Die Blood on Snow-Reihe mit den beiden Bänden Der Auftrag und Das Versteck ist eine Besonderheit im Werk von Jo Nesbø. Beide Romane sind kurze, literarische Thriller, die vor allem der amerikanischen Erzähltradition verpflichtet sind. Hier zeigt sich Nesbøs Liebe zu Jim Thompson und zu James Ellroy. Und doch tragen diese Thriller ganz klar seine Handschrift und wurden zu Bestsellern auf dem deutschen Markt.
Zwei Thriller in einem Band
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2018
© für die deutschen Ausgaben Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin 2015 (Blood on Snow. Der Auftrag) und 2016
(Blood on Snow. Das Versteck) / Ullstein Verlag
© 2015 by Jo Nesbø
Titel der norwegischen Originalausgaben:
Blod på snø und Mere blod (Aschehoug, Oslo, 2015)
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung –
Cornelia Niere, München
Titelabbildung: © Carlos Caetano / Arcangel Images
Autorenfoto: © Thron Ullberg
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-1787-8
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Der Schnee tanzte wie Baumwollflocken im Schein der Lampe. Richtungslos, nicht wissend, ob es nach oben oder unten ging, ließ er sich von dem eisigen Wind davontragen, der aus der Dunkelheit vom Oslofjord herüberwehte. So vereint wirbelten Luft und Schnee durch die Finsternis zwischen den verlassenen Lagerhäusern am Kai. Bis der Wind das Spiel irgendwann leid war und seinen Tanzpartner dicht an der Wand ablegte, wo sich die trockenen, zusammengewehten Kristalle unter den Schuhen des Mannes sammelten, dem ich gerade in Brust und Hals geschossen hatte.
Das Blut tropfte vom Hemdkragen auf den Schnee. Ich weiß nicht viel über Schnee – und auch sonst nur wenig –, aber irgendwo habe ich gelesen, dass Schneekristalle, die sich bei extremer Kälte bilden, ganz anders sind als die von Schneematsch oder Graupel. Die Struktur der Kristalle und die Trockenheit des kalten Schnees sorgen dafür, dass das Hämoglobin im Blut seine tiefrote Farbe behält. Ich jedenfalls musste beim Anblick des Schnees unter ihm an die Robe eines Königs denken, Purpur und Hermelin. Wie auf den Illustrationen in dem alten norwegischen Märchenbuch, aus dem meine Mutter mir immer vorgelesen hat. Sie liebte Märchen und Könige. Wohl deshalb hat sie mich nach einem von ihnen benannt.
In der Aftenposten stand, dass 1977 das kälteste Jahr seit dem Krieg werden könnte, wenn der extreme Frost noch bis Neujahr anhielte, und dass wir uns an dieses Jahr als den Beginn der neuen Eiszeit erinnern würden, von der die Forscher seit geraumer Zeit redeten. Aber was wusste ich schon? Ich wusste nur, dass der Mann, der vor mir lag, nicht mehr lange zu leben hatte. Das Zittern, das durch seinen Körper ging, war eindeutig. Er war einer der Männer des Fischers. Es war nichts Persönliches. Das habe ich ihm auch gesagt, bevor er an der Wand zusammensackte und einen blutigen Streifen auf den Steinen hinterließ. Obwohl ich nicht glaube, dass es ihm die Sache leichter gemacht hat, bloß weil es nichts Persönliches war. Sollte ich einmal selbst erschossen werden, dann lieber aus persönlichen Gründen. Jedenfalls habe ich das nicht gesagt, um nicht von seinem Geist verfolgt zu werden, ich glaube nämlich gar nicht an Geister. Mir ist ganz einfach nichts anderes eingefallen. Natürlich hätte ich den Mund halten können. Normalerweise tue ich das auch, aber dieses Mal war mir irgendwie danach, etwas zu sagen. Vielleicht lag es daran, dass in einigen Tagen Weihnachten war. Angeblich rücken wir Menschen ja zusammen, wenn sich dieses Fest nähert. Aber was weiß ich.
Ich dachte, das Blut würde an der Oberfläche des Schnees gefrieren, doch stattdessen sog der Schnee es tief in sich auf und versteckte es, als habe er damit irgendetwas vor. Auf dem Nachhauseweg stellte ich mir vor, wie sich ein Schneemann aus der Wehe erhob, unter dessen leichenblasser Eishaut die Adern zu sehen waren. Ich rief Daniel Hoffmann aus einer Telefonzelle an und sagte ihm, dass der Job erledigt sei.
Hoffmann war zufrieden und stellte wie gewöhnlich keine Fragen. Entweder hatte er im Laufe der vier Jahre, in denen ich für ihn expedierte, gelernt, mir zu vertrauen, oder er wollte einfach nichts wissen. Der Job war erledigt, warum sollte ein Mann wie er sich mit Details abgeben, wenn er doch dafür zahlte, weniger Probleme an der Backe zu haben. Er bestellte mich für den nächsten Tag in sein Büro, er hatte einen neuen Job für mich.
»Einen neuen Job?«, fragte ich und spürte mein Herz schneller schlagen.
»Ja«, sagte Hoffmann. »Einen neuen Auftrag.«
»Ah so.«
Erleichtert legte ich auf. Denn viel mehr als das, was ich machte, konnte ich auch nicht.
Es gibt vier Arten von Jobs, für die ich nicht zu gebrauchen bin. Einen Fluchtwagen fahren. Schnell fahren kann ich, das ist es nicht. Aber ich kann nicht anonym fahren, und wer einen Fluchtwagen fährt, muss beides können. Man muss es schaffen, ein Auto unter vielen zu sein. Ich habe mich und zwei andere in den Knast gebracht, weil ich nicht unauffällig genug gefahren bin. Ich bin gerast wie eine Wildsau, über Waldwege und Hauptstraßen, und hatte meine Verfolger längst abgehängt. Kurz vor der schwedischen Grenze bin ich dann vom Gas gegangen und brav wie ein Opa am Sonntagnachmittag weitergezockelt. Trotzdem wurden wir von einem Streifenwagen gestoppt. Hinterher meinten sie, sie hätten nicht einmal geahnt, dass es sich um einen Fluchtwagen handelte und dass ich weder zu schnell gefahren sei noch gegen irgendwelche Verkehrsregeln verstoßen hätte. Ich weiß nicht, warum, aber sie fanden meinen Fahrstil irgendwie verdächtig.
Für Raubüberfälle komme ich auch nicht in Frage. Ich habe gelesen, dass über die Hälfte aller Bankangestellten, die Opfer eines Raubüberfalls waren, anschließend psychische Probleme haben, einige sogar für den Rest ihres Lebens. Ich weiß nicht, aber der Alte an der Kasse des Postamts, das ich mal überfallen habe, hatte es verdammt eilig, psychische Probleme zu bekommen. Er ging schon zu Boden, als der Lauf meiner Schrotflinte nur vage in seine Richtung zeigte. Und schon am nächsten Tag stand was von psychischen Problemen in der Zeitung. Eine flotte Diagnose, aber trotzdem; will man irgendwas nicht haben, dann doch psychische Probleme. Also habe ich ihn im Krankenhaus besucht. Er hat mich natürlich nicht wiedererkannt, ich hatte in der Post ja auch eine Weihnachtsmannmaske auf. (Die perfekte Verkleidung, wirklich keine Sau hat in der Vorweihnachtshektik Verdacht geschöpft, als drei als Weihnachtsmänner verkleidete Typen mit Säcken über der Schulter aus dem Postamt kamen.) Ich blieb in der Tür des Zimmers stehen und musterte den Alten. Er lag auf dem mittleren Bett und las den Klassenkampf, die Kommunistenzeitung. Ich habe nichts gegen Kommunisten, nichts gegen Kommunisten als Individuen. Oder doch, das habe ich. Aber ich will nichts gegen sie haben, ich meine bloß, dass sie auf der falschen Fährte sind. Deshalb hatte ich so was wie den Anflug eines schlechten Gewissens, als ich merkte, dass ich mich viel besser fühlte, weil dieser Kerl den Klassenkampf las. Aber es gibt natürlich einen Unterschied zwischen dem Anflug eines schlechten Gewissens und einem wirklich schlechten Gewissen. Und ich habe mich, wie gesagt, viel besser gefühlt. Mit Raubüberfällen war von da ab trotzdem Schluss. Es konnte schließlich sein, dass der Nächste kein Kommunist war.
Drittens kann ich nicht mit Drogen arbeiten. Ich schaffe das einfach nicht. Dabei macht es mir keine Probleme, Leute in die Mangel zu nehmen, die meinen Chefs Geld schulden. Jeder Junkie muss sich erst einmal selbst an die Nase fassen, und ich bin ganz klar der Meinung, dass man für seine Fehler geradestehen muss. Nicht mehr und nicht weniger. Das Problem ist eher, dass ich ein schwaches, sensibles Seelchen bin, wie meine Mutter das immer genannt hat. Sie hat sich bestimmt in mir wiedererkannt. Wie dem auch sei, ich sollte meine Finger von den Drogen lassen. Schließlich bin ich – ihrer Meinung nach – der Typ Mensch, der nur darauf wartet, sich unterzuordnen. Egal ob einer Religion, einem großen Bruder oder einem Chef. Oder eben Drogen und Alkohol. Außerdem kann ich nicht rechnen, ich schaffe es kaum, bis zehn zu zählen, ohne mich zu verhaspeln. Und das ist gar nicht gut, wenn man dealt oder Geld eintreiben muss. Das versteht sich ja von selbst.
Okay, kommen wir zum letzten Punkt: Prostitution. Eigentlich ist es da auch wieder dasselbe. Ich habe keine Probleme damit, dass Frauen Geld mit etwas verdienen, was ihnen Spaß macht, oder dass ein Typ – zum Beispiel ich – ein Drittel ihrer Einnahmen einsteckt, um für sichere Rahmenbedingungen zu sorgen. Ich meine, sie sollen sich ja ganz auf ihr Handwerk konzentrieren können. Ein guter Zuhälter ist jede Krone wert, die man ihm zahlt, dieser Überzeugung war ich schon immer. Das Problem ist, dass ich mich schnell verliebe und dabei das Geschäft aus den Augen verliere. Außerdem mag ich keine Gewalt gegen Frauen, verliebt oder nicht. Vielleicht hat auch das mit meiner Mutter zu tun, wer weiß? Vielleicht kann ich deshalb nicht einmal zusehen, wenn andere Kerle Frauen verprügeln. Ich verliere dann den Kopf. Nehmen wir zum Beispiel Maria. Lahm und taubstumm. Ich weiß nicht, was diese beiden Dinge miteinander zu tun haben, vermutlich nichts, aber irgendwie scheint es wie mit einer Pechsträhne zu sein, hat man erst einmal schlechte Karten, geht das auch so weiter. Vermutlich hatte Maria deshalb auch einen Junkie zum Freund. Einen Kerl mit einem vornehmen, französischen Namen, der Hoffmann dreizehntausend schuldete. Drogengeld. Das erste Mal gesehen habe ich sie, als Pine, Hoffmanns oberster Zuhälter, auf eine Frau in einem selbstgenähten Kleid zeigte, sie hatte die Haare in einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, als käme sie geradewegs aus der Kirche. Sie saß auf der Treppe der Ridderhalle und weinte. Pine erklärte mir, dass sie die Drogenschulden ihres Freundes abarbeiten solle. Ich dachte, es wäre gut, sie sanft an die Arbeit heranzuführen und erst einmal nur ein bisschen Handarbeit machen zu lassen. Aber sie stürzte schon nach zehn Sekunden aus dem ersten Auto, in das sie eingestiegen war. Stand da und heulte wie ein Schlosshund, während Pine sie anbrüllte. Vielleicht glaubte er ja, dass sie ihn hörte, wenn er nur laut genug brüllte. Vielleicht war dieses Brüllen, vielleicht aber auch die Sache mit meiner Mutter, schuld daran, dass ich den Kopf verlor. Dabei verstand ich die Argumente, die Pine ihr ins Hirn zu brüllen versuchte. Auf jeden Fall endete es damit, dass ich meinen eigenen Vorgesetzten zusammenschlug. Danach nahm ich Maria mit in eine Wohnung, die vermietet werden sollte, und ging zu Hoffmann und sagte ihm, dass ich als Zuhälter nicht taugte.
Worauf Hoffmann meinte – und auch dagegen lässt sich nichts einwenden –, er könne es nicht zulassen, dass jemand seine Schulden nicht bezahle, das würde sonst nur die Zahlungsmoral anderer und wichtigerer Kunden gefährden. Überzeugt, dass Pine und Hoffmann auf der Suche nach der Frau waren, die den Fehler begangen hatte, die Schulden ihres Liebsten zu übernehmen, machte ich mich auf die Suche nach dem Franzosen und fand ihn in einer Wohngemeinschaft oben in Fagerborg. Er war ebenso zugedröhnt wie pleite, so dass mir schnell klar war, dass ich nicht eine einzige Krone aus ihm herausholen würde, auch wenn ich ihn schwer durchschüttelte. Ich drohte damit, ihm das Nasenbein ins Hirn zu rammen, sollte er sich Maria nur einen Schritt nähern, wobei ich ernsthaft daran zweifelte, ob von beiden überhaupt noch was übrig war. Dann ging ich zu Hoffmann, sagte ihm, der Lover sei endlich zu Geld gekommen, gab ihm dreizehntausend und ließ ganz klar durchblicken, dass ich davon ausging, dass die Jagd auf die Frau damit ein Ende hatte.
Ich weiß nicht, ob Maria etwas genommen hat, als sie mit diesem Typ zusammen war, und ob auch sie dazu neigte, sich unterzuordnen, aber auf mich wirkte sie clean. Sie arbeitete in einem kleinen Lebensmittelladen, und ich überprüfte hin und wieder, ob alles in Ordnung war und ihr Junkie nicht doch aufgetaucht war, um sie wieder in den Dreck zu ziehen. Natürlich achtete ich darauf, dass sie mich nicht sah. Ich stand draußen im Dunkeln und sah in den hell erleuchteten Laden. Sie saß an der Kasse, tippte die Waren ein und zeigte auf eine ihrer Kolleginnen, wenn jemand sie ansprach. Vermutlich haben wir alle irgendwann das Bedürfnis, wie unsere Eltern zu sein. Ich weiß nicht, ob es an meinem Vater etwas gab, dem ich nacheifern wollte, aber vermutlich ging es bei mir ohnehin nur um meine Mutter. Sie verstand es besser, sich um andere als um sich selbst zu kümmern, und für mich war das damals wohl so eine Art Ideal. Was weiß ich. Ich hatte ohnehin nichts, wofür ich das Geld ausgeben konnte, das ich bei Hoffmann verdiente. Warum dann nicht einer jungen Frau aus der Patsche helfen, die eine Pechsträhne hinter sich hatte?
Also, zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich es nicht schaffe, langsam zu fahren, dass ich weich wie Butter bin, mich viel zu schnell verliebe und den Kopf verliere, wenn ich in Wut gerate. Und dass ich schlecht in Mathe bin. Ich habe eine Menge gelesen, weiß aber wenig und sicher nichts Nützliches. Und ich schreibe langsamer, als ein Stalaktit wächst.
Wieso also kann ein Mann wie Daniel Hoffmann jemanden wie mich brauchen?
Die Antwort lautet – das sollte mittlerweile deutlich geworden sein – als Expedient.
Ich brauche nicht zu fahren, ich töte in der Regel Männer, die es irgendwie verdient haben, und viel rechnen muss ich dabei auch nicht. Bislang jedenfalls nicht.
Dabei stellt sich allerdings die Frage: Wann weiß man so viel über seinen Chef, dass der sich Sorgen zu machen beginnt und immer häufiger überlegt, ob er seinen Expedienten nicht besser expedieren sollte. Es war wie mit der Schwarzen Witwe. Ich weiß nicht viel über Arachnologie, geschweige denn, was das Wort bedeutet, aber lassen die Witwen sich nicht von den viel kleineren Männchen begatten, um diese dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, aufzufressen?
In Brehms Tierleben, Band 2: Vielfüßler, Insekten und Spinnenkerfe, das in der Deichmanske Bibliothek steht, findet sich auf jeden Fall das Bild einer Schwarzen Witwe, in deren Geschlechtsöffnung noch der Pedipalpus, so etwas wie das Fortpflanzungsorgan der männlichen Spinne, und Reste des von ihr verschlungenen Hinterleibs stecken. Sogar der charakteristische blutrote, sanduhrförmige Fleck ist noch zu erkennen. Die Uhr tickt, du dummer, kleiner, pathetischer Kerl, erkundige dich bloß danach, wann die Besuchszeit zu Ende geht. Denn dann solltest du schleunigst das Weite suchen und selbst mit ein oder zwei Kugeln im Bauch – oder wo auch immer – zu dem gehen, der dir dann noch helfen kann.
Ja, das war wirklich meine Meinung. Tu, was du tun musst, aber geh nie zu nah ran.
Und genau deshalb gefiel mir der neue Auftrag von Hoffmann ganz und gar nicht.
Ich sollte seine Frau expedieren.
»Ich will, dass es wie ein Einbruch aussieht, Olav.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil es nach etwas anderem aussehen muss, als es in Wahrheit ist. Die Polizei hängt sich bei Privatpersonen viel stärker rein, manchmal reagiert sie geradezu hysterisch. Und wenn eine Frau, die einen Geliebten hat, tot aufgefunden wird, deutet doch immer alles auf den Ehemann hin. In neunzig Prozent der Fälle zu Recht.«
»Vierundsiebzig, Sir.«
»Sorry?«
»Hab ich irgendwo gelesen, Sir.«
Eigentlich nennt man in Norwegen niemanden »Sir«, wie hoch er auch über einem stehen mag. Mit Ausnahme der Königsfamilie natürlich, die mit »Eure Königliche Hoheit« angesprochen wird. Daniel Hoffmann hätte das bestimmt auch gefallen. Den Titel »Sir« hatte er zusammen mit einer ledernen Sitzgarnitur, einem dunklen Mahagoniregal und einer Reihe ledergebundener Bücher mit alten, vergilbten Seiten, die nie jemand gelesen hatte, aus England importiert. Bestimmt Klassiker, aber mir sagten nur die bekanntesten Namen etwas: Dickens, Brontë und Austen. Auf jeden Fall machten die toten Dichter die Luft in seinem Büro so trocken, dass ich noch lange nach meinen Besuchen dort staubige Zellulose hustete. Ich weiß nicht, warum Hoffmann so fasziniert von England war. Er war während des Studiums eine Zeitlang dort gewesen und mit einem Koffer voller Tweedanzüge, Ambitionen und einem aufgesetzten Oxford-Akzent nach Norwegen zurückgekehrt. Aber ohne Examen oder andere Einsichten, als dass sich alles nur um das leidige Geld drehte. Und dass man, wollte man erfolgreich Geschäfte machen, da ansetzen musste, wo die Konkurrenz am schwächsten war. In Oslo war das damals der Frauenhandel. Ich glaube, die Analyse der Situation war letztendlich ganz einfach. Daniel Hoffmann sagte sich, dass er auf einem Markt, auf dem sich Scharlatane, Idioten und Amateure tummelten, selbst in all seiner Mittelmäßigkeit zur Nummer eins werden konnte. Es kam nur darauf an, moralisch die nötige Flexibilität zu beweisen, wenn man Tag für Tag junge Frauen rekrutieren und auf den Strich schicken wollte. Nach einer anfänglich noch vorsichtigen Testphase war sich Daniel Hoffmann sicher, dass er durchaus das Zeug dazu hatte. Ein paar Jahre später expandierte er in den Heroinmarkt. Zu diesem Zeitpunkt sah er sich selbst schon als erfolgreich an. Und da der Osloer Heroinmarkt damals in der Hand von Leuten war, die nicht nur Scharlatane, Idioten und Amateure, sondern noch dazu drogenabhängig waren, und Hoffmann erneut die notwendige moralische Flexibilität an den Tag legte, die es braucht, wenn man junge Menschen in die Drogenhölle schicken will, wurde auch dies zu einer Erfolgsgeschichte. Das einzige Problem für Hoffmann war der Fischer. Ein Konkurrent neueren Datums, der auf den Heroinmarkt drängte und der, wie sich zeigte, leider kein Idiot war. Es hätte in Oslo sicher genug Junkies für beide gegeben, aber das hinderte sie nicht daran, alles nur Erdenkliche zu tun, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Warum? Tja. Ich nehme an, dass keiner von beiden mein Talent hatte, sich unterzuordnen. Und dann gibt es immer Probleme, wenn Menschen, die regieren müssen, die den Thron haben müssen, entdecken, dass ihre Frauen untreu sind. Ich glaube, Leute wie Daniel Hoffmann könnten ein besseres und einfacheres Leben haben, wenn sie in der Lage wären, einfach mal ein Auge zuzudrücken und ihren Frauen die eine oder andere Affäre zu verzeihen.
»Ich hatte eigentlich vor, Weihnachtsferien zu machen«, sagte ich. »Wollte wen einladen und eine Zeitlang verschwinden.«
»Eine Reisebegleitung? Ich hätte nicht gedacht, dass du mit jemandem so intim bist, Olav. Genau das gefällt mir so an dir. Du hast niemanden, dem du deine Geheimnisse anvertrauen kannst.« Er lachte und klopfte die Asche von der Zigarre. Ich war nicht sauer, er meinte es nur gut. Auf der Banderole stand Cohiba. Irgendwo habe ich gelesen, dass um die Jahrhundertwende herum Zigarren die häufigsten Weihnachtsgeschenke waren, zumindest in der westlichen Welt. Vielleicht wäre das eine Idee? Aber ich wusste ja nicht einmal, ob sie rauchte. Bei der Arbeit hatte sie nie geraucht.
»Ich habe noch nicht gefragt«, sagte ich. »Aber …«
»Ich zahle dir das fünffache Honorar«, sagte Hoffmann. »Wenn du willst, kannst du deine Angebetete dann unbegrenzt mit in die Ferien nehmen. Natürlich nur, wenn du willst.«
Ich versuchte nachzurechnen, hatte dabei aber – wie gesagt – meine Schwierigkeiten.
»Hier ist die Adresse«, sagte Hoffmann.
Ich arbeitete seit vier Jahren für ihn, ohne zu wissen, wo er wohnte. Warum sollte ich das wissen? Er wusste ja auch nicht, wo ich wohnte. Seine neue Frau hatte ich ebenfalls noch nicht zu Gesicht bekommen, wohl aber Pines ständiges Gelaber gehört, was das für eine heiße Biene sei und dass er ein Vermögen machen könnte, wenn er genau solche Vögelchen auf der Straße hätte.
»Sie ist die meiste Zeit allein zu Hause«, sagte Hoffmann. »Wenn es stimmt, was sie sagt. Mach deine Arbeit so, wie du es für richtig hältst, Olav. Ich vertraue dir. Je weniger ich weiß, desto besser. Verstanden?«
Ich nickte. Je weniger, dachte ich, desto besser.
»Olav?«
»Ja, Sir, verstanden.«
»Gut«, sagte er.
»Geben Sie mir bis morgen Zeit, um darüber nachzudenken, Sir?«
Hoffmann zog eine seiner sorgfältig gebürsteten Augenbrauen hoch. Ich weiß nicht viel über Evolution oder solche Sachen, aber war Darwin nicht der Meinung, dass es nur sechs universelle Gesichtsausdrücke gibt, mit denen die Menschen ihre Gefühle ausdrücken? Ich habe keine Ahnung, ob Hoffmann sechs menschliche Gefühle hatte, dachte aber, dass er mit dieser hochgezogenen Braue – im Gegensatz zu einem offen stehenden Mund – leichte Überraschung, Skepsis und Intelligenz zum Ausdruck bringen wollte.
»Ich habe dir gerade die Details genannt, Olav. Und jetzt – hinterher – überlegst du, den Auftrag abzulehnen?«
Die Drohung war kaum hörbar. Oder vielleicht doch, sonst hätte ich sie vermutlich nicht mitbekommen, taub wie ich für menschliche Zwischentöne bin. Wir sollten also wohl davon ausgehen, dass die Drohung ziemlich deutlich war. Daniel Hoffmann hatte blaue, klare Augen, eingerahmt von schwarzen Wimpern. Wäre er eine Frau gewesen, hätte ich diese Wimpern für unecht gehalten. Ich weiß nicht, warum ich das erwähne, es hat nichts mit der Sache zu tun.
»Sie haben mir die Details genannt, ohne dass ich überhaupt etwas sagen konnte, Sir«, sagte ich. »Sie kriegen meine Antwort heute Abend, ist das in Ordnung?«
Er sah mich an. Blies den Zigarrenrauch in meine Richtung. Ich hatte die Hände in den Schoß gelegt und drehte den Hut, den ich nicht hatte.
»Vor sechs«, sagte er. »Sonst bin ich weg.«
Ich nickte.
Als ich im Schneetreiben durch die Stadt nach Hause ging, war es vier Uhr. Die Dunkelheit hatte sich nach den wenigen dämmrigen Stunden bereits wieder über die Straßen gesenkt. Es windete noch immer, gesichtsloses Pfeifen aus den dunklen Gassen. Aber ich glaube, wie gesagt, nicht an Geister. Der Schnee unter meinen Stiefeln knackte morsch wie alte Buchseiten, ich dachte nach. In der Regel versuche ich das zu vermeiden, weil ich festgestellt habe, dass ich darin nicht besonders gut bin und es auch zu nichts führt. Aber ich war damit wieder bei der Grundsatzfrage angelangt. Das Expedieren als solches sollte kein Problem sein. War vermutlich einfacher als die anderen Aufträge, die ich ausgeführt hatte. Auch dass sie sterben sollte, war in Ordnung. Ich bin, wie gesagt, der Meinung, dass man – Mann oder Frau – die Konsequenzen seiner Fehler tragen muss. Bedeutend größere Sorgen machte mir, was hinterher geschehen würde. Schließlich war ich dann derjenige, der Daniel Hoffmanns Frau getötet hatte. Jemand, der alles wusste und die Macht hatte, über Daniel Hoffmanns Schicksal zu entscheiden, wenn die Polizei ihre Ermittlungen erst einmal aufgenommen hatte. Und Hoffmann war nicht fähig, sich unterzuordnen, und schuldete mir, Olav, das fünffache Honorar.
Warum bot er mir für einen derart durchschnittlichen Job so viel?
Irgendwie hatte ich das Gefühl, gerade mit vier schwerbewaffneten und von Natur aus misstrauischen schlechten Verlierern an einem Pokertisch zu sitzen und vier Asse auf die Hand bekommen zu haben, einfach so. Manchmal sind gute Nachrichten in Wahrheit schlechte.
Okay, ein kluger Pokerspieler hätte die Karten sicher auf den Tisch geworfen, die unausweichliche Niederlage in Kauf genommen und auf besseres – angemesseneres – Glück in der nächsten Runde gehofft. Mein Problem war, dass es bereits zu spät war, um aus diesem Spiel auszusteigen. Ich wusste, dass Hoffmann für den Mord an seiner Frau verantwortlich war, ob sie nun durch mich oder durch einen anderen ums Leben kam.
Als ich bemerkte, wohin meine Schritte mich geführt hatten, blickte ich hoch und starrte ins Licht.
Sie hatte die Haare hochgesteckt, genau wie meine Mutter es immer getan hatte. Nickte den Kunden lächelnd zu, die sie ansprachen. Die meisten wussten sicher, dass sie taubstumm war. Sagten »Frohe Weihnachten« oder »Auf Wiedersehen«. Ganz normale Dinge, die ganz normale Menschen zueinander sagen.
Das fünffache Honorar. Nie endende Weihnachtsferien.
Am nächsten Tag bezog ich ein Zimmer in der Pension schräg gegenüber von Hoffmanns Wohnung in der Bygdøy allé. Ich wollte mir ein paar Tage lang einen Überblick verschaffen, was seine Frau so unternahm. Ging sie irgendwohin, wenn ihr Mann bei der Arbeit war, oder bekam sie Besuch? Ich wollte gar nicht wissen, wer ihr Lover war, es ging mir lediglich darum, den günstigsten, am wenigsten risikoreichen Zeitpunkt für die Aktion zu ermitteln. Sie musste allein zu Hause sein, und wir durften nicht gestört werden.
Wie sich zeigte, hatte ich von meinem Zimmer die perfekte Aussicht. Ich sah nicht nur, wann Corina Hoffmann kam und ging, sondern konnte auch beobachten, was sie in der Wohnung so trieb. Gardinen schienen sie dort drüben nämlich nicht nötig zu finden. Warum auch, wenn man in einer Stadt wohnte, in der es keine Sonne zum Aussperren gab und in der es den Leuten auf der Straße nicht darum ging, das Leben der anderen zu beobachten, sondern schnellstmöglich ins Warme zu kommen.
In den ersten Stunden war drüben niemand zu sehen. Nur das hell erleuchtete Wohnzimmer. Die Möbel sahen weniger englisch als französisch aus, besonders das merkwürdige Sofa mitten im Raum, das nur eine schmale Rückenlehne hatte. Vermutlich war das eins dieser Dinger, das die Franzosen als Chaiselongue bezeichnen, was – wenn mein Französischlehrer mir keinen Unsinn erzählt hatte – so etwas wie langer Stuhl heißt. Gewundene, asymmetrische Schnitzereien und ein Polsterbezug mit Naturmotiven. Rokoko stand in dem Kunstgeschichtsbuch meiner Mutter, aber ebenso gut konnte dieses Ding natürlich auch aus der Werkstatt eines Schreiners aus unserer Gegend stammen und irgendwo auf traditionelle Weise bemalt worden sein. Auf jeden Fall kein Möbelstück, das ein junger Mensch ausgesucht hätte, deshalb tippte ich auf Hoffmanns Exfrau. Pine sagte, Hoffmann habe sie gleich nach ihrem fünfzigsten Geburtstag rausgeschmissen. Weil sie 50 geworden war. Und weil ihr Sohn ausgezogen war und sie im Haus nun keine Funktion mehr hatte. Laut Pine hatte er ihr das alles direkt ins Gesicht gesagt, und sie soll das für eine Wohnung am Meer und einen Scheck über 1,5 Millionen auch geschluckt haben.
Um die Zeit sinnvoll zu füllen, nahm ich die Blätter mit dem Kram, an dem ich schreibe, raus. Nichts Besonderes, nur Kritzeleien. Nein, das stimmt nicht, es war ein Brief. Ein Brief an jemanden, von dem ich nicht wusste, wer er war. Oder vielleicht doch? Ich bin beileibe kein begnadeter Schreiber, mache ständig Fehler und muss vieles durchstreichen. Für jedes stehen gebliebene Wort ist viel Tinte und Papier draufgegangen, um es mal so zu sagen. Das Ganze zog sich auch an diesem Tag derart hin, dass ich die Blätter schließlich beiseitelegte, mir eine Zigarette anzündete und mich stattdessen etwas in Träumen verlor.
Ich war noch nie jemandem aus Hoffmanns Familie begegnet – wie bereits erwähnt –, begann jetzt aber, sie mir drüben in der Wohnung vorzustellen. Ich schaue gerne bei anderen rein. Das hat mir schon immer gefallen. Ich begann also, mir das Leben der Familie auszumalen. Der neunjährige Sohn war gerade von der Schule nach Hause gekommen, saß im Wohnzimmer und las all die merkwürdigen Bücher, die er sich in der Bücherei ausgeliehen hatte. Die Mutter sang leise vor sich hin, während sie in der Küche das Essen zubereitete. Mutter und Sohn erstarrten für einen kurzen Moment, als die Wohnungstür aufging, atmeten aber erleichtert auf, als der Mann klar und fröhlich »Ich bin zu Hause« rief. Sie liefen in den Flur und umarmten ihn.
Mitten in einem dieser angenehmen Gedankenspielchen trat Corina Hoffmann aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer, und alles veränderte sich.
Das Licht.
Die Temperatur.
Die Grundsatzfrage.
An diesem Nachmittag ging ich nicht zum Lebensmittelladen wie sonst so oft.
Ich wartete nicht darauf, dass Maria das Geschäft abschloss, folgte ihr nicht in sicherem Abstand bis zur U-Bahn und stellte mich auch nicht im vollbesetzten Wagen dicht hinter sie in die Mitte des Gangs, wo sie immer stand, selbst wenn es freie Sitzplätze gab. An diesem Nachmittag flüsterte ich ihr keine Worte ins Ohr, die nur ich hören konnte, sondern saß im Dunkeln in einem Zimmer und starrte wie gebannt auf die Frau auf der anderen Seite der Straße. Corina Hoffmann. Ich konnte sagen, was ich wollte und so laut ich es wollte, es konnte mich niemand hören. Und ich brauchte sie auch nicht von hinten anzusehen, den Knoten ihrer Haare anzustarren und mir eine Schönheit vorzustellen, die es gar nicht gab.
Seiltänzerin, war mein erster Gedanke, als ich Corina Hoffmann ins Zimmer kommen sah. Sie trug einen weißen Frotteebademantel und bewegte sich wie eine Katze. Damit meine ich nicht, dass sie im Passgang lief wie einige Säugetiere, zum Beispiel Katzen und Kamele, wenn sie die Beine der einen Seite bewegen, bevor sie die beiden anderen nachziehen … Das habe ich jedenfalls gehört. Damit will ich sagen, dass Katzen – wenn ich das richtig verstanden habe – sozusagen auf Zehenspitzen laufen und die Hinterpfoten in die Spur der Vorderpfoten setzen. Genau so machte es Corina. Sie setzte die nackten Zehen mit gestrecktem Fuß auf und schob den anderen Fuß dicht hinter den ersten. Wie eine Seiltänzerin.
Alles an Corina Hoffmann war schön. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die Brigitte-Bardot-Lippen, die blonden, ungekämmten, glatten Haare. Die langen, schlanken Arme, die aus den weiten Ärmeln des Morgenrocks ragten und im Dekolleté der obere Rand ihrer Brüste, so weich, dass sie sich bei jedem Schritt und jedem Atemzug bewegten. Und die weiße, weiße Haut auf Armen, Gesicht, Brüsten, Beinen. Mein Gott, sie war wie eine frische Schneefläche in der flirrenden Sonne, ließ jeden Mann in kürzester Zeit blind werden. Kurzum, alles an Corina Hoffmann gefiel mir. Alles, bis auf den Nachnamen.
Sie schien sich zu langweilen. Trank Kaffee. Telefonierte. Blätterte in einem Magazin, ignorierte die Zeitungen. Sie verschwand im Bad, kam aber gleich wieder raus, noch immer im Morgenmantel. Sie legte eine Platte auf und machte ein paar Tanzschritte. Es schien Swing zu sein. Dann aß sie etwas. Sah auf die Uhr. Es war bald sechs. Sie zog sich ein Kleid an, kämmte sich die Haare und legte eine andere Platte auf. Ich öffnete das Fenster und versuchte, etwas zu hören, aber der Verkehr war zu dicht. Dann nahm ich wieder das Fernglas und starrte auf das Plattencover, das sie auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Es schien das Bild eines Komponisten zu zeigen. Antonio Lucio Vivaldi? Keine Ahnung. Der Punkt war, dass die Frau, zu der Daniel Hoffmann um Viertel nach sechs nach Hause kam, eine ganz andere war als die, mit der ich den Tag bis dahin verbracht hatte.
Sie umkreisten einander. Berührten sich nicht. Redeten nicht. Wie zwei Elektronen, die sich abstießen, weil sie beide die gleiche, negative Ladung hatten. Schließlich schlossen sie aber die Tür des gleichen Schlafzimmers hinter sich.
Ich legte mich hin, konnte aber keine Ruhe finden.
Was lässt uns erkennen, dass wir sterben werden? Was passiert an dem Tag, an dem wir verstehen, dass es nicht nur eine ferne Möglichkeit ist, sondern eine verdammte Tatsache, dass unser Leben zu Ende gehen wird? Bestimmt erlebt das jeder anders, aber für mich war es der Moment, in dem ich meinen Vater sterben sah. Zu beobachten, wie banal und physisch das ist. Wie bei einer Fliege auf dem Fensterbrett. Interessanter ist deshalb, was uns – trotz der Erkenntnis, die wir gewonnen haben – später wieder daran zweifeln lässt? Sind wir klüger geworden? Wie dieser Philosoph – irgendein David Soundso –, der geschrieben hat, dass auch wenn etwas wieder und wieder geschieht, es niemals sicher ist, dass es wirklich noch einmal geschieht. Ohne logischen Beweis wissen wir nicht sicher, dass die Geschichte sich wiederholt. Oder sind wir bloß älter und ängstlicher geworden, weil der Moment näher rückt? Natürlich kann es auch einen ganz anderen Grund geben. Einen Augenblick, in dem wir plötzlich etwas sehen, von dem wir nicht wussten, dass es existiert? Etwas spüren, von dem wir nicht wussten, dass wir es überhaupt spüren konnten? Wie wenn man an die Wand klopft, es hohl klingt, und man plötzlich erkennt, dass dahinter noch ein anderer Raum liegt? Plötzlich lodert Hoffnung auf, schmerzhafte, nervenzerreißende Hoffnung, die an einem nagt und die man nicht ignorieren kann. Hoffnung, dass es einen Fluchtweg gibt, auf dem man den Tod austricksen kann, einen geheimen Weg zu einem Ort, den man vorher nicht kannte. Einen Sinn. Eine Geschichte.
Am nächsten Morgen stand ich zeitgleich mit Daniel Hoffmann auf. Als er die Wohnung verließ, war es noch stockfinster. Er wusste nicht, dass ich da war. Er wollte es ja nicht wissen, jedenfalls hatte er das gesagt.
Ich setzte mich auf den Stuhl am Fenster und wartete auf Corina. Nahm meine Blätter heraus und buchstabierte mich durch mein Briefprojekt. Die Worte waren unbegreiflicher denn je, und das wenige, das ich verstand, kam mir plötzlich irrelevant und tot vor. Warum schmiss ich den Scheiß nicht einfach weg? Bloß weil ich so lange für diese jämmerlichen Sätze gebraucht hatte? Ich legte die Blätter beiseite und beobachtete das öde Leben auf den winterlichen Straßen Oslos, bis Corina kam.
Der Tag verlief in etwa so wie der vorangegangene. Sie machte einen kleinen Spaziergang, und ich folgte ihr. Bei Maria habe ich gelernt, wie man jemandem am effektivsten folgt, ohne bemerkt zu werden. Corina kaufte in einem Laden einen Schal, trank in einer Konditorei mit einer Freundin – so deutete ich das jedenfalls – einen Tee. Dann ging sie wieder nach Hause.
Es war noch nicht spät, erst zwei Uhr nachmittags, und ich kochte mir eine Tasse Kaffee. Sah sie auf der Chaiselongue mitten im Wohnzimmer liegen. Sie hatte sich umgezogen. Ein anderes Kleid. Der Stoff umspielte ihren Körper, wenn sie sich bewegte. Eine Chaiselongue ist ein seltsames Möbelstück, irgendwie nichts Halbes und nichts Ganzes. Wenn Corina sich umdrehte, um eine bequemere Liegeposition einzunehmen, geschah auch dies überlegt, langsam und selbstbewusst. Als wüsste sie, dass ich sie betrachtete. Dass sie begehrt wurde. Sie sah auf die Uhr, blätterte in ihrem Magazin, es war dasselbe wie am Tag zuvor. Dann erstarrte sie beinahe unmerklich.
Ich hatte die Klingel nicht gehört.
Sie stand auf, ging mit ihren weichen, katzengleichen Bewegungen zur Tür und öffnete.
Er war dunkel, schmächtig und in ihrem Alter.
Er trat ein, schloss die Tür hinter sich, hängte seine Jacke auf und kickte sich die Schuhe von den Füßen. Es war klar, dass er nicht zum ersten Mal in dieser Wohnung war. Und auch nicht zum zweiten Mal. Daran gab es keinen Zweifel. Aber die hatte es ja ohnehin nicht gegeben. Warum hatte ich trotzdem welche gehabt? Weil ich es wollte?
Er schlug sie.
Im ersten Moment war ich so baff, dass ich glaubte, nicht richtig gesehen zu haben. Doch dann tat er es noch einmal. Er schlug ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, und die blonden Haare schoben sich zwischen seine Finger. Ich sah an ihrem Mund, dass sie schrie.
Mit einer Hand umfasste er ihre Kehle, während er ihr mit der anderen das Kleid vom Leib riss.
Und da stand sie, mitten im Zimmer unter der Lampe. Ihre nackte Haut war so weiß, dass ihr Körper eine konturlose Fläche bildete. Man sah nur Weiß, undurchdringliches Weiß, wie Schnee an einem wolkenverhangenen oder nebligen Tag.
Er nahm sie auf der Chaiselongue. Kniete, die Hose bis an die Knöchel heruntergelassen, am lehnenlosen Ende, während sie auf dem hellen Bezug mit einer harmonischen, idealisierten europäischen Waldlandschaft lag. Er war mager. Ich beobachtete das Spiel der Muskeln auf seinen Rippen. Seine Gesäßmuskulatur spannte und entspannte sich wie ein Blasebalg. Er zitterte und bebte wie wütend darüber, nichts … nicht mehr tun zu können. Sie lag mit gespreizten Beinen da, passiv, wie eine Tote. Ich wollte wegsehen, aber es gelang mir nicht. Sie so zu sehen, erinnerte mich an etwas. Nur wusste ich nicht, an was.
Erst nachts, als es still war, fiel es mir wieder ein. Ich träumte von einem Bild, das ich als Junge in einem Buch gesehen hatte. Das Reich der Tiere, Band 1: Säugetiere, aus der Deichmanske Bibliothek. Aufgenommen in der Serengeti in Tansania oder irgendwo dort in der Nähe. Drei wütende, erregte, abgemagerte Hyänen, die selber Beute gemacht oder die Löwen von deren Beute vertrieben hatten. Zwei von ihnen standen mit angespannten Hinterteilen da, die Köpfe tief im Bauch eines Zebras versenkt. Die dritte hatte sich der Kamera zugewandt und fletschte die spitzen Zähne. Aber es war der Blick des Tieres, an den ich mich am besten erinnerte. Der Blick der gelben Augen in die Kamera, der mir von der Buchseite entgegenblitzte. Es war eine Warnung. Du hast hier nichts verloren, das ist unsere Beute. Verschwinde! Sonst töten wir auch dich.
Wenn ich in der U-Bahn hinter dir stehe, beginne ich immer erst dann zu sprechen, wenn unser Waggon auf den Weichen ist. Genau dort, wo das Gleis sich teilt und tief unter uns klickend und klackend Metall auf Metall schlägt. Ein Geräusch, das für mich immer eng mit Ordnung verbunden ist, mit Schicksal, damit, dass etwas an den richtigen Platz fällt. Der Zug ruckt leicht zur Seite, und alle, die keinen Sitzplatz haben, geraten für einen Moment aus dem Gleichgewicht und greifen nach etwas, woran sie sich festhalten können. Der Gleiswechsel verursacht so viel Lärm, dass ich sagen kann, was ich sagen will. Dass ich flüstern kann, was ich flüstern will. Genau dort, wo niemand sonst mich hören kann. Du schon gar nicht. Nur ich selbst höre mich.
Und was sage ich dir dann?
Ich weiß es nicht. Was mir spontan durch den Kopf schießt. Dinge, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen oder was sie bedeuten. Doch schon, in dem Moment weiß ich es vermutlich. Denn du bist schön, ja auch du. Wenn ich im Gedränge dicht hinter dir stehe, nur den Knoten deines Haars sehe und mir den Rest vorstellen muss.
Ich kann mir dich nicht anders als dunkel vorstellen, und das ist auch gut so. Du bist nicht so hell wie Corina. Hast keine so prall mit Blut gefüllten Lippen, dass man hineinbeißen möchte. Keine Musik im Schwung deines Rückens oder in den Kurven der Brüste. Du bist einfach immer da gewesen, wo niemand sonst da war. Hast eine Leere gefüllt, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existierte.
Du hast mich zu dir zum Essen eingeladen, damals, als ich dich aus dem Schlamassel geholt hatte. Als Dankeschön, denke ich. Hast die Einladung auf einen Zettel geschrieben und ihn mir gegeben, und ich habe zugesagt. Wollte es dir aufschreiben, aber dein Lächeln zeigte mir, dass du verstanden hattest.
Aber ich bin nie gekommen.
Warum nicht?
Tja.
Ich bin ich, und du bist du?
Oder was würdest du dazu sagen?
Vielleicht war es aber auch noch einfacher? Weil du lahm und taubstumm bist. Und weil ich selbst schon ausreichend geschlagen bin, mit all dem, was ich nicht kann. Von dieser einen Sache abgesehen. Außerdem, worüber hätten wir reden sollen? Du hättest sicher vorgeschlagen, dass wir uns Nachrichten schreiben, aber ich bin ja nicht so gut im Schreiben, bin wortblind. Legastheniker. Falls ich das noch nicht gesagt habe, weißt du es jetzt.
Und Maria, vielleicht verstehst du ja, dass es einen Mann nicht gerade anmacht, wenn du laut und schrill lachst, wie eben Taubstumme lachen, weil ich gerade die Worte »Du hast so schöne Augen« zu Papier gebracht habe. Mit vier Schreibfehlern.
Aber egal. Ich bin nicht gekommen. Das langt.
Daniel Hoffmann wollte wissen, warum es so lange dauere, den Job auszuführen.
Ich habe ihn daraufhin gefragt, ob er nicht auch sicher sein wolle, dass keine Spur zu einem von uns führe, bevor ich loslegte. Und natürlich wollte er das.
Also beobachtete ich weiter die Wohnung.
In den folgenden Tagen kam der Mann jeden Tag zur gleichen Zeit. Immer kurz nach drei, wenn es fast schon wieder dunkel war. Er betrat die Wohnung, hängte seinen Mantel auf und schlug sie. Immer auf die gleiche Weise. Erst hielt sie die Arme abwehrend in die Höhe. Ich sah ihrem Mund und ihren Halsmuskeln an, dass sie ihn anschrie, ihn anflehte, aufzuhören. Aber er hörte nicht auf. Nicht bevor ihr Tränen über die Wangen liefen. Dann – und erst dann – riss er ihr das Kleid vom Leib. Jedes Mal ein neues Kleid. Er nahm sie auf der Chaiselongue. Hatte sie ganz offensichtlich vollkommen in der Hand. Ich würde sagen, dass sie hoffnungslos in ihn verliebt war. Wie Marie in ihren Junkie verliebt gewesen war. Manche Frauen wissen nicht, was für sie das Beste ist, sie streuen einfach ihre Liebe aus, ohne irgendetwas zurückzuverlangen. Ja, dass nichts zurückkam, schien sie regelrecht zu fesseln und zu erregen. Vielleicht wartete sie die ganze Zeit darauf, irgendwann ihren Lohn zu bekommen. Eine Liebe, ebenso hoffnungsvoll wie hoffnungslos. Jemand sollte sie aufklären, dass die Welt so nicht funktionierte.
Ich glaube aber nicht, dass Corina verliebt war. Sie reagierte in einer anderen Sprache. Sie streichelte ihm zwar nach der Liebe über den Rücken und begleitete ihn zur Tür, wenn er eine Dreiviertelstunde nach seinem Kommen wieder ging, umarmte ihn flüchtig und flüsterte ihm eventuell etwas Nettes ins Ohr. Aber sie wirkte beinahe erleichtert, kaum dass er aus der Tür war. Und ich glaube, ich weiß, wie Verliebtheit aussieht. Warum also war sie – die junge Ehefrau des größten Lieferanten von Ekstase – bereit, alles für eine billige Affäre mit jemandem zu riskieren, der sie noch dazu schlug?
Erst am vierten Nachmittag verstand ich es, und ich fragte mich, wieso ich so lange gebraucht hatte, um darauf zu kommen. Ihr Lover hatte etwas gegen sie in der Hand. Etwas, womit er zu Daniel Hoffmann gehen konnte, wenn sie nicht tat, was er wollte.
Als ich am fünften Tag aufwachte, hatte ich einen Entschluss gefasst.
Ich wollte auf Nebenstraßen ins Ungewisse fahren.