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Nora Roberts: Die falsche Tochter
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Birthright bei
G. P. Putnam’s Sons, New York
Copyright © 2003 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Copyright © der deutschen Ausgabe by Ullstein Buchverlag GmbH,
Berlin 2004 / Marion von Schröder Verlag
Copyright © dieser Ausgabe 2012 by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, Garbsen
Umschlagmotiv: © plainpicture/Tine Butter
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Satz: Franzis print & media, München
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-09182-8
V002
www.diana-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Widmung
PROLOG
TEIL I - Die oberste Schicht
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
TEIL II - Die Ausgrabung
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
TEIL III - Der Fund
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Copyright

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von weit über 400 Millionen Exemplaren. Auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Zuletzt erschienen bei Diana Sommerflammen, Die Tochter des Magiers und Lockruf der Gefahr. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedysville/Maryland.

Epilog

Kurz nach Tagesanbruch betrat Callie das Wartezimmer der Ambulanz. Die Szene, die sie dort sah, wärmte ihr das Herz. Die Mitglieder des Teams hatten sich auf sämtliche verfügbaren Sitzgelegenheiten verteilt und schliefen. Callie traten die Tränen in die Augen, und sie war froh, dass keiner es sehen konnte. Diese Menschen waren ihr zu Hilfe gekommen, hatten ihr im schlimmsten Moment ihres Lebens zur Seite gestanden.

Leise trat sie zu Lana und rüttelte sie sanft an der Schulter.

»Was? Oh Gott!« Lana fuhr sich durch die Haare. »Ich muss eingedöst sein. Wie geht es ihnen?«

»Es geht allen gut. Mein Vater und Jay können nach Hause gehen, meine Mutter und Suzanne wollen sie noch ein paar Stunden zur Beobachtung hier behalten. Doug und Roger sind noch bei Suzanne, aber sie kommen auch gleich.«

»Wie geht es dir?«

»Ich bin euch allen so dankbar, mehr, als ich sagen kann. Dir danke ich für alles, was du getan hast, bis hin zu den trockenen Sachen, die du geholt hast.«

»Kein Problem. Wir sind doch jetzt eine Familie — wahrscheinlich sogar in mehr als nur einer Hinsicht.«

Callie hockte sich hin. »Mein Bruder ist wirklich ein guter Mann, nicht wahr?«

»Ja. Er liebt dich sehr. Du hast hier« — Lana wies auf die schlafenden Gestalten — »eine Familie, deren Zusammensetzung sich von Zeit zu Zeit ändert. Und du hast deine andere Familie, die sich ebenfalls geändert hat.«

»Ich wusste gar nicht, dass es Suzanne war, die ich gerettet habe.« Callie schauderte bei der Erinnerung. Sie wusste, dass das Entsetzen sie noch lange Zeit begleiten würde. »Ich musste eine Entscheidung treffen und bin nach derjenigen getaucht, die am längsten unter Wasser war.«

»Sie wäre vielleicht gestorben, wenn du diese Entscheidung nicht getroffen hättest, also hast du das Richtige getan. Was macht deine Schulter?«

Callie bewegte sie vorsichtig. »Sie schmerzt. Es hört sich immer so harmlos an, wenn es heißt, es sei nur eine Fleischwunde, aber wenn es sich um dein eigenes Fleisch handelt, bekommt es eine völlig andere Dimension. Nimmst du Roger und Doug mit nach Hause? Doug ist völlig erschöpft, und Roger ist für die ganze Aufregung eigentlich schon zu alt. Jay wird so lange hier bleiben, bis Suzanne entlassen wird. Ich glaube, zwischen den beiden bahnt sich wieder etwas an.«

»Das wäre doch nett, oder?«

»Ja, das finde ich auch. Lana, du musst sie davon überzeugen, dass jetzt alles in Ordnung ist.«

»Da ja wirklich alles in Ordnung ist, wird das kein Problem sein. Die Polizei hat Dory und Richard, und es gibt keine Geheimnisse mehr.«

»Wenn das Ganze an die Öffentlichkeit dringt, werden bestimmt noch andere Familien mit einer überraschenden Vergangenheit konfrontiert werden.«

»Ja. Manche werden bestimmt Nachforschungen anstellen, aber andere wollen vielleicht lieber die Vergangenheit ruhen lassen. Du hast für dich das Richtige getan, und dadurch hast du verhindert, dass diese schlimmen Geschäfte weitergeführt werden. Das sollte dir jetzt reichen, Callie.«

»Der Hauptverantwortliche ist nie bestraft worden.«

»Und das sagst du, bei deinem Beruf? Glaubst du wirklich, dass am Ende nur noch Knochen von einem Menschen übrig bleiben?«

Lana blickte auf ihre Hand, auf den Finger, an dem sie den Ehering getragen hatte. Sie hatte ihn abgezogen und voller Liebe weggelegt. Und dabei hatte sie gespürt, dass Steve ihr zuschaute.

»Das ist keineswegs so«, fuhr sie fort.

Callie dachte daran, wie oft sie schon bei der Arbeit gemeint hatte, das Gewisper der Toten zu hören. »Dann kann ich mich also damit trösten, dass Marcus Carlyle in der Hölle brät, wenn es denn eine Hölle gibt?« Sie dachte einen Moment lang darüber nach. »Ich glaube, damit kann ich leben«, sagte sie dann grinsend.

»Fahr du auch nach Hause.« Lana tätschelte ihr den Arm. »Nimm deine Familie hier mit und fahr nach Hause.«

»Ja. Gute Idee.«

Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis sich alle vor dem Krankenhaus versammelt hatten, weil jeder noch einmal schnell bei Rosie vorbeischauen wollte, obwohl sie am selben Tag entlassen werden sollte.

Auf der Heimfahrt hielt Callie die Augen geschlossen. »Ich habe dir viel zu sagen«, kündigte sie Jake an, »aber im Moment kann ich noch nicht klar denken.«

»Wir haben viel Zeit.«

»Du hast mir so sehr geholfen, in jeder Beziehung. Ich möchte dir gerne sagen, dass ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen konnte. Ich hatte solche Angst da draußen am Teich. Aber ich sagte mir, dass du hinter mir stehst, und das gab mir Mut.«

»Sie hat auf dich geschossen.«

»Okay, du hättest dreißig Sekunden früher da sein können, aber das mache ich dir nicht zum Vorwurf. Du hast mir das Leben gerettet. Du warst da, als ich dich brauchte. Das werde ich dir nie vergessen.«

»Na ja, warten wir mal ab.«

Während der Fahrt fielen Callie die Augen zu, und sie öffnete sie erst wieder, als der Wagen plötzlich hielt. Blinzelnd blickte sie auf das Grabungsfeld. »Was zum Teufel tun wir hier? Verdammt, Jake, das ist bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt zum Arbeiten.«

»Nein, aber es ist wichtig, dass du diesen Ort in guter Erinnerung behältst. Komm mit mir, Cal.«

Er stieg aus und wartete auf sie. Dann nahm er ihre Hand und ging mit ihr zum Tor.

»Glaubst du, ich bin jetzt nervös bei der Ausgrabung und traue mich nicht mehr ans Wasser?«

»Es kann ja nichts schaden, wenn du dir alles noch mal ansiehst.« Er öffnete das Tor. »Du schaffst das schon.«

»Ja, bestimmt. Es ist wirklich ein schöner Ort. Das werde ich nie vergessen.«

»Ich muss dir auch einiges sagen, und ich kann klar denken.«

»Okay.«

»Ich möchte dich wiederhaben, Callie. Mit allem Drum und Dran.«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Ja?«

»Ich möchte wieder mit dir zusammenleben, so wie früher. Nur besser.« Er schob ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich will nicht, dass wir uns jemals wieder trennen. Als ich den Schuss hörte und sah, wie du in den Teich sprangst, dachte ich, das wäre das Ende.« Er schwieg und wandte sich ab. »Das wäre das Ende«, wiederholte er. »Ich kann nicht mehr warten, Cal. Ich will keine Zeit mehr verschwenden.« Grimmig verzog er das Gesicht. Im ersten Licht des Tages wirkten seine Augen ganz dunkel. »Vielleicht habe ich ja auch einiges vermasselt.«

»Vielleicht?«

»Du aber auch.«

Sie zeigte ihre Grübchen. »Vielleicht.«

»Du sollst mich wieder so lieben, wie du es getan hast, bevor uns alles entglitten ist.«

»Das ist Blödsinn, Graystone.«

»Und wenn schon.« Er wollte sie an den Schultern packen, aber dann fiel ihm ihre Schusswunde ein, und er trat einfach nur vor sie. »Ich habe deine Liebe nicht so erwidert, wie du es brauchtest. Aber dieses Mal will ich alles richtig machen.«

»Es ist Blödsinn, weil ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, du dummer großer Kerl. Nein, das werde ich nicht tun.« Sie schlug ihm vor die Brust, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. »Dieses Mal fragst du zuerst.«

»Was soll ich fragen?«

»Du weißt ganz genau, was ich meine. Wenn du mich zurückhaben willst, dann mach es auch richtig. Sink auf die Knie und frag mich.«

»Ich soll mich hinknien?« Er blickte sie entsetzt an. »Ich soll vor dir im Staub kriechen und dich anbetteln?«

»Ja, genau. Knie dich hin, Graystone, oder ich gehe.«

»Du meine Güte!« Er drehte sich um, wobei er leise etwas vor sich hinmurmelte.

»Ich warte.«

»Schon gut, schon gut. Verdammt! Ich bereite mich nur seelisch darauf vor.«

»Auf mich ist heute Nacht geschossen worden.« Sie flatterte kokett mit den Wimpern, als er ihr einen Blick zuwarf. »Und ich wäre um ein Haar ertrunken. Fast wäre alles zu Ende gewesen«, fügte sie dramatisch hinzu. »Und irgendjemand verschwendet hier gerade reichlich Zeit.«

»Du hast schon immer mit schmutzigen Tricks gearbeitet.« Jake durchbohrte sie mit einem finsteren Blick und kniete sich hin.

»Jetzt musst du meine Hand nehmen und mich seelenvoll anschauen.«

»Ach, halt den Mund und lass mich mal machen. Ich komme mir vor wie ein Idiot. Willst du mich nun heiraten oder was?«

»So stellt man diese Frage nicht. Versuch es noch einmal.«

»Heilige Mutter Gottes!« Er stieß die Luft aus. »Callie, willst du mich heiraten?«

»Du hast noch nicht gesagt, dass du mich liebst. Und um aufzuholen, finde ich, solltest du es mindestens zehn Mal hintereinander sagen.«

»Du machst es mir wirklich schwer.« Jake seufzte. »Callie, ich liebe dich.« Ihr Lächeln löste den Knoten in seiner Brust. »Verdammt, ich habe dich von der ersten Minute an geliebt. Es hat mir eine Höllenangst eingejagt und mich wütend gemacht. Ich konnte nicht damit umgehen, weil es zum ersten Mal in meinem Leben eine Frau gab, die mich verletzen konnte, die mir mehr bedeutete, als ich ertragen konnte. Das hat mich wirklich stinksauer gemacht.«

Gerührt streichelte sie ihm über die Wange. »Okay, jetzt hast du dich genug im Staub gewälzt.«

»Nein, jetzt bringe ich das auch zu Ende. Also habe ich dich schnell in mein Bett geholt, weil ich dachte, dann nutzt es sich ab. Es war aber nicht so. Dann haben wir geheiratet, und ich habe erwartet, dass es sich dadurch erledigt. Das war aber auch nicht so. Und das …«

»… hat dich erst recht stinksauer gemacht.«

»Ganz richtig. Also habe ich angefangen, mich mit dir zu streiten. Und ich ging weg, weil ich mir so sicher war, dass du mir schon nachgelaufen kommst. Du kamst aber nicht. Ich werde nie wieder weggehen, Callie. Ich liebe dich, so, wie du bist. Auch wenn du mich wahnsinnig machst — ich liebe dich. Ich hole auf, was?«

»Ja.« Tränen verschleierten ihren Blick. »Du machst das gut. Ich werde auch nie wieder weggehen, Jake. Ich werde nicht mehr voraussetzen, dass du weißt, was ich empfinde oder denke. Ich werde es dir sagen. Ich werde dich fragen. Und wir werden schon einen Weg finden.«

Sie beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu küssen. Als er aufstehen wollte, hielt sie ihn zurück.

»Was ist jetzt noch?«

»Hast du einen Ring?«

»Machst du Witze?«

»Ein Ring wäre jetzt richtig. Aber du hast Glück, ich habe zufällig einen dabei.« Sie zog die Kette unter ihrer Bluse hervor, löste sie und ließ ihren früheren Ehering in seine Hand gleiten.

Er starrte sie aufgewühlt an. »Den kenne ich irgendwoher.«

»Ich habe die Kette erst abgenommen, als du plötzlich bei der Ausgrabung aufgetaucht bist. Ich habe Lana gebeten, sie mitzubringen, als sie vorhin die trockenen Kleider aus dem Haus geholt hat.«

Der Ring war noch warm von ihrem Körper, und wenn Jake nicht schon gekniet hätte, dann wäre er jetzt auf die Knie gesunken. »Du hast ihn die ganze Zeit bei dir getragen, als wir getrennt waren?«

»Ja. Ich bin eben sentimental.«

»Das ist ja ein Zufall.« Er zog ebenfalls eine Kette unter seinem Hemd hervor und zeigte ihr den anderen Ring. »Ich auch.«

Sie umschloss den Ring mit der Hand und zog ihn daran hoch. »Wir sind schon ein seltsames Paar.«

Er küsste sie. »Ich wollte mir beweisen, dass ich auch ohne dich leben konnte.«

»Dito.«

»Wir haben es beide bewiesen, aber mit dir bin ich um einiges glücklicher.«

»Ich auch. Oh Jake!« Trotz der Schmerzen in ihrer Schulter schlang sie ihm die Arme um den Hals. »Dieses Mal werden wir nicht in Vegas heiraten.«

»Hm?«

»Wir suchen uns einen schönen Ort aus und feiern eine richtige Hochzeit. Und wir kaufen uns ein Haus.«

»Ach ja?«

»Ich möchte eine Art Basislager. Wir kaufen uns irgendwo ein schönes Haus, in dem wir Wurzeln schlagen können.«

»Im Ernst?« Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen und ließ seine Stirn gegen ihre sinken. »Das will ich auch. Wo, ist mir egal — wir können ja einfach einen Punkt auf der Landkarte bestimmen. Aber ich will ein richtiges Heim. Callie, ich möchte Kinder.«

»Ich auch. Dieses Mal werden wir unseren eigenen Stamm gründen.« Sie atmete tief durch. »Wir werden einen Ort finden, der genauso gut ist wie dieser hier. Wir werden unser Zuhause finden.«

»Ich liebe dich.« Er küsste ihre Grübchen. »Ich werde dich glücklich machen.«

»Das machst du jetzt schon.«

»Und du liebst mich. Du bist verrückt nach mir.«

»Offensichtlich.«

»Das ist gut.« Er ergriff ihre Hand und schlenderte mit ihr zum Auto zurück. »Da ist nämlich noch etwas. Wegen der Hochzeit.«

»Keine Elvis-Imitatoren, kein Vegas. Dieses Mal nehmen wir es ernst.«

»Absolut ernst. Nur ist die Hochzeit irgendwie überflüssig, wir sind nämlich noch verheiratet.«

Callie blieb abrupt stehen. »Wie bitte?«

»Ich habe die Scheidungspapiere nie unterschrieben. Weißt du, du solltest hinter mir herlaufen, mich deswegen zur Rede stellen und sie mir in den Mund stopfen. So habe ich mir das zumindest vorgestellt.«

Callie starrte ihn mit offenem Mund an.

»Du hast sie nicht unterschrieben? Wir sind nicht geschieden?«

»Nein. Hier, steck dir den Ring wieder an.«

»Warte mal.« Sie legte die Hände auf den Rücken. »Und wenn ich jemand anders kennen gelernt hätte, den ich hätte heiraten wollen? Was wäre dann gewesen?«

»Ich hätte ihn umgebracht und die Leiche beiseite geschafft. Und dich hätte ich natürlich getröstet. Komm schon, Cal, lass dir den Ring an den Finger stecken. Ich möchte jetzt nach Hause fahren und mit meiner Frau schlafen.«

»Ach, du findest das wohl lustig, was?«

»Na ja.« Er grinste sie an. »Du etwa nicht?«

Sie verschränkte die Arme und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Doch er ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern grinste weiter.

Schließlich streckte sie lachend die Hand aus. »Du hast Glück, dass mein Sinn für Humor genauso schräg ist wie deiner.«

Er streifte ihr den Ring über, dann steckte er sich seinen ebenfalls an den Finger. Und als er sie auf den Arm nahm und durch das Tor trug, wie ein Bräutigam seine Braut über die Schwelle trägt, lachten sie beide. Callie blickte über seine Schulter zurück auf das Feld, auf die Vergangenheit, die noch darauf wartete, entdeckt zu werden. Sie würden sie ausgraben.

Alles, was es noch zu finden gab, würden sie finden. Gemeinsam.

1

Das Bauvorhaben am Antietam Creek wurde abrupt gestoppt, als die Schaufel von Billy Youngers Bagger den ersten Schädel zutage förderte.

Für Billy, der schwitzend und fluchend in seiner Baggerkabine gehockt hatte, war es eine unliebsame Überraschung. Ihm war es vollkommen egal, was mit dem Gelände geschehen sollte, und selbst in dieser grauenhaft feuchten Julihitze gefiel ihm nichts besser, als mit der Baggerschaufel in das Erdreich zu fahren und große Brocken herauszuholen. Ein Job war nun einmal ein Job, und Dolan bezahlte gut, fast so viel, dass es Bill für die ständigen Tiraden seiner Frau entschädigte.

Missy war entschieden gegen die Bebauung des Grundstücks und hatte Billy an diesem Morgen bereits mit schriller Stimme einen Vortrag gehalten, während er versucht hatte, sein Spiegelei und die Würstchen zu essen. Mit ihrem verfluchten Nörgeln hatte sie ihm regelrecht das Frühstück verdorben, dabei musste ein Mann doch etwas Anständiges im Magen haben, wenn er den Rest des Tages schuften sollte. Den ganzen Vormittag hatten ihm die wenigen Bissen, die er herunterbekommen hatte, wie ein Stein im Magen gelegen. Und als ihn jetzt aus der dunklen, fruchtbaren Erde ein schmutziger Schädel mit leeren Augenhöhlen angrinste, schrie der 233 Pfund schwere Billy entsetzt auf, sprang behände wie ein Tänzer von seiner Maschine herunter und rannte so schnell quer über die Baustelle davon, wie er in seinen besten Tagen auf der Highschool rund um den Sportplatz gerannt war.

Ihm war klar, dass ihn seine Kollegen gnadenlos mit dieser schreckhaften Reaktion aufziehen würden. Wahrscheinlich würde er am Ende seinem besten Freund die Nase blutig schlagen müssen, um zu beweisen, dass er trotz allem ein Mann war. Es dauerte eine Weile, bis Billy wieder zu Atem gekommen war und die ersten zusammenhängenden Sätze hervorbringen konnte. Er erstattete dem Vorarbeiter Bericht, der daraufhin sofort Ronald Dolan und den Bezirkssheriff informierte.

Als der Bezirkssheriff eintraf, hatten neugierige Arbeiter bereits weitere Knochen freigelegt. Der Sheriff ließ den Gerichtsmediziner holen, und schon bald tauchte auch ein Reporter von der Lokalzeitung auf, um Billy, Dolan und weitere Personen zu befragen. In Windeseile verbreiteten sich die ersten Gerüchte. Es war die Rede von Mord, von Massengräbern und Serienkillern, und als die Untersuchung abgeschlossen war und sich herausgestellt hatte, dass die Knochen sehr alt waren, wussten einige Leute nicht, ob sie erfreut oder enttäuscht sein sollten.

Für Dolan jedoch, der gegen Petitionen, Protestkundgebungen und Einwände gekämpft hatte, um das Bauprojekt auf dem fruchtbaren Ackerland durchzusetzen, spielte das Alter der Knochen keine Rolle. Allein die Tatsache, dass sie gefunden worden waren, war ihm ein Ärgernis.

Und als zwei Tage später Lana Campbell, eine Anwältin aus der Stadt, die es aufs Land verschlagen hatte, ihre Beine übereinander schlug und Dolan spöttisch anlächelte, musste er sehr an sich halten, um ihr nicht in ihr hübsches Gesicht zu springen.

»Die gerichtliche Verfügung ist glasklar«, erklärte Lana. Sie hatte am schärfsten gegen die Bebauung protestiert und jetzt allen Grund zum Lächeln.

»Sie brauchen keine gerichtliche Verfügung. Ich habe die Arbeiten ohnehin einstellen lassen und arbeite mit der Polizei und der Planungskommission zusammen.«

»Es ist nur eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. Die Bezirksplanungskommission gibt Ihnen sechzig Tage Zeit, um einen Bericht vorzulegen und sie davon zu überzeugen, dass Sie mit der Bebauung fortfahren können.«

»Ich kenne die Bestimmungen, Schätzchen. Meine Firma baut seit sechsundvierzig Jahren Häuser in dieser Gegend.«

Dolan nannte die Anwältin absichtlich »Schätzchen«, um sie zu ärgern, doch Lana grinste nur. »Die Umweltschutzorganisation und die historische Gesellschaft haben mich engagiert, ich tue nur meine Arbeit. Mitglieder der archäologischen und anthropologischen Fakultäten der Universität von Maryland wollen das Gelände besichtigen. In ihrem Namen bitte ich Sie um Erlaubnis, dass sie Proben mitnehmen und untersuchen dürfen.«

»Engagierte Anwältin, Vertreterin der Universität.« Dolan, ein kräftig gebauter Ire mit rötlichem Gesicht, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Sie haben viel zu tun.«

Er hakte die Daumen in seine roten Hosenträger, die er immer über einem blauen Arbeitshemd trug. Er betrachtete sie als Teil seiner Uniform, die ihn als Mitglied der arbeitenden Klasse auswies, ohne die seine Stadt und das ganze Land nicht zu dem geworden wären, was sie waren. Wie auch immer sein Bankkonto aussehen mochte – und er kannte den Betrag bis auf den Penny genau –, er brauchte keine vornehmen Kleider oder schicke Autos, um etwas darzustellen. Im Unterschied zu der hübschen Anwältin aus der Stadt war er in Woodsboro geboren und aufgewachsen. Und niemand, weder sie noch sonst irgendjemand, musste ihm sagen, was seine Gemeinde brauchte. Er wusste besser als die meisten anderen Leute, was für Woodsboro gut war. Er war ein Mann, der nach vorn blickte und sich um seine Zukunft kümmerte.

»Wir haben beide viel zu tun, deshalb komme ich gleich auf den Punkt.« Lana war entschlossen, das siegessichere Grinsen von Dolans Gesicht zu wischen. »Sie können mit den Bauarbeiten erst fortfahren, wenn das Gelände vom Bezirk überprüft und freigegeben worden ist. Dazu müssen Proben entnommen werden. Falls Kunstgegenstände ausgegraben werden, nützen sie Ihnen sowieso nichts. Wenn Sie sich in dieser Angelegenheit kooperativ verhalten, können unsere PR-Probleme dadurch beigelegt werden.«

»Für mich sind es keine Probleme.« Dolan hob seine großen Arbeiterhände. »Menschen brauchen Häuser. Die Gemeinde braucht Jobs. Das Bauvorhaben am Antietam Creek schafft beides. So etwas nennt man Fortschritt.«

»Dreißig neue Häuser. Mehr Verkehr auf Straßen, die nicht dafür ausgelegt sind, Schulen, die bereits jetzt überfüllt sind, der Verlust von Freiflächen und Ackerland.«

Das »Schätzchen« hatte Lana nicht erschüttern können, doch jetzt spürte sie den alten Ärger wieder in sich aufsteigen. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Die Gemeinde hat sich gegen das Bauprojekt gewehrt. So etwas nennt man Verlust von Lebensqualität. Aber das ist ein anderes Thema«, fügte sie hinzu, bevor er etwas erwidern konnte. »Bis die Knochen überprüft worden sind, arbeiten Sie nicht weiter.« Sie tippte mit dem Finger auf die gerichtliche Verfügung. »Sie werden diesen Prozess sicher beschleunigen wollen, indem Sie die Tests bezahlen, nicht wahr? Radiokarbonmethode.«

»Bezahlen …«

Na, dachte sie, wer ist jetzt der Sieger? »Das Land gehört Ihnen, und damit gehören Ihnen auch die Fundstücke.« Lana hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »Sie wissen, dass wir Sie mit Gerichtsbeschlüssen und einstweiligen Verfügungen überschütten werden, bis das alles geklärt ist. Bezahlen Sie die zwei Dollar, Mr Dolan«, erklärte sie und stand auf. »Ihre Anwälte werden Ihnen das Gleiche raten.«

Lana wartete, bis sie Dolans Bürotür hinter sich geschlossen hatte. Erst dann ließ sie es zu, dass sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie trat aus dem Gebäude und atmete die schwüle Sommerluft ein, während sie die Hauptstraße von Woodsboro entlangblickte. Beinahe wäre Lana wie eine Zehnjährige über den Gehweg gehüpft. Dies war jetzt ihre Stadt, ihr Zuhause. Sie hatte es schon so empfunden, als sie vor zwei Jahren von Baltimore nach Woodsboro gezogen war. Sie mochte diese kleine Stadt voller Tradition und Geschichte im Schatten der fernen Blue Ridge Mountains, die so weit vom großstädtischen Treiben Baltimores entfernt war.

Lana war in der Großstadt geboren und aufgewachsen und hatte sich mit der Entscheidung, nach Woodsboro zu ziehen, sehr schwer getan. Aber nachdem sie ihren Mann verloren hatte, konnte sie Baltimore, wo sie so viel an ihn erinnerte, nicht mehr ertragen. Steves Tod hatte sie völlig aus der Bahn geworfen, und es dauerte fast sechs Monate, bis sie die Trauer einigermaßen überwunden hatte und sich erneut dem Leben stellen konnte. Doch sie vermisste Steve noch immer schmerzlich. Er hatte eine große Lücke hinterlassen, die noch nicht wieder geschlossen war. Aber Lana musste funktionieren, schließlich hatte sie Tyler. Ihr Baby, ihren Jungen, ihren kleinen Schatz. Sie konnte ihm seinen Daddy nicht zurückbringen, aber sie konnte dafür sorgen, dass er eine schöne Kindheit hatte. In Woodsboro hatte Ty genug Platz zum Toben, er hatte einen Hund, Nachbarn und Freunde – und eine Mutter, die alles Menschenmögliche tat, um ihn sicher und glücklich aufwachsen zu lassen.

Im Gehen blickte Lana auf ihre Armbanduhr. Heute war Ty nach der Vorschule mit zu seinem Freund Brock gegangen. In einer Stunde würde sie bei Jo, Brocks Mutter, anrufen, um zu hören, ob alles in Ordnung war. An der Kreuzung blieb Lana stehen und wartete darauf, dass die Ampel grün wurde. Es herrschte nicht viel Verkehr, schließlich war Woodsboro eine Kleinstadt.

Lana sah allerdings nicht aus, als lebte sie in einer Kleinstadt. Ihre Garderobe stammte aus jenen Zeiten, als sie noch eine aufstrebende Anwältin in einer großen Kanzlei in der Stadt gewesen war. Jetzt hatte sie ihr Büro in einem Nest auf dem Land, das noch nicht einmal viertausend Einwohner hatte, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie sich nicht weiterhin wie eine erfolgreiche Frau kleiden konnte. An diesem Tag trug sie einen hellblauen Anzug aus kühlem Leinen. Der klassische Schnitt betonte ihre zarte Gestalt. Die blonden Haare, die zu einem Bob geschnitten waren, umrahmten ihr hübsches, jugendliches Gesicht. Lana hatte runde, blaue Augen, weshalb sie irrtümlicherweise oft für arglos gehalten wurde, eine Stupsnase und einen großzügig geschwungenen Mund.

Als sie den »Treasured Pages«-Laden betrat, strahlte sie den Mann hinter der Theke an und tanzte einen kleinen Siegestanz. Roger Grogan nahm seine Lesebrille ab und zog die buschigen, weißen Augenbrauen hoch. Er war ein schlanker, agiler Mann von fünfundsiebzig, bei dessen Anblick Lana immer an einen verschmitzten Kobold denken musste. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd, und seine dichten, silberweißen Haare standen ihm wirr und ungezähmt vom Kopf ab.

»Du siehst ziemlich zufrieden aus«, sagte er. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. »Hast du Ron Dolan getroffen?«

»Ich komme gerade von ihm.« Lana wirbelte noch einmal um die eigene Achse und lehnte sich dann an die Theke. »Du hättest mitkommen sollen, Roger, nur um sein Gesicht zu sehen.«

»Du springst zu hart mit ihm um.« Roger tippte mit der Fingerspitze auf Lanas Nase. »Er tut nur das, was er für richtig hält.«

Als Lana den Kopf schief legte und Roger kühl anblickte, lachte er. »Ich sage ja gar nicht, dass ich einer Meinung mit ihm bin. Der Junge ist ein Dickkopf, genau wie sein alter Herr. Er besitzt nicht genug Verstand, um sein Vorhaben noch einmal zu überdenken, obwohl er sieht, dass es in der Stadt zwei verschiedene Lager gibt.«

»Jetzt wird er es noch mal überdenken müssen«, erklärte Lana. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis die ausführliche Untersuchung der Knochen abgeschlossen ist. Und wenn wir Glück haben, sind sie alt genug, um eine Menge Aufmerksamkeit zu erregen – nationale Aufmerksamkeit. Wir können das Bauvorhaben monatelang verzögern, vielleicht sogar Jahre.«

»Dolan ist genauso stur wie du. Du hast ihn doch schon monatelang aufgehalten.«

»Er behauptet, das Bauprojekt bedeute Fortschritt für Woodsboro«, murmelte sie.

»Damit steht er nicht allein.«

»Allein oder nicht – es stimmt nun einmal nicht. Man kann Häuser nicht wie Mais pflanzen. Unsere Untersuchungen zeigen …«

Roger hob abwehrend die Hände. »Das brauchst du mir nicht zu erzählen.«

»Ich weiß.« Lana stieß die Luft aus. »Nach der archäologischen Auswertung werden wir mehr wissen. Ich kann es kaum abwarten. Und je länger das Bauvorhaben aufgehalten wird, desto mehr Geld verliert Dolan. Dafür haben wir umso mehr Zeit, Geld zusammenzubekommen. Vielleicht überlegt er sich ja doch noch, das Gelände an die Umweltschutzorganisation zu verkaufen.«

Sie schob sich die Haare aus der Stirn. »Lässt du dich von mir zum Mittagessen einladen? Wir können den Etappensieg feiern.«

»Warum lässt du dich nicht von einem jungen, gut aussehenden Mann zum Mittagessen einladen?«

»Weil ich mein Herz an dich verloren habe, Roger, vom ersten Moment an.« Das war noch nicht einmal besonders weit von der Wahrheit entfernt. »Weißt du was, vergessen wir das Mittagessen. Wir hauen einfach zusammen nach Aruba ab.«

Roger schmunzelte. Er hatte seine Frau im gleichen Jahr verloren wie Lana ihren Mann, und er fragte sich oft, ob das wohl der Grund war, warum so schnell eine tiefe Bindung zwischen ihnen entstanden war. Roger bewunderte Lanas scharfen Verstand, ihren Eigensinn, ihre tiefe Liebe zu ihrem Sohn. Manchmal ging ihm durch den Kopf, dass er irgendwo eine Enkeltochter in demselben Alter haben musste.

»Das würde aber die Gerüchteküche zum Kochen bringen, was?«, sagte er schließlich. »Das wäre der größte Skandal, seit man damals diesen Methodistenpfarrer mit der Chorleiterin erwischt hat. Aber leider muss ich Bücher katalogisieren, die gerade hereingekommen sind. Ich habe keine Zeit für Mittagessen oder tropische Inseln.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine neue Lieferung bekommen hast. Gehört das dazu?« Lana nahm ein Buch in die Hand, und als er nickte, drehte sie es vorsichtig um.

Roger handelte mit seltenen Büchern, und sein winziger Laden glich einer kleinen Kathedrale. Es roch nach altem Leder, altem Papier und nach Old Spice, jenem Rasierwasser, das Roger jetzt schon seit sechzig Jahren benutzte. Ein Antiquariat war nicht gerade die Art von Laden, die man in einem Ort wie Woodsboro erwartete, aber Lana wusste, dass Rogers Kunden – wie seine Bücher – von weither kamen.

»Es ist wunderschön.« Sie fuhr mit dem Finger über den Ledereinband. »Woher stammt es?«

»Aus einem Besitz in Chicago.« In diesem Moment ertönte hinten aus dem Laden ein Geräusch. »Aber es ist mit etwas noch Wertvollerem gekommen.«

Lana sah, wie sich Rogers Gesicht vor Freude erhellte, und drehte sich um. In der Tür, die vom Laden zu der Wohnung im ersten Stock führte, stand ein junger Mann.

Er hatte ein markantes Gesicht, und seine dichten Haare, die bis zum Hemdkragen reichten, waren tiefbraun mit goldenen Lichtern darin. Die Augen waren ebenfalls dunkelbraun und wirkten im Moment ein wenig verdrießlich, ebenso wie der Mund des Mannes. Klug und eigensinnig, dachte Lana als Erstes. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass Roger seinen Enkel oft so beschrieben hatte. Die Tatsache, dass er so aussah, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen und habe sich im letzten Moment noch eine Jeans angezogen, ließ ihn sexy wirken, und zum ersten Mal seit langem verspürte Lana ein gewisses Ziehen in der Magengegend.

»Doug!« Stolz und Liebe schwangen in Rogers Stimme mit. »Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich herunterkommst. Das nenne ich perfektes Timing – gerade ist auch Lana gekommen. Ich habe dir ja schon von ihr erzählt. Lana Campbell, mein Enkel, Doug Cullen.«

»Nett, Sie kennen zu lernen.« Sie reichte ihm die Hand. »Seit ich nach Woodsboro gezogen bin, haben wir uns immer verpasst, wenn Sie zufällig mal zu Hause waren.«

Er schüttelte ihr die Hand und musterte sie neugierig. »Sie sind also die Anwältin.«

»So ist es. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um Ihrem Großvater die Neuigkeiten über das Dolan-Bauprojekt zu erzählen. Wie lange bleiben Sie?«

»Ich weiß noch nicht genau.«

»Sie reisen sicher viel, wenn Sie antiquarische Bücher kaufen und verkaufen. Das muss faszinierend sein.«

»Mir gefällt es.«

»Ich wüsste gar nicht, was ich ohne Doug machen sollte«, warf Roger ein. »Schließlich kann ich nicht mehr so durch die Gegend fahren wie früher. Er hat ein Händchen fürs Geschäft, den richtigen Instinkt sozusagen. Wenn er nicht ständig für mich unterwegs wäre, hätte ich mich schon längst zur Ruhe setzen können – und würde mich wahrscheinlich zu Tode langweilen.«

»Es muss sehr befriedigend sein, wenn man die gleichen Interessen hat und das Familienunternehmen gemeinsam führen kann.« Da Douglas von dieser Unterhaltung offenbar gelangweilt war, wandte sich Lana an seinen Großvater: »Nun, Roger, da du mir einen Korb gegeben hast, mache ich mich wohl wieder an die Arbeit. Sehen wir uns morgen Abend bei der Versammlung?«

»Ja, sicher.«

»Es war nett, Sie kennen zu lernen, Doug.«

»Ja. Bis dann.«

Als Lana die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieß Roger einen schweren Seufzer aus. »Bis dann? Fällt dir nichts Besseres ein, wenn du mit einer hübschen Frau redest? Du brichst mir das Herz, Junge.«

»Ich hatte noch keinen Kaffee, und ohne Kaffee kann ich nicht klar denken. Ich bin ja schon froh, wenn ich überhaupt einen einfachen Satz herausbringe.«

»Im Hinterzimmer steht eine Kanne Kaffee«, erwiderte Roger kopfschüttelnd und wies mit dem Daumen in die Richtung. »Das Mädchen ist klug, hübsch, interessant, und«, rief er Doug hinterher, »sie ist zu haben.«

»Ich bin nicht auf der Suche nach einer Frau.«

Der verlockende Duft des Kaffees stieg Doug in die Nase. Er schenkte sich eine Tasse ein und verbrannte sich prompt die Zunge, als er daran nippte.

Er trank noch einen Schluck und blickte dabei seinen Großvater an. »Sie ist ganz schön elegant für Woodsboro.«

»Ich dachte, du hättest gar nicht hingeschaut.«

Doug grinste und sah auf einmal gar nicht mehr so verdrießlich aus. »Sehen und hinschauen ist nicht dasselbe.«

»Sie weiß sich eben zu kleiden. Das bedeutet noch lange nicht, dass sie eingebildet ist.«

»Ich habe es nicht als Beleidigung gemeint«, erwiderte Douglas amüsiert über den brummigen Tonfall seines Großvaters. »Ich wusste ja nicht, dass sie deine Freundin ist.«

»Wenn ich in deinem Alter wäre, wäre sie es bestimmt.«

»Ach, Grandpa!« Vom Kaffee wiederbelebt schlang Douglas Roger den Arm um die Schultern. »Das Alter ist doch völlig unwichtig. Ist es okay, wenn ich mit dem Kaffee nach oben gehe? Ich muss noch aufräumen und will dann Mom besuchen.«

»Ja, ja, bis dann.« Roger wedelte ungeduldig mit der Hand. »Jämmerlich«, murmelte er, als Doug den Laden verlassen hatte.

 

Callie Dunbrook trank den letzten Schluck aus ihrer Dose Diät-Pepsi, während sie sich durch den Verkehr von Baltimore kämpfte. Sie war zu spät losgefahren, um rechtzeitig in Philadelphia zu sein, wo sie ein dreimonatiges Sabbatical antreten sollte. Als sie der Anruf mit der Bitte um eine Konsultation erreicht hatte, hatte sie weder an die Uhrzeit noch an den üblichen Wahnsinn auf dem Baltimore Beltway um Viertel nach vier an einem Mittwochnachmittag gedacht. Sie hupte und zwängte ihren geliebten alten Landrover in eine Lücke, die eher für ein Spielzeugauto geeignet gewesen wäre. Die finstere Miene des Fahrers, den sie schnitt, bekümmerte sie nicht im Geringsten. Seit sieben Wochen war sie nicht mehr draußen gewesen, und die Aussicht auf die bevorstehende Feldforschung beflügelte sie so sehr, dass sie ihren Wagen rücksichtslos durch den Verkehr lenkte.

Sie kannte Leo Greenbaum gut und hatte seiner Stimme angehört, wie aufgeregt er war. Er war definitiv nicht der Mann, der sie nach Baltimore holte, um ihr ein paar Knochen zu zeigen, wenn diese Knochen nicht sehr interessant waren. Callie brauchte weiß Gott ein weiteres Projekt. Es langweilte sie zu Tode, Vorträge zu halten, Berichte für Magazine zu schreiben oder Berichte zu lesen, die ihre Kollegen für die gleichen Magazine geschrieben hatten. Archäologie hatte für Callie nichts mit Unterrichten oder Veröffentlichungen zu tun. Für sie lag der Reiz dieses Berufes darin, dass sie in der Erde wühlen konnte, in der Sonne braten, im Regen ertrinken, im Schlamm versinken und bei lebendigem Leib von Insekten aufgefressen werden. Das war für sie der Himmel.

Als die Nachrichten aus dem Autoradio tönten, schaltete sie den CD-Player ein. Diesen starken Autoverkehr konnte sie nur mit lauter, harter Rockmusik ertragen – zu viel Gerede störte sie nur. Die ersten Klänge eines Songs von Metallica ertönten, und sofort hob sich ihre Stimmung. Sie tippte im Takt mit den Fingern auf das Lenkrad, dann riss sie es herum und scherte erneut in eine Lücke auf der Nebenspur ein. Ihre goldbraunen Augen funkelten hinter der Sonnenbrille.

Callie trug ihre Haare lang, weil sie sie so leichter zusammenbinden oder unter einem Hut aufstecken konnte, wie sie es auch an diesem Tag getan hatte. So brauchte sie sich keine Gedanken über den Schnitt oder die Frisur zu machen. Außerdem war sie eitel genug, um zu wissen, dass ihr die glatten langen honigblonden Haare gut standen. Sie hatte große Augen mit Brauen, die fast gerade waren. Jetzt, mit beinahe dreißig, wirkte ihr Gesicht nicht mehr so niedlich wie früher, aber sehr attraktiv. Wenn sie lächelte, entstanden drei Grübchen auf ihrem Gesicht, eins auf jeder gebräunten Wange und das dritte genau über dem rechten Mundwinkel. Das sanft geschwungene Kinn verriet nichts von jener Eigenschaft, die ihr Ex-Mann als grenzenlose Sturheit bezeichnet hatte. Allerdings konnte sie dasselbe von ihm behaupten, was sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit tat.

Callie tippte leicht auf die Bremse und bog schwungvoll auf einen Parkplatz ein. Leonard G. Greenbaum and Associates war in einem schmucklosen Stahlgebäude mit zehn Stockwerken untergebracht, das nach Callies Meinung keinen besonderen ästhetischen Wert hatte. Aber das Labor und die Techniker der Firma gehörten zu den besten im ganzen Land. Callie parkte den Landrover auf dem Besucherparkplatz ein und stieg aus. Sofort umfing sie die grauenhaft schwüle Hitze des Tages, und ihre Füße schwitzten bereits, bevor sie bis zum Eingang des Gebäudes gelangt war.

Die Empfangsdame lächelte die Frau mit dem athletischen Körper, dem hässlichen Strohhut und der schicken Sonnenbrille freundlich an.

»Dr. Dunbrook für Dr. Greenbaum.«

»Tragen Sie sich bitte hier ein.«

Die Frau reichte Callie einen Besucherausweis. »Dritter Stock.«

Als sie zu den Aufzügen ging, blickte Callie auf ihre Armbanduhr. Sie war nur eine Dreiviertelstunde zu spät. Aber die Wirkung des Hamburgers, den sie während der Fahrt hinuntergeschlungen hatte, ließ bereits langsam nach. Sie überlegte, ob sie Leo wohl dazu überreden konnte, mit ihr zum Mittagessen zu gehen. Im dritten Stock traf sie auf eine weitere Empfangsdame. Dieses Mal wurde sie gebeten, sich einen Moment zu gedulden. Es machte ihr nichts aus zu warten. Nun ja, jedenfalls weniger als früher, gestand Callie sich ein, als sie sich auf einen Stuhl sinken ließ. Aber ihre Arbeit erforderte nun einmal äußerste Geduld, sodass für andere Bereiche nicht mehr viel davon übrig blieb.

Zum Glück ließ Leo sie nicht lange warten. Sein rascher Gang erinnerte Callie immer an einen Welsh Corgi – Leo hatte kurze, stämmige Beine, die sich für den Rest des Körpers viel zu schnell bewegten. Er war kleiner als Callie und hatte braune Augen und walnussbraun getöntes Haar, das er glatt zurückgekämmt trug. Sein schmales Gesicht war wettergegerbt und sonnengebräunt, und seine braunen Augen blitzten hinter einer randlosen eckigen Brille. Wie gewöhnlich trug er eine ausgebeulte braune Hose und ein zerknittertes Baumwollhemd. Aus sämtlichen Taschen lugten irgendwelche Papiere hervor. Er trat auf Callie zu und küsste sie – er war der einzige, nicht mit ihr verwandte Mann, dem sie es erlaubte.

»Du siehst gut aus, Blondie.«

»Du siehst auch nicht gerade schlecht aus.«

»Wie war die Fahrt?«

»Grauenhaft. Hoffentlich hat es sich gelohnt, Leo.«

»Oh, ich glaube schon. Wie geht es deiner Familie?«, fragte er, während sie den Flur entlanggingen.

»Sehr gut. Mom und Dad kommen endlich mal für ein paar Wochen aus Dodge heraus und wollen Maine unsicher machen. Wie geht es Clara?«

Bei dem Gedanken an seine Frau schüttelte Leo den Kopf. »Sie hat angefangen zu töpfern. Du kannst dich schon einmal auf eine sehr hässliche Vase als Weihnachtsgeschenk einstellen.«

»Und die Kinder?«

»Ben spielt mit Aktien und Fonds herum und Melissa versucht, Mutterschaft und Zahnarztpraxis unter einen Hut zu bringen. Wie ist so ein alter Goldgräber wie ich nur an so normale Kinder gekommen?«

»Das liegt nur an Clara«, erklärte Callie.

Leo öffnete eine Tür und ließ sie eintreten.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass er mit ihr in eines der Labors gehen würde, aber stattdessen fand sie sich in seinem sonnigen, gut eingerichteten Büro wieder. »Ich hatte ganz vergessen, wie schick dein Büro ist, Leo«, sagte sie. »Verspürst du nicht trotzdem manchmal den brennenden Wunsch, wieder aufs Feld zu gehen und zu graben?«

»Oh, ab und zu überkommt es mich schon. Für gewöhnlich lege ich mich dann ein bisschen hin und warte, bis der Anfall vorbei ist. Aber dieses Mal … Komm, sieh dir das mal an.«

Er trat hinter seinen Schreibtisch, schloss eine Schublade auf und nahm eine versiegelte Plastiktüte mit einem Knochenfragment heraus.

Callie hängte ihre Sonnenbrille mit einem Bügel in den Ausschnitt ihres T-Shirts, nahm die Tüte entgegen und musterte das Knochenstück. »Sieht aus wie der Teil eines Schienbeins. Der Größe und Beschaffenheit nach zu urteilen, stammt es wahrscheinlich von einer jungen Frau. Sehr gut erhalten.«

»Was schätzt du, wie alt er ist?«

»Es stammt aus dem westlichen Maryland, nicht wahr? Aus der Nähe eines Baches. Du weißt doch, dass ich nicht gerne schätze. Hast du Erdproben und den stratigraphischen Bericht?«

»Ach komm, Blondie, du sollst es ja nur ungefähr schätzen.«

»Du liebe Güte!« Stirnrunzelnd drehte Callie die Tüte um. Sie hätte den Knochen gerne angefasst. Ungeduldig wippte sie mit dem Fuß. »Ich kenne den Boden nicht. Von der rein visuellen Schätzung her würde ich sagen, er ist ungefähr drei- bis fünfhundert Jahre alt. Könnte auch älter sein, je nach den Schlammablagerungen und dem Grundwasser.«

Als sie den Knochen erneut umdrehte, meldete sich ihr Instinkt. »In der Gegend hat doch der Bürgerkrieg getobt, oder? Aber der Knochen ist älter. Er stammt nicht von einem Soldaten der Rebellen.«

»Er ist allerdings älter, als du glaubst«, stimmte Leo zu. »Um ungefähr fünftausend Jahre.«

Callie blickte überrascht auf und sah, dass Leo sie angrinste. »Bestimmt mit der Radiokarbonmethode«, sagte er und reichte ihr eine Aktenmappe.

Sie überflog die Seiten, wobei sie feststellte, dass Leo den Test zwei Mal mit drei verschiedenen Geländeproben hatte machen lassen.

Als sie den Kopf wieder hob, grinste sie genauso breit wie er. »Heiße Sache«, sagte sie.