung 2: Berg und Beute
Tätowierung 3: Keil und Donner
Tätowierung 4: Zahn und Zeit
Tätowierung 5: Katzenstein
Tätowierung 6: Hundefelsen
Anhaltspunkte im Gestein der Zeit
Endloser Uranfang
Grotte und Mond
An der Wand
Aus Sicht des Wilden Mannes
Stadtbrand
Ein Blick ins Universum nebenan
Warten (in blauer Nacht)
Das Zusammenspiel (mit Jürgen)
Hören_der_Monster (Urbane Vanitas)
Serie B: Faltungen
Faltung 1: Beutelberg
Faltung 2: Dazwischen und Darunter
Faltung 3: Steinroboter
Faltung 4: Ballung und Fächerung
Faltung 5: Heran, schwebende Figur
Faltung 6: Vorzeitiger Krieger
Faltung 7: Entfesselungskunst
Faltung 8: Offen für Weiteres
Faltung 9: Fortsetzung folgt
Der Bilder Berg und Fluss heißt im Untertitel „Zeichenbuch“. Damit stellt sich eine Frage: Ist ein Zeichenbuch, ähnlich einem Zeichenblock, ein Buch, in das jemand zeichnet oder gezeichnet hat; das sich also mit dem Zeichnen von einem leeren Buch in ein Buch voller Zeichnungen verwandelt? Oder ist es am Ende ein Buch voller Zeichen, wie das vom Buch der Vorsehung überschriebene Buch der Natur?
Ke Shiqiang hat auf der ersten Seite seines Präsenzbuches, in das er Gedanken zu seinen Bildern notiert, zwei Wörter eingetragen, die als Motto verstanden werden können: „Zeichen zeichnen.“ Das Zeichnen, schreibt er weiter, sei eine Art Schrift; eine Schrift aber, deren Zeichen nur je ein einziges Mal geschrieben würden.
Auf die Frage, ob die Analogie von Zeichnen und Schrift damit zu tun habe, dass man in China den gleichen Pinsel zum Schreiben und zum Malen benutzt, verweist er auf das griechische Wort graphein, das sowohl zeichnen als auch schreiben bedeutet. „Die Chinesen haben vieles erfunden, aber nicht die gemeinsame Wurzel von Bild und Schrift.“
Wenn man Ke Shiqiang, der 1990 in der Nähe von Guilin in der Provinz Guangxi geboren wurde, auf seine chinesische Herkunft anspricht, führt er, der im Norden Europas aufgewachsen ist, die Macht des Bodens an. „Auch eine Pflanze entsteht nicht nur aus einem Samen. Sie braucht den richtigen Boden und das geeignete Klima, um zu gedeihen. Der Mensch, der sich, anders als eine Pflanze, von Ort zu Ort bewegt, unterliegt diesen Einflüssen sogar noch mehr. Denn er folgt den Kraftlinien, die aus dem Boden der Kultur hervorgegangen sind. Bilder entwachsen immer dem spezifischen Boden einer Kultur, und sie gedeihen nur in einem spezifischen, für sie geeigneten Klima. Oder, um kein biologistisches Missverständnis auf kommen zu lassen: Bilder sind immer mit der Kraft des Bodens kurzgeschlossen. Die Kraft des Bodens, die in meinen Bildern wirkt, ist keltisch-germanisch.“
In der Tat sucht man in Ke Shiqiangs Bildern mit ihren dichten Verschlingungen von vegetabilen und animalischen Motiven, skurrilen Fratzen, Masken und Mischwesen, die selbst in seiner geometrisierenden Phase noch durchscheinen, zumindest auf den ersten Blick vergeblich nach einer typisch chinesischen Bildsprache. Erst einem zweiten Blick zeigt sich die Verbindung seines Werks mit der chinesischen Kultur. Auf Chinesisch nennt man Landschaftsbilder shanshui, was „Berge und Wasser“ bedeutet. Der Name erinnert daran, dass die Malerei die frühen Opferkulte beerbte, mit denen einst die gewaltigsten der Naturkräfte beschworen wurden. Zugleich schlägt er dem philosophischen Denken eine Brücke zu der metaphysisch oder kosmologisch interpretierten Dualität von Ruhe und Bewegung. Ke Shiqiangs „keltisch-germanische“ Bilder können als ein rastloses
Durchspielen der dynamischen Beziehung von Berg und Fluss, Stein und Strom, gelesen werden. So konvergieren Herkunft und Boden in seinen Bildern.
Die Formulierung eines wohlwollenden Kritikers, dass Ke Shiqiang sich „in zwei Kulturen zuhause“ fühlen dürfe, weist er zurück. „Es geht mir nicht um eine kunstmarktgängige Übereinkunft oder diplomatische Kompromisse, sondern um Fusion. Das lässt sich nicht durch Zuhause-sein regeln. Meine Bildsprache – sofern sie überhaupt als ‚meine‘ gelten kann – ist ent-, aber ge-bunden, d.h. weder an- noch un-gebunden.“
Wer ist Ke Shiqiang? Bei meiner Frage, was ich über ihn schreiben dürfe, war mir seine Antwort eigentlich schon im Voraus klar:
„Für das Betrachten der Bilder sind nur die Bilder wichtig.“
„Sonst nichts?“
„Und ihr Verhältnis zum Unsichtbaren.“
Der Bilder Berg und Fluss folgt diesen Vorgaben – und leistet vielleicht gerade dadurch eine Annäherung an Ke Shiqiangs Person, gegen die selbst er nichts einwenden kann. Denn wenn man ihn dazu bringt, über seine Bilder zu sprechen, beginnen seine Bilder über ihn zu sprechen. Auch wenn er gewöhnlich Stellungnahmen zu kunsthistorisch relevanten Fragen ablehnt, ist er doch keiner der gänzlich Verschwiegenen. Er führt nicht nur sein Präsenzbuch, er hat auch Texte zu seinen Bildern verfasst, die ihnen im Zeichenbuch zur Seite gestellt sind. Als dritte Quelle, die in den Text eingeflossen ist, standen Aufzeichnungen unserer Gespräche zur Verfügung, die wir im Lauf der Jahre geführt haben.
Es gibt Dinge, Ereignisse, Ideen und Personen, denen man sich am besten über Umwege nähert. Der direkteste Umweg zu Ke Shiqiang und seiner Bildwelt führt über China.
Einer alten chinesischen Künstlerlegende zufolge verließ ein Maler die Welt, indem er sein eigenes Bild betrat und in ihm verschwand. Der metaphorische Wert der Legende lag darin, dass sie zwei tief verwurzelte, sich oberflächlich jedoch widersprechende Überzeugungen chinesischer Maler anklingen ließ: Zum einen hieß es, dass man zum Bambus werden musste, wenn man Bambus malen wollte. Man musste sein störendes Ich aufgeben und sich in das versenken, was keinesfalls zum Objekt werden durfte. Zum anderen galt, dass sich die Persönlichkeit eines Künstlers beim Malen ins Bild einschrieb. Sie löste sich, indem sie ins Bild einging, nicht auf, sondern erhielt sich in ihm; vielleicht sogar nur in ihm. Das Bild erlaubte und erzwang eine Rückführung der Kunst auf den Künstler, ohne doch zu einer Subjektivierung zu führen. Bilder sollten immer die Niederschrift einer Idee (xieyi) sein, in der es weder Subjekt noch Objekt – und schon gar nicht ihre Trennung – gab. War der Maler zu dem geworden, was er ins Bild hatte bannen wollen, so war das Bild zugleich zum „Abdruck seines Herzens“ (yinxin) geworden, wie es der gelehrte Kunstgeschichtsschreiber Guo Ruoxu im elften Jahrhundert formulierte. Das Herz galt als Tiefenschicht einer Persönlichkeit, die sich vielleicht nicht immer einig mit ihrer Mitwelt, wohl aber mit dem umfassenden Dao wusste. Bilder ohne „Abdruck des Herzens“ wurden als reine Handwerksarbeiten betrachtet und nicht als Kunst anerkannt.
Wie verhalten sich Bild und Person in Ke Shiqiangs grafischem Werk? Schreibt sich seine Persönlichkeit in einer Art Seelenschrift in seine Bilder ein?
Ke Shiqiang bezeichnet seine Zeichnungen als Protokolle gelungener Augenblicke des Lebens. „Insofern sind auch meine graphischen Spuren biographische. Aber deswegen muss man nicht gleich eine Persönlichkeit bemühen.“
Mitunter klingt bei Ke Shiqiang die Geste der hemdsärmeligen Rebellen durch, die periodisch im Haus der Kunst herumlärmen, um sich dann von der Zunft als Erneuerer feiern zu lassen. Nicht nur im Westen hat man solchen Rebellen Plätze in der Ruhmeshalle der Kunst eingeräumt. China kannte bereits in der Tang-Zeit (618 – 907 n. Chr.) Maler, die ihr langes Haar mit Tusche tränkten, um sie, vorbei an aller Persönlichkeit und kultivierten Pinseltechnik, auf Seide oder Papier zu klatschen. Diese „Ungebundenen“ (yi) gruppierte man unter den Malern in eine eigene Wertkategorie, die man bald sogar noch über der Klasse der herkömmlich Genialen (shen) platzierte.
Vielleicht ist es gerade Ke Shiqiangs rebellischer Geist, der ihn durch eine hintersinnige List der Kunstgeschichte zu einem Vermittler werden lässt. Wenn die Kunst zweier Kulturen, hier der keltisch-germanischen und der chinesischen, fusionieren könnte, dann in seiner Bildwelt. Dazu mag auch gehören, dass er selbst beim Begriff der Kunst abwinkt: