Über dieses Buch

Cover

Ein einsamer Vater rollt seinen Schlafsack jede Nacht in einer anderen Wohnung aus. Eine Witwe findet in einem Koffer das zweite Leben ihres verstorbenen Mannes. Eine Ehefrau spürt das beruhigende Gewicht des Revolvers in ihrer Handtasche.

Beziehungen, Geheimnisse, Abgründe und gewöhnlich seltsame Menschen, denen das Leben eine Falle stellt.

Claudia Piñeiro

Claudia Piñeiro (*1960) ist der Shootingstar der argentinischen Literatur. Nach dem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin, schrieb Theaterstücke und führte Regie fürs Fernsehen. 2005 erhielt sie den Premio Clarín; 2010 wurde sie mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet.

Peter Kultzen

Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Englische Broschur, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Claudia Piñeiro

Wer nicht?

Erzählungen

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2018 im Verlag Alfaguara, Buenos Aires.

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: Quién no

© Claudia Piñeiro, 2018
c/o Schavelzon Graham Agencia Literaria
www.schavelzongraham.com

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31048-3

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Version vom 22.06.2021, 19:04h

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Für alle, die imstande sind,
sich in andere hineinzuversetzen, ob sie nun
seltsam sind oder nicht

Bei Papa

Wäre heute kein besonderer Tag, würde Julián einfach einen Schlüsselbund aus dem Kasten im Maklerbüro nehmen, den Kasten abschließen, das Rollo runterlassen, das Licht ausschalten und rausgehen. So wie jeden Abend, seit er sich vor fünf Monaten von Silvia getrennt hat. Bei sich hätte er bloß die Sporttasche von dem Verein Estudiantes de La Plata, angeblich, um zum Training zu gehen – in Wirklichkeit stecken seine nötigsten paar Sachen darin. Aber heute hat sein Sohn Tomás Geburtstag, und Silvia hat verfügt, dass sein Großer aus diesem Anlass zum ersten Mal seit der Trennung bei ihm übernachten soll. Genauer gesagt werden beide Kinder bei ihm übernachten, Tomás und Anita. Da hat Silvia nicht mit sich reden lassen. Und ihm ist anders als sonst keine Ausrede eingefallen, um das Thema seiner neuen Adresse zu umschiffen. Selbst die Tatsache, dass Silvia, und nicht er, die Ehe seinerzeit für beendet erklärt hatte – bislang bei allen Auseinandersetzungen ein argumentativer Vorteil –, schien auf einmal bedeutungslos. Seit sie eines Tages zu ihm gesagt hatte, »ich möchte, dass du gehst«, drehte er sich orientierungslos im Kreis, unfähig zu begreifen, warum auf einmal aufgelöst werden sollte, was sie fünfzehn Jahre lang gemeinsam aufgebaut hatten. Hatten sie es gemeinsam aufgebaut? Und was genau hatten sie aufgebaut? Er wusste keine Antwort. Er begreift es bis heute nicht, dafür hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, Silvias Gründe für den Hinauswurf könnten sich irgendwann von selbst erledigen. Egal was, selbst wenn ein anderer Mann der Grund war. Eben deshalb hat Julián die Wohnungsfrage bis heute nicht gelöst. Auch fünf Monate nach ihrer Trennung hat er nicht das Gefühl, getrennt zu sein. Ja, er war sogar davon ausgegangen, dass sie Tomás’ Geburtstag zusammen feiern würden, er, Silvia und die Kinder, zu Hause, in ihrem gemeinsamen Zuhause. Er hatte sich gesagt, dass das die ideale Gelegenheit sein würde, um wieder zusammenzufinden. Silvia schien sich jedoch genau das Gegenteil gesagt zu haben. Was sie auch unmissverständlich zum Ausdruck brachte, in Anwesenheit der Kinder und bevor er sich selbst dazu äußern konnte. Wahrscheinlich wollte sie ihm keine andere Wahl lassen: »Heute schlaft ihr bei Papa.« Sie wusste ja nicht, dass es so was wie »bei Papa« nicht gibt. Dass er vielmehr Abend für Abend einen Schlüsselbund aus dem Kasten im Maklerbüro nimmt, um anschließend in ständig wechselnden Wohnungen seinen Schlafsack auszurollen.

Den Schlüsselkasten hat er vor Jahren selbst eingeführt, kurz nachdem er im Maklerbüro Rosetti zu arbeiten angefangen hatte. Damals hatte es bloß zwei Schachteln gegeben, eine für die Schlüssel von Mietwohnungen, die andere für die von Wohnungen, die zu verkaufen waren. Jeder Schlüsselbund war mit einem durchsichtigen Plastikanhänger mit dem Logo des Maklerbüros versehen. Durch einen kleinen Schlitz konnte man einen Zettel mit der Adresse der dazugehörigen Wohnung in den Anhänger schieben. Julián fand das nicht nur unpraktisch, sondern auch riskant. Wie unpraktisch es war, zeigte sich, wenn ein Mitarbeiter wieder einmal eine halbe Ewigkeit brauchte, bis er, oft unter den erstaunten und genervten Blicken der Kundschaft, den gesuchten Schlüssel in dem Durcheinander der jeweiligen Schachtel gefunden hatte. Endgültig überzeugte Julián den Besitzer des Maklerbüros aber, indem er ihm ausmalte, was alles passieren konnte, falls ein so ausgestatteter Schlüsselbund verloren ging und in falsche Hände geriet. »Herr Rosetti, heutzutage kann man doch nicht mehr mit einem Schlüsselbund mit der Adresse dran auf der Straße rumlaufen, die Zeiten sind vorbei«, hatte er mit seinen gerade fünfundzwanzig Jahren verkündet. Um einiges anmaßender und selbstbewusster als der unsichere Mann, der er heute, zwanzig Jahre danach, ist, obwohl der Besitzer sich inzwischen zurückgezogen und die Leitung des Familienunternehmens – »ich vertraue Ihnen blind« – in seine Hände gelegt hat. Rosetti hatte seinerzeit den Vorschlag des vom altgedienten Rest der Angestellten argwöhnisch und eifersüchtig beäugten jungen Neuankömmlings angenommen und die angestammte Aufbewahrungsmethode aufgegeben, weil Julián einfach recht hatte. Die Anfertigung folgte Juliáns Entwurf – ein Hängeschrank mit Glastür, der im Inneren mit Haken ausgestattet war. Verkaufsobjekte bekamen rote, Mietobjekte blaue Anhänger. Außerdem wurden die Schlüsselbünde mit wasserfestem Marker nummeriert. Zu jeder Nummer existierte eine Akte mit Adresse und Details der dazugehörigen Immobilie. Mithilfe dieses Kastens hat Julián in den vergangenen fünf Monaten seine Schlafplätze ausgewählt. Dabei hat er sich bemüht, nie zweimal nacheinander denselben Ort und möglichst auch nicht dasselbe Viertel aufzusuchen. Um sich gar nicht erst mit einem davon anzufreunden, schließlich ist er nur auf Durchreise, auf dem Weg zurück nach Hause.

Vorläufig wird daraus aber offenbar nichts. Und auch wenn sich das später noch ändern könnte – heute ist erst einmal Tomás’ Geburtstag, und seine beiden Kinder werden bei ihm übernachten. Darum kann er jetzt beim Verlassen des Büros nicht irgendeinen Schlüsselbund auswählen. Er kann durchaus auf dem Boden eines völlig leeren Zimmers schlafen, aber nicht die Kinder. Die zur Verfügung stehenden möblierten Wohnungen hat man in aller Eile hergerichtet, um eine unangemessen hohe Miete kassieren zu können. Sie wirken alles andere als gemütlich. Die zum Verkauf stehenden Wohnungen sind dagegen zum größten Teil leer. Einzig die Wohnung in der Calle República de la India entspricht halbwegs dem, was Julián heute Nacht braucht, also entscheidet er sich für sie. Diese Wohnung wird schon seit drei Jahren angeboten, allerdings zu einem überdurchschnittlich hohen Preis, als wollten die Besitzer gar nicht verkaufen. Sie enthält ein paar wenige durchaus geschmackvolle Möbel, die abgeholt werden sollen, sobald ein konkretes Kaufangebot vorliegt. Von dem, was diesen Ort einst zu einem »Heim« gemacht hat, ist zwar nicht viel übrig, aber doch immerhin genug, um als »bei Papa« durchgehen zu können.

Wäre heute kein besonderer Tag, würde George Mac Laughlin seinen möglicherweise letzten Aufenthalt in Buenos Aires nutzen, um in der Bar in der Calle San Martín einen Whisky zu trinken, so wie früher immer, aber das ist schon sehr lange her. Abend für Abend ließ er sich dort, bevor er vom Büro nach Hause zurückkehrte, auf einem Hocker an der Theke nieder. Und ohne dass er ein Wort zu sagen brauchte, stellte der Kellner ein Glas schottischen Whisky mit Eis vor ihm ab. Dieses Ritual hatte er sich angewöhnt, als er noch Junior-Finanzmanager bei dem Getreidekonzern war, und es nach seinem Aufstieg zum Generaldirektor beibehalten. Später kam die Versetzung nach London. Sonia, seine Frau, konnte sich mit der Idee nicht anfreunden. Also lebten er und seine Familie fortan immer wieder monatelang voneinander getrennt, er in London, die anderen in Buenos Aires. Eine Geliebte. Zwei, drei. Schließlich lernte er Barbra kennen, verliebte sich in sie, und als sie schwanger war, beschloss er, in England eine neue Familie zu gründen und seine argentinische Familie hinter sich zu lassen – seine Frau, von der er sich längst entfremdet hatte, und seinen Sohn Charlie, der sich alle Mühe gab, jedes Mal gerade dann nicht in Buenos Aires zu sein, wenn er zu Besuch kam. Barbra hatte nach fünf Monaten eine Fehlgeburt. Noch einmal ein Kind zu bekommen, versuchten sie nicht, trotzdem hatte ihre Beziehung Bestand. Jahrelang versuchte George, den Kontakt zu Charlie aufrechtzuerhalten, anfangs flog er jeden Monat nach Argentinien, dann alle drei Monate, später einmal im Halbjahr. Er nahm ihn nach London mit, damit er die Ferien bei ihnen verbrachte. Oder hätte ihn gerne mitgenommen. Natürlich überwies er auch stets pünktlich die vereinbarten Unterhaltszahlungen, oder auch mehr, wenn Charlie oder seine Mutter darum baten. Darum fällt es ihm auch immer noch schwer, zu begreifen, was er so falsch gemacht haben soll, dass die Beziehung zu seinem Sohn nie funktioniert hat.

»Was? Du hast einfach alles falsch gemacht, Papa«, hat sein Sohn gesagt, als sie sich vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen haben. »Außerdem heiße ich nicht Charlie, nur du nennst mich so, ich heiße Carlos.« Anschließend trafen noch mehrere E-Mails voller Vorwürfe ein, danach Schweigen. Bis er plötzlich mit der Post die Hochzeitsankündigung seines Sohnes erhielt, knapp einen Monat vor dem Termin. Carlos Mac Laughlin würde eine Frau heiraten, deren Namen er nie gehört hatte, in einer katholischen Kirche, obwohl sie keine Katholiken sind. Oder es jedenfalls nicht waren. Er zumindest ist bis heute kein Katholik. Was Charlie – oder Carlos – angeht, kann er dazu nichts sagen, er weiß zum jetzigen Zeitpunkt ja weder, welchem Glauben sein Sohn anhängt noch wer die Frau ist, in die er sich verliebt hat. Auf seine schüchterne Anfrage, ob es ein Fest geben werde und ob er einen Beitrag dazu leisten könne, hieß es bloß: »Es gibt ein Fest, aber du bist nicht eingeladen. Du kannst aber meinetwegen zur kirchlichen Trauung kommen.« Dazu eine Kontonummer, für »Hochzeitsgeschenke«.

Er ist also gekommen und war gerade in der Kirche. Von einer der hintersten Bänke aus hat er beobachtet, wie sein Sohn in Erwartung der Braut am Altar stand. Ein paar wenige Leute haben ihn erkannt. Sie haben ihn zurückhaltend begrüßt, als wüssten sie Dinge, die er nicht weiß. Den Großteil der Menschen um sich herum kannte er nicht. Sonia hat kaum Verwandte, und von den wenigen Verwandten, die ihm hier geblieben sind, war offenbar keiner eingeladen. Die vielen jungen Hochzeitsgäste waren bestimmt Freunde seines Sohns und seiner künftigen Ehefrau. Schließlich ist die Braut erschienen, am Arm eines Mannes, ihres Vaters wahrscheinlich, und hat sich neben Charlie gestellt. Und dann hatte er sechs nebeneinander vor dem Altar aufgereihte Rücken vor sich, die seines Sohns und seiner Braut, die ihrer Eltern und die Sonias und eines Mannes. Des Mannes, der ihn ersetzt hat und an der Stelle stand, wo er hätte stehen müssen. Ob er Sonias Lebenspartner, Freund, Liebhaber oder Ehemann war, war ihm egal, nicht aber, dass er die Stelle neben seinem Sohn einnahm, die ihm, seinem Vater, zustand. Er hatte geglaubt, dass er es würde aushalten können, er hatte vorgehabt, alle Anwesenden nach der Trauung im Kirchenvorraum zu begrüßen. Er hatte den Ozean überquert, um dabei zu sein, um alles richtig zu machen, so weh es auch tat, so sehr das Gefühl blieb, dass er nicht wusste, wie man als Vater zu sein hat. Er hatte den Ozean überquert, um ein Vater zu sein, obwohl ihm das all die Jahre so schlecht gelungen war.

»Immer denkst du zuerst an dich, immer an dich zuerst«, hatte Sonia ihm oft vorgeworfen. War das so gewesen? Vielleicht ja. Und war das so schlimm? Konnte er nicht eine neue Familie gründen und trotzdem ein guter Vater für Charlie sein? Oder wenn schon kein guter Vater, dann zumindest sein Vater? Er hatte es nicht gekonnt. Auch an diesem Nachmittag in der Kirche nicht. Er ist ja nicht mal imstande, ihn so zu nennen, wie er genannt werden will – Carlos. Kaum hatte Charlie der Braut den Ring übergestreift, ist er, sein Vater, aufgestanden und hinausgegangen. Einfach drauflosmarschiert, immer weiter, bis er nicht mehr konnte. An Orten vorbei, an die er sich noch genau erinnerte: das Haus, in dem er mit Sonia gewohnt hat, sein einstiges Büro, der Platz, wo er immer mit seinem Sohn gekickt hat, mit einem echten Manchester-United-Ball, der noch irgendwo sein muss, die Praxis des Psychologen, mit dessen Hilfe sie versucht hatten, ihre Beziehung mit neuem Leben zu füllen, und die Wohnung, die er kaufte, kurz nachdem er beschlossen hatte, endgültig in London zu bleiben. Er wollte einen eigenen Ort haben, wenn er zu Besuch war, und seinen Sohn in einer angenehmeren Umgebung empfangen können als in einem Hotelzimmer. Er entschied sich für eine Wohnung gegenüber dem Zoo, dieser Teil von Buenos Aires hatte ihm schon immer gefallen. Vom Balkon aus konnte Charlie das Elefantengehege sehen. In den ersten Jahren war er regelmäßig dort gewesen. Am Ende überhaupt nicht mehr. Bei den letzten Besuchen hatte er es vorgezogen, ins Hotel zu gehen, statt sich der abgestandenen Luft einer kaum je betretenen Wohnung auszusetzen, in der einige wenige Möbel eine geisterhafte Existenz führten. Charlie traf er am Ende nur noch in Restaurants, immer unter Zeitdruck – sein Sohn bemühte sich, die Sache jedes Mal so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Vor drei Jahren dann beschloss er, die Wohnung zu verkaufen, es hatte keinen Sinn, sie zu behalten. Er wurde bloß traurig, wenn er daran dachte. Ein Zeugnis seiner vergeblichen Bemühungen, seines Scheiterns. Ein Scheitern, das so schwer zu bestimmen, so ungreifbar war wie die Vaterschaft, wie die Liebe zwischen Vater und Sohn. 

Ganz so leicht wird man manche Dinge jedoch offensichtlich nicht los. Die Leute vom Maklerbüro sagen, er müsse den Preis etwas senken.

Vielleicht ist es jetzt so weit. Jetzt vielleicht wirklich.

Julián hat bei McDonald’s Abendessen besorgt, außerdem eine Schokoladentorte. Er weiß, dass Silvia, im Gegensatz natürlich zu Tomás und Anita, Fast Food ablehnt, aber er hat es satt, immer zu tun, was Silvia will. Sie wollte, dass er auszieht, sie wollte die Ehe beenden, sie wollte, dass die Kinder heute bei ihm übernachten. Und er, was will er? Bis gestern hätte er gesagt: zurück nach Hause, zurück zu Silvia, wieder mit den Kindern zusammenleben. Heute Abend ist er sich da nicht so sicher, zum ersten Mal weiß er es nicht genau. Dafür weiß er, dass es Hamburger und Pommes frites geben soll, wenn er und seine Kinder zum ersten Mal gemeinsam nicht zu Hause übernachten. Nicht bei ihm zu Hause. Nicht in seinem früheren Zuhause. Oder wie soll er es nennen? Rein rechtlich gehört ihm immer noch die Hälfte davon. Aber ob er seinen Teil irgendwann wieder wird in Anspruch nehmen können? Darüber denkt er nach, während Anita ihm hilft, die Kerzen in die Torte zu stecken.

»Können wir morgen wirklich die Elefanten sehen, Papa?«

»Ganz bestimmt, aber jetzt schlafen sie.«

Tomás spielt unterdessen ungeduldig mit einem schlaffen Fußball herum, den er in einer Ecke entdeckt hat, wie auch immer der dorthin gelangt ist. Als sie gerade das Geburtstaglied anstimmen wollen, merkt Julián, dass er nichts hat, um die Kerzen anzuzünden. Er geht in die Küche, sieht in den Schubladen nach, versucht, eine der Gasflammen zu entzünden, aber es kommt kein Funke. Er wird den Kindern also die Schlafanzüge aus- und die Kleider wieder anziehen und dann mit ihnen rausgehen müssen, um Streichhölzer zu kaufen.

Tomás mault, er möchte in der Wohnung bleiben und weiter Fußball spielen: »Anita kann doch mitgehen, ich habe heute Geburtstag, ich entscheide, was ich mache.« Bei diesen Worten muss Julián an Silvia denken. »Ich entscheide, was ich mache.« Fast wird er böse auf seinen Sohn, aber dann beschließt er, nicht auf ihn einzugehen. Als er mit den Kindern gerade einfach so, wie sie sind – barfuß und im Schlafanzug –, losgehen will, hört er, dass jemand einen Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür steckt. Er verflucht sich dafür, dass er nicht den Riegel vorgelegt hat. Ebenso wenig ist er auf den Gedanken gekommen, den Schlüssel von innen stecken zu lassen. Wenn er einem Kunden eine Wohnung zeigt, ist das auch nicht nötig. Aber in diesem Augenblick ist er nicht hier, um einem Kunden die Wohnung zu präsentieren, er feiert den Geburtstag seines Sohns. Davon abgesehen begreift er nicht, wie jemand auf die Idee kommen kann, um diese Uhrzeit die Wohnung betreten zu wollen. Der Besitzer lebt in London, er hat ihn ein einziges Mal gesehen, vor etwa drei Jahren, als er die Firma mit der Vermittlung der Wohnung beauftragte. Damals sagte er, er wolle sie verkaufen, weil er nicht vorhabe, nach Argentinien zurückzukehren. Der Hausmeister hat keinen Schlüssel, den haben sie ihm nach einer Auseinandersetzung mit Rosetti abgenommen. Silvia? Silvia, die sie überraschen will? Er weiß, dass das nicht sein kann. Was für ein Idiot er doch ist, selbst in den abwegigsten Situationen zuerst an sie zu denken. Seine Kinder sehen ihn beunruhigt an. Was wird ihr Vater jetzt tun? Womöglich denken sie, dass gleich ein Räuber oder Gespenst reinkommt. Julián beschließt, sich der Lage zu stellen, doch während er noch auf die Tür zugeht, öffnet diese sich und vor ihm steht George Mac Laughlin. Julián erkennt ihn wieder, und bei seinem Anblick muss er, genau wie bei ihrer ersten und einzigen Begegnung, an Harrison Ford denken. Das ist er, kein Zweifel. Wieso muss er so ein Pech haben? Wieso muss dieser Mann, der in London wohnt und gesagt hat, dass er nicht vorhabe, nach Argentinien zurückzukehren, ausgerechnet an Tomás’ Geburtstag wieder auftauchen? »Herr Mac Laughlin«, sagt er und hat keine Ahnung, was er danach sagen soll. Mac Laughlin sieht ihn wortlos an, offensichtlich versucht er zu begreifen, was vor sich geht. Er lässt den Blick über die Kinder gleiten, den Manchester-United-Fußball, der einmal seinem Sohn gehört hat. Julián stammelt: »Ich … bin …«

Mac Laughlin, die Augen jetzt auf die Geburtstagstorte gerichtet, unterbricht ihn: »Ich weiß, wer Sie sind. Und, wie gehts?«, sagt er, betritt die Wohnung und schließt die Tür hinter sich.

»Wer ist das, Papa?«, fragt Anita.

Julián zögert, und Mac Laughlin antwortet: »Ein alter Bekannter deines Vaters.« Dann schießt er den Ball in Tomás’ Richtung, der ihn mühelos stoppt. Mac Laughlin geht bis in die Mitte des Zimmers, bleibt stehen und dreht sich einmal um sich selbst, als wollte er ein 360°-Panorama in Augenschein nehmen. Dann greift er nach einem Stuhl und sagt: »Darf ich?« Julián nickt. Mac Laughlin setzt sich. »Danke, ich bin ganz schön müde.« Tomás kommt, den Ball vor sich hertreibend, ebenfalls an den Tisch und setzt sich ihm gegenüber. Zwischen ihnen erhebt sich die Geburtstagstorte mit den immer noch nicht entzündeten Kerzen. »Hast du Streichhölzer?«, fragt der Junge. »So was Ähnliches«, sagt Mac Laughlin und holt ein silbernes Feuerzeug aus der Tasche, mit dem er die sechs Kerzen eine nach der anderen anzündet.

Als alle Kerzen brennen, stimmt Anita das Geburtstagslied an. Als sie merkt, dass sie die Einzige ist, die singt, erhebt sie die Stimme und schreit: »Zum Geburtstag viel Glück!« Sie sieht ihren Vater und Mac Laughlin an und bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie sich anschließen sollen. »Zum Geburtstag …«, singt sie noch lauter, und von der Anstrengung schwillt ihr der Hals. Mac Laughlin stimmt mit ein. »Zum Geburtstag« singen jetzt beide zusammen. Julián tritt zu seiner Tochter und hebt sie hoch. Mac Laughlin nickt, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass er gerne mitmachen darf. Julián schafft allerdings bloß noch die letzten Worte: »Zum Geburtstag viel Glück!« Alle klatschen Beifall, bis auf Tomás, der, den Kopf in die Hände gestützt, dasitzt, die brennenden Kerzen ansieht und konzentriert darüber nachdenkt, welche drei Dinge er sich dieses Jahr wünschen soll.