Das Buch
Kehren die Dämonen auf die Erde zurück? Jahrtausendelang lebten sie auf der Insel Hybras in einer Zwischenwelt, doch nun werden mehr und mehr dieser mondsüchtigen Wesen auf der Erde gesichtet. Eine Bedrohung für die Menschen und für die unterirdischen Feen und Trolle? Artemis Fowl ist zutiefst beunruhigt. Nur wenn es ihm gelingt, einen der Dämonen zu fangen, wird er Gewissheit über ihre Pläne bekommen. Doch gerade als er auf Sizilien zuschnappen will, kommt ihm Minerva Paradizo zuvor, ein zwölfjähriges, ungewöhnlich kluges Mädchen. Wie konnte das Meisterverbrecher Artemis Fowl passieren? Eine rasante Verfolgungsjagd beginnt, bei der Minerva und er schon bald auf derselben Seite kämpfen. Gemeinsam gelingt es ihnen, die zornigen Wesen zu bannen. Doch Artemis gerät dabei selbst in die Zwischenwelt. Wird er bald auf die Erde zurückkehren? Sein Leibwächter Butler ist fest davon überzeugt, und auch Minerva wartet auf ihn …
Der Autor
Eoin Colfer war Lehrer und hat mehrere Jahre u.a. in Saudi-Arabien, Tunesien und Italien unterrichtet, ehe er als Schriftsteller für junge Leser erfolgreich wurde. Seine Artemis-Fowl-Serie erschien in 43 Ländern, weltweit wurden 12 Millionen Bücher verkauft. Eoin Colfer wurde für sein Werk mit dem Children’s Book Award, dem wichtigsten Kinder- und Jugendbuchpreis Englands, und 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen in Frankreich und Irland.
Von Eoin Colfer sind in unserem Hause bereits erschienen:
Artemis Fowl
Artemis Fowl – Die Verschwörung
Artemis Fowl – Der Geheimcode
Artemis Fowl – Die Rache
Artemis Fowl – Die verlorene Kolonie
Artemis Fowl – Das Zeitparadox
Artemis Fowl – Die Akte
Meg Finn und die Liste der vier Wünsche
Fletcher Moon – Privatdetektiv
Für Badger. Den Mann. Die Legende.
Fröhlich gehörte nicht zu den Begriffen, mit denen Artemis Fowls Leibwächter für gewöhnlich bezeichnet wurde. Heiter und gelassen ebenso wenig. Schließlich war Butler nicht zu einem der gefährlichsten Männer der Welt geworden, weil er mit jedem, der ihm zufällig über den Weg lief, einen netten Plausch anfing, es sei denn, er wollte etwas über Fluchtwege und verborgene Waffen in Erfahrung bringen.
An diesem Nachmittag befanden sich Butler und Artemis in Spanien, und die Miene des mächtigen Eurasiers war noch verschlossener als sonst. Artemis machte es Butler mal wieder unnötig schwer, seinen Job zu tun. Über eine Stunde beharrte Butlers junger Schützling nun schon darauf, auf dem Gehweg von Barcelonas Passeig de Gràcia herumzustehen, dessen magere Bäume kaum Schutz vor der prallen Nachmittagssonne oder möglichen Feinden boten.
Dies war die vierte Reise, die sie innerhalb von ebenso vielen Monaten ohne jede Erklärung unternahmen. Erst Edinburgh, dann Death Valley im amerikanischen Westen, gefolgt von einer außerordentlich beschwerlichen Tour durch das in mehr als einer Hinsicht unzugängliche Usbekistan. Und jetzt Barcelona. Und das alles nur, um auf einen mysteriösen Besucher zu warten, der sich bisher nicht hatte blicken lassen.
Die beiden gaben auf dem belebten Gehweg ein seltsames Paar ab: ein riesiger, muskelbepackter Mann um die vierzig im Boss-Anzug und mit kahl rasiertem Schädel, daneben ein schmaler, blasser Teenager mit rabenschwarzem Haar und durchdringenden, blauschwarzen Augen.
»Warum müssen Sie ständig um mich herumlaufen?«, fragte Artemis gereizt. Eigentlich kannte er die Antwort, aber der Besucher, auf den er in Barcelona wartete, hatte sich nach seinen Berechnungen bereits um eine Minute verspätet, und so ließ er seinen Ärger an dem Leibwächter aus.
»Das wissen Sie doch ganz genau, Artemis«, erwiderte Butler. »Für den Fall, dass auf einem der Dächer ein Scharfschütze oder jemand mit einem Richtmikrofon hockt. Ich umkreise Sie, um Ihnen größtmögliche Deckung zu bieten.« Artemis verspürte wieder einmal den Drang, seine genialen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Und so befriedigend solche Demonstrationen auch für den vierzehnjährigen irischen Jungen sein mochten, wer immer sie über sich ergehen lassen musste, war weniger begeistert.
»Erstens ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand einen Scharfschützen auf mich angesetzt hat«, dozierte er. »Ich habe mich aus achtzig Prozent meiner illegalen Unternehmungen herausgezogen und das Kapital auf ein überaus lukratives Portfolio verteilt. Zweitens kann jeder Lauscher gleich wieder einpacken und nach Hause fahren, da der dritte Knopf Ihres Jacketts Soliniumwellen aussendet, die jede Art von Aufzeichnung verhindern, ob oberirdischer oder unterirdischer Herkunft.«
Unwillkürlich wanderte Butlers Blick zu einem vorüberschlendernden Paar, das vor Verliebtheit und Begeisterung über die Schönheiten Spaniens förmlich strahlte. Um den Hals des Mannes hing eine Videokamera. Schuldbewusst tastete Butler nach dem Spezialknopf. »Wahrscheinlich haben wir ein paar Flitterwochenvideos ruiniert.«
Artemis zuckte die Achseln. »Ein geringer Preis für den Schutz meiner Privatsphäre.«
»Gibt es noch ein Drittens?«, fragte Butler mit Unschuldsmiene.
»Allerdings«, erwiderte Artemis leicht gereizt. Immer noch zeigte sich keine Spur von dem erwarteten Besucher. »Was ich gerade sagen wollte, ist: Falls sich tatsächlich ein Scharfschütze auf einem der umliegenden Gebäude versteckt haben sollte, dann auf dem hinter uns. Sie sollten also meinen Rücken decken.«
Butler war der Beste in seiner Branche, und selbst er konnte nicht mit absoluter Sicherheit sagen, auf welchem der Dächer ein möglicher Scharfschütze Stellung beziehen würde. »Nur zu, erklären Sie mir bitte, wie Sie darauf kommen. Ich weiß doch, dass Sie es kaum erwarten können.«
»Nun, da Sie schon danach fragen: Kein Scharfschütze würde direkt hier gegenüber auf dem Dach der Casa Milá Position beziehen, weil das Gebäude für den Publikumsverkehr geöffnet ist und er beim Betreten oder Verlassen vermutlich gefilmt würde.«
»Er oder sie«, korrigierte Butler. »Die meisten Killer sind heutzutage Frauen.«
»Meinetwegen«, sagte Artemis. »Die beiden Gebäude zur Rechten sind zum Teil vom Laub der Bäume verdeckt, warum also unnötige Komplikationen in Kauf nehmen?«
»Sehr gut. Und weiter?«
»Die Reihe zu unserer Linken beherbergt Finanzunternehmen. Dort sind Aufkleber von privaten Sicherheitsdiensten an den Fenstern, und ein Profi wird jede Konfrontation vermeiden, für die er nicht bezahlt wird.«
Butler nickte. Das stimmte.
»Und so komme ich zu dem logischen Schluss, dass Ihr Scharfschütze sich für das vierstöckige Gebäude hinter uns entscheiden würde. Es ist ein Wohnhaus, also leicht zu betreten, vom Dach aus hat er – oder sie – eine direkte Schusslinie, und die Sicherheitsvorkehrungen dürften minimal beziehungsweise nicht vorhanden sein.«
Butler schnaubte. Wahrscheinlich lag Artemis mit seinen Überlegungen richtig. Aber beim Personenschutz war wahrscheinlich nicht annähernd so effektiv wie eine kugelsichere Weste. »Da haben Sie vermutlich recht«, gab Butler zu. »Aber nur, wenn der Scharfschütze genauso clever ist wie Sie.«
»Der Punkt geht an Sie«, räumte Artemis ein.
»Außerdem könnten Sie mir garantiert für jedes Gebäude ein überzeugendes Argument liefern. Sie haben dieses nur ausgewählt, damit ich Ihnen nicht vor der Nase stehe, was mich zu der Annahme führt, dass der geheimnisvolle Besucher vor der Casa Milá erscheinen wird.«
Artemis lächelte. »Gut kombiniert, alter Freund.«
Die Casa Milá war ein Wohnhaus vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, entworfen von dem spanischen Jugendstil-Architekten Antonio Gaudí. Die Fassade bestand aus gewölbten Wänden und Balkonen mit verschlungenen schmiedeeisernen Verzierungen. Auf dem Gehweg vor dem Haus drängte sich eine Schar von Touristen, die für die nachmittägliche Besichtigung des spektakulären Hauses anstanden.
»Werden wir unseren Besucher unter all diesen Leuten überhaupt erkennen? Sind Sie sicher, dass er nicht schon hier ist? Und uns beobachtet?«
Artemis lächelte, und seine Augen funkelten. »Glauben Sie mir, er ist nicht hier. Wenn er es wäre, gäbe es ein ziemliches Geschrei.«
Butlers Miene verdüsterte sich. Wenn er doch nur ein einziges Mal sämtliche Fakten erfahren würde, bevor sie ins Flugzeug stiegen. Aber das würde er bei Artemis wohl nicht mehr erleben. Für den genialen jungen Iren war die kunstvolle Präsentation der Lösung des Rätsels stets der wichtigste Teil seiner ausgefuchsten Pläne. »Verraten Sie mir doch wenigstens, ob unser Kontaktmann bewaffnet ist.«
»Das bezweifle ich«, sagte Artemis. »Und selbst wenn, er wird kaum eine Sekunde bei uns sein.«
»Eine Sekunde? Beamt er sich mal eben aus dem All herunter, oder was?«
»Nicht aus dem All, Butler«, sagte Artemis mit Blick auf seine Uhr. »Aus der Zeit.« Der Junge seufzte. »Aber der richtige Moment ist bereits vorbei. Es sieht so aus, als hätte ich uns vergebens hierhergeführt. Unser Besucher ist nicht erschienen. Nun, es bestand ohnehin nur eine geringe Chance. Offenbar war niemand am anderen Ende des Tunnels.«
Butler hatte keine Ahnung, von welchem Tunnel Artemis sprach, er war nur erleichtert, dass sie endlich diesen ungesicherten Ort verlassen konnten. Je eher sie zum Flughafen von Barcelona kamen, desto besser.
Der Leibwächter zog ein Handy aus seiner Tasche und drückte auf eine Kurzwahltaste. Die Person am anderen Ende nahm beim ersten Klingeln ab.
»Maria«, sagte Butler. »Abfahrt, pronto.«
»Sí«, kam die knappe Antwort. Maria arbeitete für einen exklusiven spanischen Chauffeurdienst. Sie war unglaublich hübsch und konnte mit ihrer Stirn einen Ytong-Stein zerschlagen.
»War das Maria?«, fragte Artemis betont beiläufig.
Doch Butler ließ sich nicht täuschen. Artemis Fowl stellte selten beiläufige Fragen. »Ja, das war Maria. Was auf der Hand liegt, da ich sie mit ihrem Namen angesprochen habe. Normalerweise fragen Sie so gut wie nie nach dem Fahrer, und jetzt gleich viermal innerhalb der letzten Viertelstunde. Wird Maria uns abholen? Wo Maria wohl gerade steckt? Was meinen Sie, wie alt Maria ist?«
Artemis massierte sich die Schläfen. »Das liegt an dieser verdammten Pubertät, Butler. Jedes Mal, wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, verschwende ich kostbare Gedanken an sie. Zum Beispiel das Mädchen da drüben in dem Restaurant. Während der letzten paar Minuten habe ich bestimmt ein Dutzend Mal zu ihr hinübergesehen.«
Automatisch unterzog Butler das besagte Mädchen seinem Leibwächter-Check.
Die Kleine war zwölf oder dreizehn, trug allem Anschein nach keine Waffe und hatte einen Wust blonder Ringellocken auf dem Kopf. Sie futterte sich hingebungsvoll durch eine Auswahl von tapas, während ihr männlicher Aufpasser, möglicherweise ihr Vater, Zeitung las. Ein weiterer Mann an ihrem Tisch mühte sich gerade damit ab, ein Paar Krücken unter seinem Stuhl zu verstauen. Butler kam zu dem Schluss, dass das Mädchen keine direkte Bedrohung für sie darstellte, wohl aber indirekt für Schwierigkeiten sorgen konnte, falls Artemis’ Konzentration durch sie beeinträchtigt wurde.
Butler klopfte seinem jungen Schützling auf die Schulter. »Es ist ganz normal, dass Mädchen einen ablenken. Wenn Sie in den letzten Jahren nicht damit beschäftigt gewesen wären, die Welt zu retten, wäre das schon eher passiert.«
»Ich muss das trotzdem in den Griff kriegen. Ich habe schließlich Wichtigeres zu tun.«
»Die Pubertät in den Griff kriegen?«, schnaubte der Leibwächter. »Da wären Sie der Erste.«
»Das bin ich meistens«, sagte Artemis.
Und das stimmte. Kein anderer Teenager hatte im zarten Alter von vierzehn Jahren bereits eine Elfe entführt, seinen Vater aus den Händen der russischen Mafiya gerettet und mitgeholfen, einen Kobold-Aufstand niederzuschlagen.
Es hupte zweimal. Auf der anderen Seite der Kreuzung hielt eine Limousine. Durch das offene Fenster gab ihnen eine junge Dame ein Zeichen.
»Da ist Maria«, sagte Artemis, dann riss er sich zusammen. »Ich meine, fahren wir. Vielleicht haben wir am nächsten Zielort mehr Glück.«
Butler ging voran und stoppte den Verkehr mit einer einzigen Bewegung seiner riesigen Hand. »Vielleicht sollten wir Maria mitnehmen. Ein fest angestellter Chauffeur würde mir die Arbeit sehr erleichtern.«
Artemis brauchte einen Moment, bis er begriff, dass der Leibwächter ihn foppte. »Sehr witzig, Butler. Sie belieben zu scherzen, hoffe ich?«
»Allerdings.«
»Dachte ich mir, obwohl ich nicht viel Erfahrung mit Humor habe. Abgesehen von Mulch Diggums’ Witzen.«
Mulch war ein kleptomanischer Zwerg, der bei früheren Gelegenheiten für Artemis gestohlen – und ihn bestohlen hatte. Diggums hielt sich für einen witzigen Zeitgenossen. Er bezog einen Großteil seiner Scherze aus dem reichhaltigen Fundus, den ihm seine Körperfunktionen boten.
»Wenn Sie das Humor nennen«, sagte Butler, der sich bei der Erinnerung an seine Begegnungen mit dem explosiven Zwerg trotzdem ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
Plötzlich blieb Artemis stehen. Mitten auf der belebten Kreuzung.
Butler richtete den Blick drohend auf die dreispurige Fahrbahn, auf der sich etwa hundert Autofahrer drängten und ungeduldig hupten.
»Ich spüre etwas«, flüsterte Artemis. »Elektrizität.«
»Ob Sie die vielleicht auf der anderen Straßenseite spüren könnten?«, fragte Butler.
Artemis streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen kribbelten. »Er kommt doch noch, aber ein paar Meter vom Ziel entfernt. Da ist irgendwo eine Konstante, die nicht konstant ist.«
In der Luft begann sich ein Schatten abzuzeichnen. Aus dem Nichts tauchte ein Funkenwirbel auf, begleitet von Schwefelgeruch. In dem Funkenwirbel erschien ein graugrünes Wesen mit goldenen Augen, einem dicken Schuppenpanzer und großen, stachelbewehrten Ohren. Es stand aufrecht, war etwa eins fünfzig groß und von menschenähnlicher Gestalt, doch sonst hatte es nichts Menschliches an sich. Es schnüffelte durch schlitzförmige Nüstern, öffnete sein Schlangenmaul und sprach.
»Ergebenste Glückwunsche an Lady Heatherington Smythe«, sagte es mit einer Stimme, die wie zerberstendes Glas und knirschender Stahl klang. Das Wesen packte Artemis’ ausgestreckte Hand mit einer vierfingrigen Pranke.
»Faszinierend«, sagte der irische Junge.
Butler ließ sich nicht ablenken, er wollte Artemis so schnell wie möglich aus der Nähe dieser Kreatur fortschaffen. »Nichts wie weg«, sagte er brüsk und fasste Artemis an der Schulter.
Doch Artemis war bereits weg. Das Wesen war ebenso schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war, und hatte den Teenager mitgenommen. Ein Vorfall, der später überall in den Nachrichten gemeldet wurde, nur gab es seltsamerweise trotz der zahllosen mit Kameras bewaffneten Touristen keine Bilder davon.
Das Wesen schien substanzlos, als hätte es keine wirkliche Verbindung zu dieser Welt. Sein Griff um Artemis’ Hand war seltsam weich, aber mit einem harten Kern, wie von Knochen, die mit Schaumgummi umhüllt waren. Artemis versuchte nicht, sich loszureißen – er war fasziniert.
»Lady Heatherington Smythe?«, wiederholte das Wesen, und Artemis konnte hören, dass es Angst hatte. »Weilt sie an dieser Stätte?«
Nicht gerade eine zeitgemäße Wortwahl ging Artemis durch den Kopf, aber eindeutig Englisch. Woher kann ein im Zeitmeer treibender Dämon Englisch?
Rund um das Wesen knisterte die Luft vor Elektrizität, und weiße Stromblitze durchschnitten den Raum.
Den Zeit-Raum. Ein Riss, ein Loch in der Zeit.
Artemis ließ sich davon nicht beeindrucken – schließlich hatte er bei der Belagerung von Fowl Manor sogar miterlebt, wie die Zentrale Untergrund-Polizei die Zeit angehalten hatte. Was ihn vielmehr beschäftigte, war die sehr reale Gefahr, von dem Wesen mitgezogen zu werden. Weil dann die Aussicht, in seine eigene Dimension zurückzukehren, ziemlich gering wäre und die, in seine eigene Zeit zurückzukehren, gleich null.
Er rief nach Butler, doch es war zu spät. Sofern man das Wort spät benutzen kann, wenn Zeit nicht mehr existiert. Der Riss hatte sich geweitet und ihn und den Dämon verschlungen. Die Häuser und Menschen von Barcelona lösten sich langsam auf, und an ihrer Stelle erschien zuerst ein purpurfarbener Nebel, dann eine Sternengalaxie. Artemis verspürte glühende Hitze, gefolgt von eisiger Kälte. Er war überzeugt, wenn er wieder Gestalt annahm, würde er in Flammen aufgehen, und seine Asche würde gefrieren und sich im All verteilen.
Innerhalb einer Sekunde oder eines Jahres – unmöglich, es genauer zu sagen – veränderte sich ihre Umgebung. An die Stelle der Sterne trat ein Ozean, und sie befanden sich auf seinem Grund. Überall um sie herum peitschten seltsame Tiefseewesen mit ihren phosphoreszierenden Tentakeln durch das Wasser. Dann umgab sie ein Eisfeld und gleich darauf eine rote Landschaft, deren Luft von feinem Staub erfüllt war. Schließlich erblickten sie wieder Barcelona. Aber die Stadt sah anders aus. Sie war jünger.
Der Dämon heulte und klapperte mit seinen spitzen Zähnen und gab jeden Versuch auf, Englisch zu sprechen. Glücklicherweise war Artemis einer von nur zwei Menschen in Raum und Zeit, die Gnomisch beherrschten, die Sprache der Unterirdischen. »Beruhige dich, mein Freund«, sagte er. »Unser Schicksal ist besiegelt. Genieß die wunderbaren Bilder.«
Das Geheul des Dämons verstummte schlagartig, und er ließ Artemis’ Hand los. »Du sprechen Unterirdisch?«
»Gnomisch«, korrigierte Artemis ihn. »Und besser als du, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
Der Dämon verstummte und starrte Artemis an wie ein Wunderwesen. Was dieser natürlich auch war. Artemis seinerseits verbrachte die möglicherweise letzten Minuten seines Lebens damit, die Szenerie um sich herum zu betrachten. Sie befanden sich auf einer Baustelle. Die Baustelle der Casa Milá, aber das Haus war noch nicht fertig. Scharen von Arbeitern liefen über das Gerüst an der Vorderfront des Gebäudes, und ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann stand mit gerunzelter Stirn vor einem Blatt mit Bauzeichnungen.
Artemis lächelte. Es war Gaudí höchstpersönlich. Faszinierend.
Die Szenerie nahm klarere Konturen an, die Farben wurden kräftiger. Jetzt konnte Artemis auch die trockene spanische Luft riechen und das Gemisch aus Schweiß und Farbe.
»Verzeihung?«, sagte Artemis auf Spanisch.
Gaudí blickte von seinen Zeichnungen auf, und an die Stelle des Stirnrunzelns trat der Ausdruck fassungslosen Staunens. Vor ihm tauchte ein Junge aus dem Nichts auf. Und an seiner Seite kauerte ein Dämon.
Der brillante Architekt prägte sich jede Einzelheit des Bildes vor ihm ein, damit er es niemals wieder vergaß. »Sí?«, erwiderte er zögernd.
Artemis deutete auf die Spitze des Gebäudes. »Sie haben ein Mosaik für das Dach geplant. An Ihrer Stelle würde ich das noch mal überarbeiten. Das Motiv ist alles andere als originell.«
Und die beiden verschwanden, der Junge und der Dämon.
Butler zuckte nicht mit der Wimper, als das merkwürdige Wesen aus dem Zeitloch heraustrat. Aber schließlich war er darauf trainiert, in keiner Situation panisch zu reagieren, und sei sie noch so ungewöhnlich. Unglücklicherweise hatte jedoch außer ihm niemand auf dem Passeig de Gràcia die Leibwächter-Akademie von Madame Ko besucht, und so brachen alle Umstehenden nach der ersten Schrecksekunde lautstark in Panik aus – alle außer dem blondlockigen Mädchen und den beiden Männern an ihrem Tisch.
Fahrer ließen ihre Autos stehen oder steuerten sie kopflos in das nächste Schaufenster. Eine Menschenwoge wich wie von unsichtbarer Hand gelenkt vom Ort des Geschehens zurück. Wieder reagierten das Mädchen und ihre beiden Begleiter vollkommen anders: Sie liefen sogar auf die Stelle zu, wo der Dämon erschienen war. Der Mann mit den Krücken bewegte sich dabei erstaunlich flink für jemanden, der angeblich eine Beinverletzung hatte.
Butler beachtete das Chaos um ihn herum nicht. Er konzentrierte sich auf seine rechte Hand – beziehungsweise auf die Stelle, wo seine rechte Hand eine Sekunde zuvor noch gewesen war. Denn unmittelbar bevor Artemis in eine andere Dimension entschwunden war, hatte Butler ihn an der Schulter gefasst, und nun hatte etwas wie ein Verschwindevirus sich seiner Hand bemächtigt.
Butler rechnete fest damit, dass auch sein Arm verschwinden würde, doch das tat er nicht. Nur die Hand. Sie kribbelte ein wenig, als wenn sie eingeschlafen wäre, aber er spürte sie noch, und er spürte auch die knochige Schulter seines jungen Schützlings unter den Fingern.
»Nichts da«, knurrte Butler und verstärkte den Griff seiner unsichtbaren Hand. »Ich habe Ihretwegen viel zu viel mitgemacht, um Sie jetzt einfach so verschwinden zu lassen.«
Der Leibwächter langte quer durch die Jahrzehnte und zerrte seinen jungen Schützling aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart.
Artemis machte es ihm nicht leicht. Butler schien es, als schleife er einen Felsbrocken durch ein Meer aus Schlamm, doch so schnell gab er nicht auf. Er stemmte die Füße in den Boden und zog mit voller Kraft. Da flutschte Artemis aus dem zwanzigsten Jahrhundert heraus und landete bäuchlings im einundzwanzigsten.
»Ich bin wieder da«, sagte der irische Junge, als wäre er nur eben spazieren gewesen. »Wie überraschend.«
Butler half seinem Prinzipal auf und musterte ihn kurz. »Alles noch dran, nichts gebrochen. Und jetzt, Artemis, sagen Sie mir, was ist siebenundzwanzig mal achtzehn Komma fünf?«
Artemis rückte sein Jackett zurecht. »Aha, verstehe. Sie überprüfen meine geistigen Fähigkeiten. Sehr gut. Es wäre in der Tat denkbar, dass eine Zeitreise das Gehirn beeinträchtigt.«
»Beantworten Sie einfach meine Frage!«, beharrte Butler.
»Vierhundertneunundneunzig Komma fünf, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen.«
»Da Sie es sagen, wird’s wohl stimmen.« Der riesige Leibwächter lauschte. »Sirenen. Wir müssen von hier verschwinden, Artemis, bevor ich gezwungen bin, einen internationalen Zwischenfall zu verursachen.«
Er dirigierte Artemis zur anderen Straßenseite, zu dem einzigen Auto, das dort noch stand. Maria sah ein wenig blass aus, aber immerhin hatte sie ihre Kunden nicht im Stich gelassen.
»Gut gemacht«, sagte Butler und riss den hinteren Wagenschlag auf. »Zum Flughafen. Vermeiden Sie die Autobahn, solange es geht.«
Butler und Artemis hatten noch nicht den Gurt angelegt, da schoss Maria schon mit quietschenden Reifen los, ohne die Ampeln zu beachten. Das blonde Mädchen und die beiden Männer blieben hinter ihnen auf dem Gehweg zurück.
Maria warf einen Blick in den Rückspiegel und fragte Artemis: »Was war denn das?«
»Keine Fragen«, sagte Butler barsch. »Konzentrieren Sie sich aufs Fahren.« Er selbst verkniff sich aus Erfahrung jede weitere Bemerkung. Artemis würde ihm alles über das merkwürdige Wesen und den Funken sprühenden Spalt erzählen, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hielt.
Artemis saß schweigend da, während die Limousine über Las Ramblas in das Gassengewirr der Altstadt Barcelonas einbog.
»Wie bin ich wieder hierhergekommen?«, murmelte er nach einer Weile nachdenklich. »Warum sind wir nicht dort? Oder vielmehr dann? Was hat uns in dieser Zeit festgehalten?« Er musterte Butler. »Haben Sie etwas aus Silber bei sich?«
Butler räusperte sich verlegen. »Wie Sie wissen, trage ich normalerweise keinen Schmuck, aber da wäre dies hier.« Er zog die Manschette hoch. Darunter kam ein Lederarmband mit einem Silbernugget in der Mitte zum Vorschein. »Juliet hat es mir geschickt. Aus Mexiko. Offenbar soll es böse Geister abhalten. Ich musste ihr versprechen, dass ich es umlege.«
Artemis lächelte breit. »Also war es Juliet. Sie hat uns im Jetzt verankert.« Er tippte auf den Silbernugget an Butlers Handgelenk. »Sie sollten Ihre Schwester anrufen. Juliet hat uns das Leben gerettet.«
Als Artemis das Armband seines Leibwächters berührte, stutzte er. Er sah auf seine Finger. Es waren seine Finger, kein Zweifel, aber irgendetwas war anders. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, was geschehen war.
Selbstverständlich hatte er vorher über mögliche Folgen einer interdimensionalen Reise nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass das Original eventuell leiden könnte, wie bei einem Computerprogramm, das zu oft kopiert wurde. Es war denkbar, dass Daten im Äther verloren gingen.
Soweit Artemis es beurteilen konnte, war nichts verloren gegangen, nur war jetzt der Zeigefinger an seiner linken Hand länger als der Mittelfinger. Oder genauer gesagt, der Zeigefinger und der Mittelfinger hatten die Plätze getauscht.
Versuchsweise krümmte er die Finger.
»Hmm«, bemerkte Artemis Fowl. »Ich bin einzigartig.«
Butler schnaubte. »Wem sagen Sie das.«
Holly Shorts Karriere als unterirdische Privatdetektivin entwickelte sich nicht wie geplant. Das lag vor allem daran, dass Erdlands beliebteste Fernsehshow in den letzten Monaten gleich zwei Sondersendungen über sie gebracht hatte. Es war nicht einfach, als verdeckte Ermittlerin zu arbeiten, wenn das eigene Gesicht dank der zahllosen Wiederholungen ständig über den Bildschirm flimmerte.
»Wie wär’s mit ’ner Gesichtsoperation?«, fragte eine Stimme in ihrem Kopf.
Diese Stimme war nicht das erste Anzeichen beginnenden Wahnsinns, sondern sie gehörte ihrem Partner, Mulch Diggums, und sie drang aus ihrem Ohrlautsprecher.
»Was?«, sagte sie in das winzige hautfarbene Mikro an ihrem Hals.
»Ich habe gerade ein Poster mit Ihrem Konterfei vor der Nase, und da kam mir der Gedanke, dass eine Gesichts-OP keine schlechte Idee wäre, wenn wir im Geschäft bleiben wollen. Und ich meine das richtige Geschäft, nicht diese Jagd nach Kopfgeld. Kopfgeldjäger sind das Allerletzte.«
Holly seufzte. Der Zwerg hatte recht. Selbst Verbrecher waren höher angesehen als Kopfgeldjäger.
»Ein paar Implantate und eine neue Nase, und selbst Ihre besten Freunde würden Sie nicht wiedererkennen«, fuhr Mulch Diggums fort. »Sie sind ja ohnehin nicht gerade ’ne Schönheitskönigin.«
»Kommt nicht infrage.« Holly mochte ihr Gesicht so, wie es war. Es erinnerte sie an das ihrer Mutter.
»Oder vielleicht Hautspray? Sie könnten es mal mit Grün versuchen und sich als Fee ausgeben.«
»Mulch, sind Sie auf Position?«, fragte Holly barsch.
»Jawoll«, antwortete der Zwerg. »Was von dem Wichtel zu sehen?«
»Nein, er hat sich noch nicht blicken lassen, aber er kann jeden Moment auftauchen, also lassen Sie das Gequatsche und halten Sie sich bereit.«
»He, wir sind jetzt Partner, nicht mehr Gauner und Polizistin. Sie haben mir gar nichts zu befehlen.«
»Halten Sie sich bereit, bitte.«
»No problemo. Mulch Diggums, der schnöde Kopfgeldjäger, kann ja jederzeit kündigen.«
Holly seufzte. Manchmal vermisste sie die Disziplin der Aufklärungseinheit bei der Zentralen Untergrund-Polizei. Wenn ein Befehl kam, wurde er befolgt. Obwohl Holly sich eingestehen musste, dass sie selbst mehr als einmal in Schwierigkeiten geraten war, weil sie einen Befehl nicht befolgt hatte. Dass sie überhaupt so lange bei der ZUP-Aufklärung geblieben war, verdankte sie nur der Tatsache, dass sie einige hochkarätige Verbrecher überführt hatte. Und ihrem Mentor, Commander Julius Root.
Holly spürte, wie sich ihr das Herz zusammenzog, als ihr zum zigsten Mal bewusst wurde, dass Julius tot war. Manchmal dachte sie stundenlang nicht daran, und dann traf es sie wie ein Schlag. Und schmerzte wie beim ersten Mal.
Sie war aus dem ZUP-Dienst ausgetreten, weil Julius’ Nachfolger sie allen Ernstes beschuldigt hatte, sie habe den Commander umgebracht. Holly war zu dem Schluss gekommen, dass sie bei einem solchen Boss dem Erdvolk eher dienlich sein konnte, wenn sie den Dienst quittierte. Doch mittlerweile sah es so aus, als hätte sie sich da mächtig geirrt. Zu ihrer Zeit als Captain der ZUP-Aufklärung hatten sie einen Kobold-Aufstand niedergeschlagen, den Plan einiger Verbrecher durchkreuzt, das Erdvolk den Oberirdischen preiszugeben, und gestohlene Elfentechnologie von einem Menschenwesen in Chicago zurückgeholt. Und jetzt – verfolgte sie einen Fischschmuggler, der aus der Untersuchungshaft geflohen war. Nicht gerade ein Fall von nationaler Tragweite.
»Wie wär’s mit ’ner Schienbeinverlängerung?«, unterbrach Mulch ihren Gedankengang. »Damit wären Sie innerhalb von ein paar Stunden größer.«
Holly musste lächeln. So nervtötend ihr Partner manchmal war, er schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern. Außerdem waren die speziellen Fähigkeiten des Zwergs in ihrem neuen Tätigkeitsbereich überaus nützlich. Bis vor Kurzem hatte Mulch diese Fähigkeiten dazu genutzt, in Häuser einund aus Gefängnissen auszubrechen, aber jetzt stand er auf der Seite der Guten – behauptete er zumindest. Dummerweise war allgemein bekannt, dass der Schwur eines Zwerges gegenüber einem Nichtzwerg nicht den speicheltriefenden Handschlag wert war, mit dem er besiegelt wurde.
»Vielleicht sollten Sie mal eine Gehirnverlängerung erwägen«, gab Holly zurück.
Mulch schnaubte. »Ein echter Brüller. Den Gag muss ich glatt in meine Sammlung aufnehmen.«
Während Holly noch nach einem wirklich coolen Spruch suchte, tauchte ihr Zielobjekt an der Tür des Motelzimmers auf. Der Kerl war ein harmlos aussehender Wichtel, kaum einen halben Meter groß, aber größer musste man ja auch nicht sein, um einen Fischtransporter zu fahren. Die Schmugglerbosse heuerten gerne Wichtel als Fahrer und Kuriere an, weil sie so unschuldig und kindlich wirkten. Doch Holly hatte die Akte dieses Wichtels gelesen und wusste, dass er alles andere als unschuldig war.
Doodah Day belieferte seit über einem Jahrhundert illegalerweise Restaurants mit Lebendware. In Schmugglerkreisen war er eine Legende. Als Ex-Krimineller kannte Mulch eine Menge Insiderstorys und konnte Holly mit allerlei nützlichen Informationen versorgen, die nie in einer ZUP-Akte auftauchen würden. Zum Beispiel, dass Doodah Day es einmal geschafft hatte, die sorgfältig überwachte Strecke von Atlantis nach Haven in weniger als sechs Stunden zurückzulegen, und das ohne einen einzigen Fisch aus dem Tank zu verlieren.
Doodah war schließlich im Atlantischen Graben von einer Einheit ZUP-Wasserfeenmänner geschnappt worden. Doch auf dem Weg von der Untersuchungshaft zum Gericht war er entwischt, und jetzt hatte Holly ihn aufgespürt. Das Kopfgeld, das auf Doodah Day ausgesetzt war, reichte locker, um in den nächsten sechs Monaten die Miete für ihr Büro zu bezahlen, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift hing: Short & Diggums. Privatdetektei.
Doodah Day trat mit missmutiger Miene aus seinem Zimmer. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und marschierte dann Richtung Süden, zum Einkaufsviertel. Holly folgte ihm in zwanzig Schritt Entfernung, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. In die Generalüberholung dieser verrufenen Gegend steckte der Rat von Haven City derzeit Millionen von Goldbarren. In fünf Jahren würde hier nichts mehr an ein Koboldgetto erinnern. Riesige gelbe Multimixer verschlangen die alten Gehwege und spuckten hinten brandneue aus. Über ihnen lösten Feenmänner vom Öffentlichen Dienst ausgebrannte Lichtstreifen von der Tunneldecke und ersetzten sie durch neue, mit Molekularenergie betriebene Modelle.
Der Wichtel nahm den gleichen Weg wie an den vergangenen drei Tagen. Er schlenderte die Straße hinunter zum Marktplatz, besorgte sich an einem Imbissstand eine Portion Wühlmauscurry und kaufte sich dann eine Karte für das Vierundzwanzig-Stunden-Kino. Wenn er der üblichen Routine folgte, würde Doodah dort mindestens die nächsten acht Stunden zubringen.
Nicht, wenn ich es verhindern kann, dachte Holly. Sie war fest entschlossen, diesen Auftrag bis Ladenschluss abzuwickeln. Was nicht einfach werden würde. Doodah war klein, aber ausgebufft. Ohne Waffe und Handschellen war es fast unmöglich, ihn festzuhalten. Fast. Einen Weg gab es.
Holly kaufte bei dem Gnom am Schalter ein Ticket und setzte sich auf einen Platz zwei Reihen hinter dem Zielobjekt. Um diese Zeit war das Kino so gut wie leer. Außer ihnen beiden waren vielleicht noch fünfzig andere Zuschauer im Saal. Die meisten trugen nicht einmal Kinobrillen. Sie saßen nur da, um die Stunden bis zur nächsten Mahlzeit herumzukriegen.
Das Kino zeigte nonstop den Dreiteiler Der Hügel von Taillte, die Verfilmung der Ereignisse um die Schlacht am Hügel von Taillte, bei der die Menschen das Erdvolk endgültig unter die Erde gezwungen hatten. Der letzte Teil hatte vor ein paar Jahren sämtliche Filmpreise abgeräumt. Er bot fantastische Spezialeffekte, und es gab sogar eine interaktive Version, bei der der Spieler in eine der Nebenrollen schlüpfen konnte.
Als Holly jetzt die Bilder sah, verspürte sie denselben Schmerz über den Verlust wie immer. Das Erdvolk sollte an der Oberfläche leben, statt in diesem technisch ausgefeilten Tunnelsystem.
Sie schaute sich die überwältigenden Luftaufnahmen und die Zeitlupeneinstellungen der Schlacht eine Dreiviertelstunde an, dann trat sie auf den Gang und nahm die Kapuze ab. In ihren Zeiten bei der ZUP hätte sie sich einfach von hinten an den Wichtel angeschlichen und ihm ihre Neutrino 3000 in den Nacken gebohrt, doch Zivilisten durften keinerlei Waffen tragen, und so musste sie auf eine subtilere Strategie zurückgreifen.
Sie sprach den Wichtel vom Gang aus an. »He, Sie. Sind Sie nicht Doodah Day?«
Der Wichtel sprang von seinem Sitz, was ihn allerdings auch nicht größer machte, und starrte Holly finster an.
»Wer will das wissen?«
»Die ZUP«, erwiderte Holly – womit sie nicht behauptet hatte, ein Mitglied der ZUP zu sein. Das wäre auch schlichtweg Betrug gewesen und damit strafbar.
Doodah beäugte sie misstrauisch. »Ich kenne Sie doch. Sie sind diese Elfe, die es mit den Kobolden aufgenommen hat. Ich hab Sie auf dem Bildschirm gesehen. Sie sind nicht mehr bei der ZUP.«
Holly spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es tat gut, wieder im Einsatz zu sein. Egal, in was für einem. »Mag sein, Doodah, aber ich bin trotzdem hier, um Sie ins Kittchen zu bringen. Kommen Sie freiwillig mit?«
»Um ein paar Hundert Jahre im Knast von Atlantis abzusitzen? Für wie blöd halten Sie mich?«, entgegnete Doodah Day und ließ sich fallen.
Flink wie ein Tunnelhase krabbelte der kleine Wichtel Haken schlagend unter den Sitzen hindurch.
Holly warf sich die Kapuze wieder über und lief zum Notausgang, denn darauf würde Doodah zusteuern. Jeder gewiefte Verbrecher überprüft schließlich als Erstes die Fluchtwege, wenn er ein Gebäude betritt.
Doodah war vor ihr am Ausgang und schoss wie ein geölter Blitz durch die Tür. Holly sah nur noch den verschwommenen blauen Fleck seines Overalls.
»Zielobjekt flüchtet in Ihre Richtung«, sagte Holly in ihr Halsmikro. Das hoffe ich zumindest, dachte sie im Stillen.
Sie ging davon aus, dass Doodah zu seinem Schlupfwinkel fliehen wollte, einem kleinen Lagerraum drüben an der Crystal Street, der mit einer Liege und einer Klimaanlage ausgestattet war. Wenn der Wichtel dort ankam, würde Mulch bereits auf ihn warten. Dies war die klassische Jagdtechnik der Oberirdischen: Schlag Krach und sei bereit, wenn der Vogel auffliegt – wobei die Oberirdischen den Vogel dann abschossen und verspeisten. Mulchs Fangmethode war weniger tödlich, aber ebenso abstoßend.
Holly folgte Doodah Day, wenn auch in einigem Abstand. Sie hörte das Getrappel seiner Füße auf dem Teppichboden des Kinos, aber sehen konnte sie den kleinen Kerl nicht. Das war auch gut so, denn Doodah sollte glauben, dass er seine Verfolgerin abgehängt hatte, sonst würde er nicht auf sein Schlupfloch zusteuern.
In ihren ZUP-Zeiten wäre eine derartige Verfolgungsjagd nicht nötig gewesen. Sie hätte freien Zugang zu den fünftausend Überwachungskameras gehabt, die überall in Haven City angebracht waren, ganz zu schweigen von hundert anderen technischen Spielereien aus dem Arsenal der ZUP. Jetzt gab es nur sie und Mulch. Vier Augen und ein paar spezielle Zwergentalente.
Die Haupttür schlug immer noch hin und her, als Holly sie erreichte. Direkt hinter dem Eingang saß ein wütender Gnom auf dem Boden, über und über mit Nesselshake bekleckert.
»Das war ein kleines Kind«, beschwerte er sich bei einem Platzanweiser. »Oder ein Wichtel. Mit einem großen Kopf, so viel weiß ich. Den hat er mir nämlich mitten in den Bauch gerammt.«
Holly lief an den beiden vorbei und drängte sich nach draußen auf den Marktplatz. Soweit man überhaupt von »draußen« sprechen konnte. Wenn man in einem Tunnel lebte, war alles drinnen. Die Lichtstreifen an der Decke standen auf Vormittag. Doodah Day hatte eine deutliche Spur der Zerstörung hinterlassen. Der Stand mit Wühlmauscurry war umgestürzt. Klebriges, graugrünes Curry überzog das Pflaster. Und klebrige, graugrüne Fußspuren führten zur Nordecke des Platzes.
Bis jetzt verhielt Doodah sich genau wie vorhergesehen. Holly schob sich durch die Traube von Curry-Kunden, den Blick auf die Fußspuren des Wichtels geheftet.
»Zwei Minuten«, sagte sie, an Mulch gerichtet.
Es kam keine Antwort, aber die konnte auch nicht kommen, wenn der Zwerg in Position war.
In diesem Moment müsste Doodah den nächstgelegenen Lieferantentunnel nehmen, um zur Crystal Street zu gelangen. Das nächste Mal würde sie sich einem Gnom an die Fersen heften. Wichtel waren einfach zu schnell.
Holly bog um die Ecke, in der Erwartung, den verschwommenen blauen Klecks des Wichtels irgendwo vor sich zu sehen. Stattdessen rollte ein zehn Tonnen schwerer, gelber Multimixer auf sie zu. Offensichtlich hatte Doodah Day aufgehört, sich zu verhalten wie geplant.
»D’Arvit!«, fluchte Holly und sprang zur Seite. Der Rotor an der Vorderseite des Multimixers fraß sich durch das Pflaster des Platzes und spuckte es hinten als perfekte, passgenaue Würfel wieder aus.
Holly duckte sich und griff unwillkürlich nach dem Neutrino-Blaster, den sie bis vor Kurzem an der Hüfte getragen hatte. Doch da war nur noch Luft.
Knurrend und fauchend wie ein mechanisches Steinzeitungeheuer wendete der Multimixer für die nächste Bahn. Mächtige Kolben stampften, und die rotierenden Messer frästen sich wie eine Sense durch alles, was ihnen in den Weg kam. Bauschutt verschwand im Bauch der Maschine und wurde von glühenden Platten zusammengestampft.
Erinnert mich irgendwie an Mulch, dachte Holly. Komisch, was einem so durch den Kopf geht, wenn man in Lebensgefahr ist.
Sie wich vor dem Mixer zurück. Er war zwar riesig, aber auch langsam und schwerfällig. Hollys Blick wanderte zur Fahrerkabine, und da saß Doodah Day. Seine Hände flogen routiniert über die Knöpfe und Hebel und steuerten das metallene Ungetüm direkt auf Holly zu.
Um sie herum war Panik ausgebrochen. Passanten schrien, Alarmsirenen heulten. Doch darum konnte Holly sich jetzt nicht kümmern. Die oberste Priorität lautete: am Leben bleiben. So beängstigend, wie diese Situation für das normale Publikum auch sein mochte, Holly verfügte über eine ZUP-Ausbildung und jahrelange Erfahrung. Sie war schon deutlich beweglicheren Gegnern entkommen als diesem Multimixer.
Doch das sollte sich bald als Irrtum herausstellen. Der Multimixer als Ganzes war zwar langsam, aber einige seiner Fahrzeugteile waren unglaublich schnell. Die Auffangplatten zum Beispiel: zwei gut drei Meter hohe Wände aus Stahl, die zu beiden Seiten neben dem Rotor ausgefahren werden konnten, um Schutt aufzufangen, der eventuell zwischen den rotierenden Schneidblättern wegsprang.
Doodah Day, dem das Bedienen der verschiedensten Fahrzeuge förmlich in die Wiege gelegt worden war, hatte seine Chance erkannt und genutzt. Mit ausgeschalteter Sicherung betätigte er die Platten, die sofort von vier Druckluftpumpen rechts und links neben Holly in die Wand gejagt wurden und sich fünfzehn Zentimeter tief in den Stein gruben.
Holly sank das Herz in die Stiefel. Wie an die Wand genagelt, starrte sie den rotierenden, scharfen Messern entgegen, die vor ihr den Boden aufrissen.
Flügel wären jetzt nicht schlecht, dachte Holly, doch nur ihr ZUP-Overall hätte über Flügel verfügt, und sie hatte das Recht verwirkt, ihn zu tragen.
Die Platten schlossen den Wirbel ein, den die Schneidblätter erzeugten, sodass sich alles in ihrem Einzugsbereich darauf zubewegte. Die Vibration war unglaublich. Holly spürte förmlich ihre Zähne im Zahnfleisch beben. Sie sah nicht nur doppelt, sondern zehnfach. Auf sämtlichen Wahrnehmungskanälen war der Empfang gestört. Und direkt vor ihren Füßen fraßen sich die Messer gierig durch das Pflaster. Holly versuchte, auf die linke Auffangplatte zu klettern, doch die war gut geschmiert und bot ihr keinen Halt. Mit der anderen hatte sie ebenso wenig Glück. Der einzige Fluchtweg lag vor ihr, aber dort warteten die tödlichen Messer.
Holly brüllte Doodah etwas zu, und vielleicht formte ihr Mund sogar richtige Worte. Doch sicher war sie nicht, bei dem Lärm und den Erschütterungen. Die sirrenden Messer kamen immer näher. Mit jeder Drehung rissen sie weitere Stücke aus dem Boden. Nicht mehr viel, dann würde der Multimixer sie verschlingen, sie zerschreddern, durch die Eingeweide der Maschine pressen und schließlich als Pflasterstein wieder ausspucken. Holly Short wäre buchstäblich ein Teil dieser Stadt.
Es gab nichts, was sie tun konnte. Absolut gar nichts. Mulch war zu weit weg, um ihr zu helfen, und es war unwahrscheinlich, dass irgendein Passant versuchen würde, den durchgedrehten Multimixer zu stoppen, selbst wenn er wüsste, dass sie zwischen den Auffangplatten festsaß.
Während die Messer unaufhaltsam näher kamen, warf Holly einen flehenden Blick zu dem computergenerierten Himmel. Wie schön wäre es gewesen, an der Oberfläche sterben zu dürfen. Die Wärme der echten Sonne auf der Stirn zu spüren. Ja, das wäre wirklich schön gewesen.
Da stoppten die Schneidblätter. Aus dem Bauch des Mixers entlud sich eine Ladung halb verdauter Schuttbrocken über Holly. Steinsplitter ritzten ihr die Haut auf, doch sonst blieb sie unverletzt. Sie wischte sich den Dreck aus dem Gesicht und sah auf. In den Ohren summte es noch vom Dröhnen der Maschine, und der Staub, der wie Schnee auf Holly herabrieselte, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Doodah Day spähte von der Fahrerkabine auf sie herunter. Sein Gesicht war bleich, aber grimmig.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«, rief er.
In Hollys malträtierten Ohren klang seine Stimme dünn und blechern.
»Lassen Sie mich in Ruhe, hören Sie?«
Dann kletterte er über die Leiter von der Maschine und verschwand, vielleicht geradewegs zu seinem Schlupfloch.
Holly lehnte sich gegen eine der Platten und atmete erst mal tief durch. Winzige Magiefunken tanzten um die zahlreichen Schnittwunden und verschlossen sie. In den Ohren ploppte und fiepte es, während die Trommelfelle magisch neu justiert wurden. Innerhalb weniger Sekunden funktionierte Hollys Gehör wieder normal.
Sie musste hier weg. Und zwar über den Rotor. An den Schneidblättern vorbei. Vorsichtig fuhr Holly mit dem Finger über eines der Messer. Ein Blutstropfen quoll aus einem kleinen Schnitt, wurde jedoch sofort von einem blauen Magiefunken wieder hineingesogen. Ein Ausrutscher, und die Klingen würden sie in tausend Stücke zerschneiden. Dann würde die gesamte unterirdische Magie nicht ausreichen, um sie wieder zusammenzuflicken. Aber einen anderen Weg gab es nicht, wenn sie nicht warten wollte, bis die Verkehrswacht der ZUP eintraf. Der angerichtete Schaden wäre übel genug, wenn sie noch die Haftpflichtversicherung der ZUP hätte, als Privatperson allerdings würde sie gleich für ein paar Monate hinter Gittern landen, während die Gerichte beratschlagten, was ihr zur Last gelegt werden konnte.
Behutsam schob Holly die Finger zwischen die Messer und ergriff eine Querstrebe des Rotors. Eigentlich war es nichts anderes, als eine Leiter hinaufzuklettern. Eine verdammt scharfe, potenziell tödliche Leiter. Sie schob den Fuß auf eine der unteren Streben und begann ihre Klettertour. Mit einem Knarzen sackte der Rotor fünfzehn Zentimeter ab. Holly hielt sich fest. Das war sicherer, als loszulassen. Die Messer bebten Millimeter vor ihrem Körper.
Schön langsam. Keine falsche Bewegung.
Eine Strebe nach der anderen erklomm Holly den Rotor. Zweimal ritzte ihr ein Messer die Haut auf, aber die Schnitte waren nur oberflächlich und wurden sofort von den blauen Funken verschlossen. Nach einer kleinen Ewigkeit höchster Konzentration hievte Holly sich auf die Motorhaube, die schmutzig und heiß war, jedoch wenigstens nicht schärfer als die Zunge eines Zentauren.
»Er ist da rübergelaufen«, sagte eine Stimme unter ihr.
Holly blickte hinunter und sah einen dicken Gnom in der Uniform der Stadtwerke, der mit wütender Miene zur Crystal Street deutete.
»Da rüber ist er gelaufen«, wiederholte der Gnom. »Der Wichtel, der mich aus meinem Mixer geworfen hat.«
Verdutzt starrte Holly den korpulenten Beamten an. »Der kleine Wichtel hat Sie rausgeworfen?«
Der Gnom errötete leicht. »Ich wollte gerade aussteigen, und da hat er mich geschubst.« Dann vergaß er plötzlich seine Verlegenheit. »He, sind Sie nicht diese Polly Soundso? Polly Little? Die Heldin von der ZUP?«
Holly kletterte die Leiter hinunter. »Genau, die bin ich.« Sie sprang auf den Boden und rannte los. Ihre Stiefel knirschten auf dem aufgerissenen Pflaster.
»Mulch«, sagte sie, »Doodah läuft in Ihre Richtung. Seien Sie vorsichtig. Der Kerl ist gefährlicher, als wir dachten.«
Gefährlich? Vielleicht ja, vielleicht nein. Immerhin hatte er sie nicht getötet, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Es sah so aus, als fehlte diesem Wichtel der Mumm für einen Mord.
Doodah Days Nummer mit dem Multimixer hatte auf dem Marktplatz ein einziges Chaos ausgelöst. Wichtel von der Verkehrspolizei, auch »Knollos« genannt, strömten herbei, und Zivilisten eilten davon. Holly zählte mindestens sechs Magna-Bikes und zwei Streifenwagen der ZUP-Verkehrswacht. Sie ging mit gesenktem Kopf weiter, doch einer der Verkehrspolizisten sprang von seinem Bike und packte sie an der Schulter.
»He, Frollein, haben Sie vielleicht gesehen, was passiert ist?«
Frollein? Es juckte Holly in den Fingern, die Hand an ihrer Schulter zu packen und den Officer in den nächsten Recycler zu befördern. Aber jetzt war nicht der geeignete Moment für eine Szene – sie musste ihn von sich ablenken.
»Ach, dem Himmel sei Dank, dass Sie hier sind, Officer«, zwitscherte sie mit einer Stimme, die mindestens eine Oktave höher war als sonst. »Drüben bei dem Multimixer, da ist überall Blut.«
»Blut!«, rief der Knollo geradezu begeistert. »Überall?«
»Ja, wo man hinblickt.«
Der Verkehrspolizist ließ Hollys Schulter los. »Danke, Frollein. Ich kümmere mich darum.«
Zielstrebig marschierte er auf den Multimixer zu, dann drehte er sich noch einmal um. »Entschuldigen Sie, Frollein«, sagte er, einen Funken des Wiedererkennens in seinem Blick. »Habe ich Sie nicht schon mal irgendwo gesehen?«
Doch die Elfe mit der Kapuze war verschwunden.
Was soll’s, dachte der Knollo. Jetzt kümmere ich mich erst mal um das ganze Blut.
Holly hastete zur Crystal Street, obwohl sie sicher war, dass es keinen Grund zur Eile gab. Entweder hatte Doodah beschlossen, sich nicht in seinem Schlupfloch zu verkriechen, aus Angst vor Verfolgung. Oder Mulch hatte ihn bereits erwischt. In beiden Fällen konnte sie nichts weiter tun. Wieder einmal bedauerte sie, dass sie nicht auf die Verstärkung der ZUP zurückgreifen konnte. Früher hätte sie einen kurzen Befehl in ihr Helmmikro gegeben, und sämtliche Straßen des Viertels wären abgesperrt worden.
Sie wich einem Straßenreinigungsroboter aus und bog in die Crystal Street ein. Die schmale Straße war eine Lieferantenzufahrt für den Marktplatz und bestand hauptsächlich aus Laderampen. Die umstehenden Gebäude wurden als Lagerräume vermietet. Zu Hollys Überraschung stand Doodah plötzlich direkt vor ihr. Er kramte in seinen Taschen, vermutlich auf der Suche nach seinem Zugangschip. Was ihn wohl aufgehalten hatte? Vielleicht hatte er sich hinter einer der Kisten versteckt, um den Wichten auszuweichen. Egal. Jetzt hatte sie die Chance, ihn doch noch zu schnappen.
Doodah blickte auf, und Holly winkte ihm zu.
»Tag auch«, sagte sie.
Doodah schüttelte wütend die winzige Faust. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, Elfe? Ich schmuggle doch bloß kleine Fische.«
Die Frage traf Holly ins Mark. War dies wirklich die beste Weise, dem Erdvolk zu dienen? Hätte Commander Root nicht mehr von ihr erwartet? Vor ein paar Monaten hatte sie noch Oberflächeneinsätze höchster Wichtigkeitsstufe ausgeführt, und jetzt jagte sie in schmuddeligen Seitenstraßen »kleine Fische«. Was für ein Abstieg.
Sie streckte die Hände aus, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. »Ich will nicht, dass Sie verletzt werden, also rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
Doodah lachte nur. »Verletzt? Von Ihnen? Das glaub ich nicht.«
»Nein«, sagte Holly. »Nicht von mir. Von ihm.« Sie deutete auf den Boden unter seinen Füßen.
»Ihm?« Misstrauisch senkte Doodah den Blick. Er vermutete eine Falle. Und da vermutete er ganz richtig. Ein leises Rumpeln, und der Boden unter ihm begann zu beben.
»Was zum Teufel?«, entfuhr es Doodah, und er hob den Fuß, um zur Seite auszuweichen. Doch dazu blieb ihm keine Zeit, denn nun geschah alles sehr schnell.
Der Boden gab nicht nur nach, er wurde mit einem ekligen Schlürfen nach unten weggesogen. Ein gewaltiger Ring aus Zähnen brach durch die Erde, gefolgt von einem riesigen Rachen. Zu dem Rachen gehörte ein Zwerg, und der schoss aus dem Boden wie ein Delfin aus dem Wasser, angetrieben vom Gas aus seinem Allerwertesten. Der Zahnring schloss sich um Doodah Day und verschlang ihn bis zum Hals.
Mulch Diggums – denn natürlich war er es – ging wieder in seinem Tunnel in Deckung, samt dem unglückseligen Wichtel. Nun sah Doodah nicht mehr so keck aus wie noch einige Sekunden zuvor.
»Ein Z-Zwerg«, stammelte er. »Ich dachte, euer Völkchen hat’s nicht so mit den Gesetzen.«
»Normalerweise nicht«, erwiderte Holly. »Aber Mulch ist eine Ausnahme. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass er nicht persönlich antwortet, aber er könnte Ihnen sonst versehentlich den Kopf abbeißen.«
Plötzlich begann Doodah sich zu winden. »Was macht er denn jetzt?«
»Ich nehme an, er leckt Sie ab. Zwergenspeichel wird an der Luft hart. Sobald Mulch den Mund aufmacht, werden Sie festsitzen wie ein Küken im Ei.«
Mulch zwinkerte Holly zu. Mehr ging im Moment nicht, aber Holly wusste, dass er in den nächsten Tagen bei jeder Gelegenheit mit seinen Fähigkeiten angeben würde.
Zwerge können sich kilometerweit durch die Erde fressen. Zwerge haben einen Turboantrieb im Hintern. Zwerge können pro Stunde zwei Liter Steinspeichel produzieren. Und was haben Sie zu bieten? Abgesehen von Ihrer berühmten Visage, wegen der wir dauernd auffliegen?
Holly spähte hinunter in das Loch. »Okay, Partner. Gut gemacht. Köü«