HORROR FACTORY ist eine Reihe von Horror-Kurzromanen – von der klassischen Geistergeschichte über den modernen Psychothriller bis hin zur Dark Fantasy. Alle Romane sind deutsche Erstveröffentlichungen. Unter den Autoren sind sowohl bekannte Namen als auch Newcomer. Die Geschichten sind jeweils in sich abgeschlossen, auch wenn sie in einzelnen Fällen mehrere Folgen umfassen.
HORROR FACTORY wird herausgegeben von Uwe Voehl.
HORROR FACTORY erscheint monatlich.
Wolfgang Hohlbein: Pakt mit dem Tod
Christian Endres: Crazy Wolf – Die Bestie in dir
Christian Montillon: Der Blutflüsterer
Timothy Stahl: Teufelsbrut
Uwe Voehl: Necroversum: Der Riss
Manfred Weinland: Das Grab – Bedenke, dass du sterben musst!
Michael Marcus Thurner: Die Herrin der Schmerzen
Malte S. Sembten: Der Behüter
Robert C. Marley: Die Todesuhr
Christian Endres: Rachegeist
Oliver Buslau: Glutherz
Christian Weis: Tief unter der Stadt
Michael Marrak: Epitaph
Timothy Stahl: Unheilige Nacht
Uwe Voehl: Necroversum: Der Friedhof
Michael Marrak: Ammonit
Malte S. Sembten: Nähte im Fleisch
Jörg Kleudgen: German Gothic
Vincenct Voss: Ich bin böse!
Christian Montillon: Höllenblick
Oliver Buslau, vielbeschäftigter Krimi- und Phantastikautor (u.a. »Der Vampir von Melaten«), wurde 1962 geboren, wuchs in Koblenz auf, und arbeitete während und nach dem Studium der Musikwissenschaft und Germanistik in Köln und Wien als Musikjournalist und PR-Texter – unter anderem bei der Schallplattenfirma EMI. Außerdem ist er Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift »TextArt – Magazin für Kreatives Schreiben«.
www.oliverbuslau.de
www.textartmagazin.de
Die Akte Necropolis
DAS IST SARAH MARTINS MÖRDER!
Die Menge der Journalisten und Neugierigen vor dem Tor war größer geworden. Gerade rollte ein Lieferwagen heran, auf dem das Logo eines Privatsenders zu erkennen war. Auf dem Dach des Fahrzeugs erhob sich eine Satellitenschüssel.
Das hier ist nicht dein Haus, dachte Leon. Es gehörte Sarah. Du warst nicht mit ihr verheiratet, und du wirst nichts von ihr erben. Wenn Sarahs Eltern im Anmarsch sind – und davon ist auszugehen -, wird es keine drei Stunden dauern, und man setzt dich vor die Tür. Wo willst du dann hin?
Er sah sich selbst durch die Stadt gehen oder mit der Straßenbahn fahren, auf der Suche nach einer neuen Wohnung, verfolgt von den Journalisten, von Paparazzi fotografiert. Am nächsten Tag würden seine Fotos zu sehen sein, versehen mit riesigen Überschriften …
Während er in dem Wagen mit den schwarz verspiegelten Scheiben an den Schaulustigen vorbeifuhr, wurde ihm bewusst, dass der Wahnsinn in noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden sein Leben ruiniert hatte …
*
Irgendwann nach Mitternacht wurde es Leon zu viel.
Er schob das Buch von sich weg, blinzelte in das Licht der Schreibtischlampe und rieb sich die Augen, die in der Heizungsluft trocken geworden waren.
Du solltest gar nicht lesen. Du solltest schreiben.
Müdigkeit hatte ihn gepackt. Lustlos griff er zu dem Block mit den Notizen, der abseits des Schreibtischs lag.
Überhaupt – wer liest denn Bücher am Schreibtisch? Das hat etwas Gezwungenes. Als ob du Schwerstarbeit verrichten musst. Die Literatur ist doch deine Leidenschaft. Genieß es!
Sein Blick fiel auf die Uhr. Jetzt lief gerade Sarahs Sendung.
Ein schneidender Schmerz machte sich in ihm breit. Er vermisste Sarah. Sein Verstand sagte ihm sofort, dass er zufrieden sein konnte, denn sie verdiente das Geld für sie beide. Viel Geld. Und dass er es eben hinnehmen musste, wenn sie ab dem späten Vormittag bis in die Nacht im Sender zu tun hatte. Aber sein Gefühl wollte das nicht akzeptieren.
Er stand auf, verließ sein Bücherzimmer, das er sich im Keller eingerichtet hatte, und erklomm die Treppe.
Und sofort war er in einer anderen Welt.
Sein Reich – das war diese für Außenstehende völlig chaotische Sammlung von Büchern, Kopien und handschriftlichen Notizen. Mittendrin stand sein Laptop, auf dem er manchmal, getrieben von plötzlich aufflammender schöpferischer Lust, Texte schrieb, die er dann aber meist wieder löschte oder in der Versenkung der virtuellen Verzeichnisse verschwinden ließ. Es war ein Refugium, das eigentlich besser zu einem alten, verknöcherten Gelehrten als zu einem jungen Mann von Mitte zwanzig gepasst hätte.
Und was er jetzt betrat, war die Welt von Sarah – Luxus, moderne Möbel, Geld. Eine Welt des Glamours und raffinierter Designs, teurer Haushaltsgeräte und Elektronik. Schmuck, Kunst, teure Vasen und riesige, mit modernen farbigen Mustern bedeckte Teppiche.
Im ersten Moment schien Leon in dieser Umgebung immer zu frieren, als müsse sein Inneres sich erst darauf einstellen, dass es doch Sarahs Welt war, die er betrat – die Welt der Frau, die er liebte.
Er ließ sich auf das riesige weiße Sofa fallen, schaltete den Fernseher ein. Sarahs Gesicht erschien in Originalgröße. Sie blickte direkt in die Kamera und berichtete irgendetwas. Leon stellte den Ton so leise, dass er gerade noch ihre Stimme hörte. Der Inhalt von dem, was sie sagte – es ging um ein Treffen von Wirtschaftsbossen in Amerika -, interessierte ihn nicht.
Es tat gut, sie nur anzusehen. Und wie so oft empfand er es als ein wahres Wunder, dass sie ihn gefunden hatte. Sarah Martin – Exmodel, die schönste Frau des Landes und jetzt Fernsehjournalistin. Leon hatte sich sofort in sie verliebt, als sie damals in das Lokal gekommen war, wo er vor ganzen sieben Zuhörern eine Dichterlesung gegeben hatte. Wie er später erfuhr, war sie durch puren Zufall dorthin geraten, weil sie nach einem Kinobesuch noch mit Freundinnen irgendwo etwas trinken wollte. Zuerst hatten die fünf Frauen von hinten an der Bar das Geschehen gemeinsam beobachtet. Eine von Sarahs Freundinnen war eine notorische Spaßmacherin und hatte zwischendurch immer wieder dämlich gekichert. Dann war Sarah allein nach vorne gekommen. Ein glamouröser Glanz umgab sie, als sie sich in die erste Reihe setzte, wo ohnehin fast alles frei geblieben war. Und dann hing sie an Leons Lippen. Nach der Lesung hatte es nicht vieler Worte bedurft, um zu erkennen, welche Anziehungskraft sie aufeinander ausübten. Schon am übernächsten Tag trafen sie sich allein, und eine Woche später waren sie ein Paar.
Leon hatte das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Als habe ihn seine eigene Lyrik, die er da so – wie er meinte – mitreißend rezitierte, in ein anderes Universum katapultiert. Natürlich wusste er, mit wem er da zusammen war. Es war die Zeit, in der Sarah gerade den Job beim Fernsehen bekommen hatte – die Zeit, in der sich für sie viel änderte.
»Ich habe gleich alles geändert«, sagte sie später immer wieder lächelnd – »Karriere, Haus – und den Mann. Das soll mir mal einer nachmachen.«
Leon schreckte aus seinen Gedanken auf, als er ein Geräusch hörte. Es klang, als habe jemand etwas in den Briefkasten geworfen. Genau dieses Quietschen war immer zu hören, wenn die Klappe hin- und herschwang.
Seltsam, dass er das bis hier ins Wohnzimmer hörte. Die Auffahrt war sicher dreißig Meter lang, sie schwang sich in weitem Bogen zum Haus hin. Jeden Morgen die Post zu holen war für Leon ein kleiner Spaziergang.
Er schaltete den Fernseher aus. Sarahs Sendung war ohnehin zu Ende. Sie würde in einer guten Stunde zu Hause sein.
Ein Spaziergang, dachte Leon. An der frischen Luft. Warum nicht. Vielleicht inspirierte er ihn ja. Inspiration konnte er brauchen. Und eine Herbstnacht war sicher dafür geeignet.
So zog er sich Schuhe und Jacke an, nahm den Schlüsselbund, an dem sich auch der Briefkastenschlüssel befand, und ging die Auffahrt hinunter.
Da war tatsächlich ein Kuvert im Kasten.
In dem Moment, in dem Leon es herausholte, löste sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein dunkler Wagen vom Parkstreifen. Die Scheinwerfer gingen an, und das Auto rollte davon.
*
Zurück im Haus, öffnete Leon den Umschlag, auf dem sich in geschwungener Handschrift sein Name befand.
Herrn Leon Moor.
Leon packte ein Hitzegefühl. Er dachte an Dinge, die prominenten Menschen wie Sarah passieren konnten. Entführungen, Stalking – Bedrohungen aller Art. Briefe von irgendwelchen kranken Idioten waren sicher an der Tagesordnung, und es war direkt ein Wunder, dass hier noch keine angekommen waren.
Sehr geehrter Herr Moor,
bezugnehmend auf Ihr Inserat im Kurier würden wir Ihnen gerne ein Arbeitsangebot unterbreiten. Bitte finden Sie sich zu unten angegebenem Termin bei uns ein. Wir hoffen, Ihnen eine interessante Tätigkeit in Aussicht zu stellen, die Ihren Fähigkeiten gerecht wird …
»Du hast was gemacht?«
Leon saß mit Sarah am Frühstückstisch – beide noch in Bademänteln. Sie liebten es, ausgiebig und opulent zu frühstücken – mit Orangensaft, Brötchen, Eiern, Kaffee und allen möglichen Marmeladensorten, die Sarahs Mutter selbst einkochte und ihnen regelmäßig schickte. Das Frühstück war die Zeit am Tag, in der sie gemeinsam anderthalb Stunden Ruhe hatten.
Mitten in dem bunten Durcheinander lag der Brief.
Gestern Abend war es schon zu spät gewesen, um ihn Sarah zu zeigen. Sie war doch viel später nach Hause gekommen. Leon hatte eine Stunde gewartet, war dann aber schlafen gegangen. Irgendwann war er kurz wach geworden, als Sarah zu ihm ins Bett schlüpfte.
»Ich habe eine Annonce in der Zeitung aufgegeben«, gab Leon zu. »Eine Stellenanzeige.«
Sarah fuhr sich durch ihr rotes Haar. Das tat sie immer, wenn sie verwirrt oder nervös war. Die Geste hatte schon ganze Kompanien von Maskenbildern und Friseuren vor ihren Auftritten in den Wahnsinn getrieben. »Aber wieso? Du brauchst doch gar keinen Job. Das Geld verdiene ich. Ich dachte … Ich meine … Ich dachte, du freust dich, dass du dich ganz und gar deiner Literatur widmen kannst. Bist du unzufrieden?« Sie nahm einen Schluck Milchkaffee, dann streckte sie den rechten Arm aus und strich Leon leicht über die Wange. Die Berührung war erregend. Er hätte gestern Abend durchhalten sollen, bis sie nach Hause kam. In einer halben Stunde würde sie wieder verschwinden und bis in die Nacht weg sein …
»Nein, ich bin nicht unzufrieden. Jedenfalls nicht so, wie du meinst. Aber weißt du – mit meinem Schreiben läuft es schlecht. Ich habe das Gefühl, ich muss mal was anderes sehen.«
»Sollen wir mal verreisen? Ich kann in vier, fünf Monaten sicher Urlaub bekommen.«
»Das ist es auch nicht. Weißt du, mir fällt hier einfach manchmal die Decke auf den Kopf. Und so bin ich auf die Idee gekommen. Es ist auch ein bisschen ein Experiment gewesen. Ich wollte einfach mal was in Gang setzen und sehen, was passiert. Ehrlich gesagt, habe ich gar nicht geglaubt, dass sich auf die Anzeige jemand meldet.«
Sie lächelte. »Wie hast du dich denn angepriesen? Junger Dichter sucht Arbeit in einem Büro?«
Leon nahm ihr Lächeln auf. »So ähnlich. Literaturkenner sucht Archivarbeit. Oder Assistententätigkeit. Es war wahrscheinlich eine Schnapsidee.«
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