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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2004

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Die Geschichten sind den bisher in der Reihe

»Sonne, Mond und Sterne« erschienenen Büchern entnommen

Cover und Illustrationen von Silke Brix

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014

 

ISBN 978-3-86274-089-5

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King-Kong,
das Geheimschwein

1.

Mit Michi kriegt Jan-Arne immer Krach. »Hau ab, du!«, schreit Michi. »Lass dich hier nie wieder sehen, du Blödmann!«

»Selber Blödmann!«, schreit Jan-Arne. Aber vorsichtshalber zieht er dabei seinen Kopf ein.

»Doofi!«, schreit Michi.

»Selber Doofi!«, schreit Jan-Arne.

Dann tritt er in die Pedale, dass sein Gokart wie nichts davonsaust. Michi ist stärker als er und Michi ist wütend. Dabei ist Jan-Arne nur mal mit seinem Gokart gegen Michis neues Fahrrad gedonnert. Fast aus Versehen. Das hat Michi nicht gut gefunden. Und deshalb haut Jan-Arne jetzt auch lieber ab. Er weiß schon, wohin.

2.

Wo die Siedlung aufhört und es keine Hochhäuser mehr gibt, sind die Gärten. Viele kleine Häuser stehen zwischen ordentlichen Beeten und es gibt Hollywoodschaukeln und Blumenkästen. Hier hat Jan-Arne neulich einen großen Jungen getroffen. Der heißt Frieder und er hat Jan-Arne etwas ganz Ungeheuerliches erzählt.

Jan-Arne sieht schon von Weitem, dass Frieder da ist. Sein Rad lehnt am Zaun und außerdem hört man ihn so komisch reden.

»Hallo!«, ruft Jan-Arne und parkt sein Gokart neben der Pforte. »Sind sie angekommen?«

Hinter den Stachelbeersträuchern guckt ein Kopf heraus.

»Vier Stück!«, sagt der Kopf und verschwindet wieder.

»Vier Stück!«, sagt Jan-Arne. Das ist ja ganz unglaublich.

Hinter den Sträuchern ist ein kleiner Rasen. Darauf hat Frieder aus Kaninchendraht ein Viereck abgesteckt. Und darin krabbeln sie. Sechs Stück. Sechs wunderbare schwarze und weiße und braune Meerschweinchen.

»Mann!«, sagt Jan-Arne und hockt sich neben Frieder. »Meine Güte, du!«

Frieder nickt zufrieden. »Alles ganz locker«, sagt er. »In null Komma nix hat sie die gekriegt. Und gleich mit Fell und ganz fertig und alles. Nicht so hässlich nackt wie Babymäuse. Mäuse hab ich auch.«

Jan-Arne schluckt. Es geht ungerecht zu auf der Welt. Frieder hat Mäuse und Meerschweinchen und er hat gar nichts. Und jetzt hat Frieder sogar sechs Meerschweinchen! Von den beiden Weibchen, die er zum Geburtstag gekriegt hat, war eins dann nämlich doch ein Männchen. Anna.

Aber Susanna war wirklich ein Weibchen und darum hat sie jetzt Junge gekriegt, vier Stück. Und in neun Wochen kriegt sie das nächste Mal Junge. Bei Meerschweinchen geht das ganz fix, hat Frieder gesagt. Und die gehören dann wieder alle Frieder!

»Du hast es gut!«, sagt Jan-Arne.

»Ja, nicht?«, ruft Frieder und greift sich ein kleines schwarzes Schwein mit weißem Po. »Willst du mal halten?«

Jan-Arne nickt. Er langt ganz vorsichtig hin. Das Meerschweinchen ist warm und weich und gerade richtig groß für seine Hände. Es fiept leise, als ob es Angst hat.

»Psst, psst, psst, du«, sagt Jan-Arne und hält das Schwein ganz dicht an sein Gesicht. »Ich bin doch nur Jan-Arne. Ich tu dir doch nichts.«

Das Schwein schnuppert an seiner Nase. Es hat winzige Barthaare, darum kitzelt es wunderschön.

»Jetzt mag es mich«, sagt Jan-Arne. »Es fiept nicht mehr.«

»Tu zurück«, sagt Frieder. »Das muss wieder zu seiner Mutter. Das darf sich nicht aufregen. Dafür ist es noch zu klein.«

Jan-Arne setzt das Schwein vorsichtig zurück in die Absperrung. »Wie heißt es?«, fragt er.

Frieder zuckt die Achseln. »Keine Ahnung«, sagt er. »Du kannst ihm ja einen Namen geben.«

»Ehrlich?«, fragt Jan-Arne. Das ist doch nett von Frieder. Da ist es ja beinah so, als ob es sein Schwein wäre!

»Logisch«, sagt Frieder. Und dann sagt er etwas ganz Ungeheuerliches.

»Du kannst ihn kriegen«, sagt er.

Einfach so. Als wenn das gar nichts wäre.

Jan-Arne merkt, dass er vor Aufregung anfängt zu zittern. »Ich hab aber nur zwei Euro vierzig«, sagt er vorsichtig. Das soll Frieder lieber gleich wissen. Nicht, dass Jan-Arne sich erst so fürchterlich freut und hinterher wird es dann doch nichts. Da soll Frieder ihm lieber gleich Bescheid sagen, wenn zwei Euro vierzig zu wenig ist.

Und es kann ja im Leben nicht reichen.

Nicht für ein echtes Meerschweinchen!

Wo Masters-Figuren schon fünfzehn Euro kosten und die sind noch nicht mal lebendig. Nur an den Armen und Beinen wackeln kann man bei denen.

»Kriegst du umsonst«, sagt Frieder. »Glaubst du, ich kann die alle behalten? Wo Susanna doch immer noch mehr kriegt? Den kannst du so haben, ohne Geld.«

Jan-Arnes Herz pocht wie verrückt. Wie sonst nur zu Weihnachten und am Geburtstag pocht es.

»Oh, danke schön«, flüstert Jan-Arne. Es gibt wunderbare Menschen auf der Welt und Frieder ist der allerwunderbarste.

»Aber zwei Wochen musst du noch warten«, sagt Frieder. »So lange muss der noch bei seiner Mutter bleiben. Du kannst ja schon mal Gras pflücken. Das fressen die am liebsten. Pfundweise.«

Jan-Arne springt auf. Gras pflücken, das wird er tun. Hunger haben soll sein kleines Schwein bei ihm bestimmt nicht.

3.

»Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, fragt Mama, als Jan-Arne im Unterhemd nach Hause kommt.

Den Pullover hat er für Gras gebraucht. Den schleppt er als zusammengeknotetes Bündel hinter sich her.

»Du holst dir doch die dickste Erkältung!«, sagt Mama. »Und was, um Himmels willen, hast du mit deinem Pullover gemacht?«

»Gar nichts, ehrlich«, sagt Jan-Arne und will im Kinderzimmer verschwinden.

Aber Mama ist schneller.

»Zeig her!«, sagt sie und knotet den Pullover auseinander. Gras fällt auf den Flurteppich, unheimlich viel Gras.

»Nein!«, ruft Mama.

Es war gar nicht so einfach, das ganze Gras zusammenzukriegen. Jan-Arne musste sich richtig anstrengen. Überall in der Siedlung ist der Rasen ganz kurz gemäht, da war nicht viel zu holen.

»Willst du dir Kühe anschaffen?«, fragt Mama böse. »Hier oben im dritten Stock?«

»Nee, Kühe nicht«, sagt Jan-Arne vorsichtig.

»Sofort bringst du das Zeug nach unten in die Mülltonne«, sagt Mama. »Du bist ja wohl verrückt!«

Da traut Jan-Arne sich nicht, ihr das von dem Meerschweinchen zu erzählen.

Er hat ja schließlich noch zwei Wochen Zeit.

4.

In der nächsten Zeit geht Jan-Arne jeden Tag zum Garten. Manchmal ist Frieder da und manchmal nicht. Vorher weiß man das nie.

Aber wenn er da ist, darf Jan-Arne jedes Mal mit King-Kong spielen. King-Kong soll sein Meerschweinchen heißen, das findet Jan-Arne gut. Weil es nämlich einmal groß und stark und wild sein soll.

Und gefährliche Kinder kratzen und beißen, wenn Jan-Arne das will.

Michi zum Beispiel. Der hat ihm heute in der Pause schon wieder eine gescheuert. Nur zu Jan-Arne, da bleibt King-Kong dann auch als großes Schwein immer noch lieb und zahm und schmusig.

»Das ist aber ein Weibchen, ich sag’s dir gleich«, sagt Frieder. »Willst du lieber ein Männchen?«

Jan-Arne schüttelt den Kopf. Er will King-Kong, ganz genau King-Kong, und ob der ein Weibchen ist, ist ihm doch völlig gleich.

5.

»Gras hab ich schon massenhaft«, sagt Jan-Arne eines Tages zu Frieder. »Wann kann ich ihn denn nun holen?«

»Der trinkt noch zu viel bei der Mutter«, sagt Frieder. »Paar Tage musst du noch warten.«

»Schade«, sagt Jan-Arne. Aber ein bisschen ist er auch erleichtert. Er hat Mama nämlich noch immer nicht gefragt, ob er King-Kong haben darf. Papa auch nicht.

All das Gras hat er heimlich gepflückt auf dem Nachhauseweg von der Schule.

Transportiert hat er es im Schulranzen, damit Mama nichts merkt. Dann hat er es in den Kasten für die Eisenbahn unter seinem Bett getan.

Die Eisenbahn hat er im Zimmer aufgebaut, damit im Kasten Platz ist.

»Komisch«, sagt Mama, als sie ihm sein Frühstücksbrot in den Ranzen tun will.

»Deine ganzen Bücher sind ja voll Gras! Wie kommt das denn?«

»Och«, sagt Jan-Arne.

»Was du bloß immer mit dem Gras hast!«, sagt Mama. »Aber in die Wohnung kommt mir das nicht mehr, hörst du?«