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Vorwort

Heute vor zehn Jahren hatte ich meine erste Chemotherapie. Ich bin keine Schriftstellerin. Aber nach Abschluss meiner Therapie wusste ich, dass ich zum ersten Mal etwas erlebt hatte, das ich mitteilen möchte. Nicht deshalb, weil es so besonders schrecklich war. Sondern weil ich erlebt habe, dass wir auch in schrecklichen Situationen selbst handeln und gestalten können. Auch wenn die Handlungsmöglichkeiten manchmal brutal begrenzt sind. Und weil ich erfahren und in vielen Gesprächen schmerzhaft zur Kenntnis genommen habe, wie viel Sprach- und Handlungsunfähigkeit es in Extremsituationen unter Menschen geben kann.

Ich werde über meine Erfahrungen mit einer tödlichen Krankheit in der Intensivmedizin berichten. Die Erlebnisse, die ich beschreibe, sind einzigartig. Meine. Aber die Themen, um die es geht, betreffen viele, die ähnliche Erkrankungen haben, sowie deren Angehörige oder die Menschen, die mit Patienten wie mir zu tun haben.

Ich möchte deshalb keine chronologische Geschichte erzählen, sondern eben jene Themen herausgreifen, die mit meiner Krebserkrankung zusammenhängen und anhand derer ich viel gelernt habe über mich, über Menschen und über die Intensivmedizin.

Ich brauchte Abstand, um über diese Erfahrungen berichten zu können. Aber wenn Sie am Ende das Buch zuschlagen, sollten Sie eines wissen: Die letzten sieben Jahre waren die schönsten meines bisherigen Lebens. Und wenn man mich morgen mit einem Rezidiv, einem Rückfall, ins Krankenhaus einliefern würde, wüsste ich, dass sich mein damaliger Kampf für diese Jahre gelohnt hat. Auch wenn ich mir das drei Jahre lang kaum vorstellen konnte.

Der Affe, die Maus und der Sozialstaat

Sie sind fünfzig Meter von mir entfernt: Affen, Mäuse, Ratten, Kaninchen. Ihre Augen starren mich stumpf und eindringlich durch Gitterstäbe hindurch an. Sie warten darauf, ob ich den Knopf unter meinen Händen drücke, der für sie Folter und Tod und für mich das Leben bedeutet. Drücke ich nicht, öffnen sich die Käfigtüren, und kein Tier muss die Qualen der Versuchsmedizin erleiden und ich sterbe.
Bevor ich mich endgültig für die Therapie entschied, beschäftigte mich dieses Bild. Welches Recht hatte ich, mein Leben über das dieser Tiere zu stellen? Keins. Und für mich lief es auf genau diese Frage hinaus: Wenn ich Ja zur Intensivmedizin sagte, dann sagte ich mit Sicherheit Ja zu dem qualvollen Tod vieler Tiere. Zumindest in meiner Vorstellung. Das Schlimmste an diesem Bild war, dass es mir nicht wirklich darum ging, durch meinen Verzicht auf die Intensivmedizin ein politisches Zeichen zu setzen. Ich wollte einfach nicht für den Tod dieser Tiere verantwortlich sein. Ich fühlte mich verlogen.

Eine Kollegin baute mir die Brücke, über die ich schließlich dankbar ging. »All die Tiere, die du ständig vor dir siehst, sind doch bereits gestorben. Indem du jetzt ebenfalls stirbst, wird nicht eins dieser Tiere wieder lebendig. Aber wenn du überlebst, dann hatte ihr Tod einen Sinn. Zumindest für mich.« Pause. »Und wenn es dir hilft«, sprach sie weiter in mein Schweigen hinein, »ich würde den Knopf für dich drücken.« Ich weinte.

Auch wenn ihre Argumente einen dicken Pferdefuß hatten, so half sie mir doch einen entscheidenden Schritt weiter. Ich hatte mich bereits über alternative Behandlungsmethoden informiert und entschieden, dass sie für mich nicht in Frage kamen. Jetzt hielt ich mich an das Argument, dass die Versuchstiere schon nicht mehr lebten, und verbannte erleichtert das Bild aus meinen Gedanken; und ließ mich ohne weiteres Wenn und Aber und mit allen Konsequenzen auf die Intensivmedizin ein.

Allerdings habe ich mich oft gefragt, was denn eigentlich gewesen wäre, wenn ich gestorben wäre. Wenn es diese ganze Medizin mit ihren Maschinen und hochwirksamen Medikamenten nicht gäbe. – Die Welt hätte mein Ableben wohl kaum bemerkt. Einige Menschen hätten mich mit Sicherheit schmerzlich vermisst; hätten vielleicht noch Jahre um mich getrauert und an mich gedacht. Aber rechtfertigt das die Qual von Millionen Wirbeltieren, die in den sogenannten sinnvollen Versuchen für medizinische Zwecke leiden und sterben? Und wenn diese Versuche einen sogenannten »Sinn« haben, was bedeutet es für mich, wenn ich überlebe? Welchen Sinn soll es denn haben, dass ich weiter existiere? Muss ich meiner Existenz anschließend einen besonderen Sinn verleihen, oder besteht dieser Sinn in meinem Sein an sich?

Einer meiner Mitarbeiter hatte Jahre später eine ganz klare Meinung zu diesem Thema. Er war auf dem Weg zur Firma an Tierschützer geraten, die ihm eine Diskussion aufgedrängt hatten. Und er war für die Forschung an Tieren eingetreten und hatte nicht »gegen die Krebsmaus« unterzeichnet, da auch er Dank der an Tieren erprobten Medizin seinen Krebs überlebt hatte. Und sein Sinn bestand schlicht darin, dass er Vater war. Vielleicht war er der Ehrlichere von uns beiden. Ich würde mich noch immer gegen Tierversuche aussprechen, verdanke diesen aber mein Leben.

 

Als ich mich für die Behandlung entschieden hatte, dachte ich auch darüber nach, warum die Gemeinschaft mir einfach so half. Niemand fragte nach meiner politischen oder moralischen Gesinnung, meiner Leistungsfähigkeit, was ich im Falle meines Überlebens aus meinem Leben machen wollte. Ich war krank, und ohne zu zögern und ohne jede Anforderung an mich war diese Gesellschaft bereit, mir zu helfen, bereit, eine Million Mark für mein Überleben zu bezahlen – ohne zu wissen, ob ich danach auf die Straße gehe und Steine schmeiße, ob ich Großmüttern Handtaschen klaue, kleine Kinder quäle, andere um Millionen betrüge oder durch mein Leben und Wirken die Gemeinschaft bereichere. Das fand ich erstaunlich. Beeindruckend! Die wahre Größe und die eigentliche Bedeutung der Begriffe »soziale Gemeinschaft« oder »Sozialstaat« wurden mir erst in diesem Moment richtig klar.

Sollten Sie Beiträge in die Krankenversicherung eingezahlt haben, dann danke ich Ihnen, dass Sie mein Überleben finanziert haben.

 

Marion Knaths – die Eine-Million-D-Mark-Frau.

Die Glatze

Als ich krank wurde, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben lange Haare. Über zwei Jahre hatte ich sie konsequent wachsen lassen. Mit vierzehn musste es unbedingt eine Dauerwelle sein, und jetzt mussten es eben lange Haare sein. Nicht, dass ich damit gut ausgesehen hätte, im Gegenteil. Da ich von meinem Vater Geheimratsecken geerbt habe, trug ich zu den langen Haaren einen Pony. Meistens band ich die Haare zu einem Zopf zusammen und sah eher langweilig aus. Aber obgleich die Frisur unvorteilhaft war, erfuhr ich die Zauberwirkung langer Haare. Sie locken Männer wie das Licht die Motten. Für mich eine völlig neue Erfahrung: Mit offenem, duftendem langem Haar stand ich an keiner Bar länger als zwei Minuten, bis mich der erste Mann ansprach. Dieses Phänomen hatte ich bis dahin nur bei meinen Freundinnen beobachtet.

Als klar war, dass das Gift bald zuschlagen und seinen Tribut in Form meiner Haare fordern würde, ging ich zu der Friseurin, die mit unzähligen Übergangsfrisuren meine langen Haare mit gezüchtet hatte, Frau Weiss. Von ihr ließ ich mir eine halblange Frisur schneiden, um mich langsam an den Haarausfall heranzutasten. Als meine neue Frisur fertig war, saß ich in einem Berg von abgeschnittenen Haaren. Auf dem Boden wirken Haare irgendwie nach mehr als auf dem Kopf.

Dass es begann, war am besten am Kopfkissen und der Haarbürste abzulesen. Ich legte mich abends auf weiße Baumwolle und erwachte morgens auf Fell. Zudem begann sich eine Lücke zu bilden, wenn ich mir einen Scheitel zog. Also ging ich erneut zum Friseur. Diesmal einfach um die Ecke, denn wozu sollte ich noch viel Geld ausgeben. Ich setzte mich und bat, meine Haare bis auf wenige Zentimeter kurz zu schneiden. Die Friseurin weigerte sich anfangs, meiner Bitte nachzukommen, aber als ich sie darüber aufklärte, dass die von mir gewünschte Frisur maximal eine Woche überleben würde, schnitt sie beherzt zu.

Jetzt sah ich aus wie das lebendig gewordene Vorurteil gegenüber Fußball spielenden Frauen. Kurzhaarschnitte waren offensichtlich nicht die Stärke dieses Friseursalons. Mein Fransenschnitt war jedoch nicht von langer Dauer. Jeden Morgen musste ich einen Ballen Haar aus meiner Bürste entfernen, und inzwischen konnte ich mir ganze Büschel einfach mit den Händen aus dem Kopf ziehen, ohne dass es schmerzte.

Und dann kam der Tag, an dem eindeutig nichts mehr ging und es nur noch eine Lösung gab: meine restlichen Haare abzurasieren, ehe ich wie eine Vogelscheuche aussah.

Wir beschlossen, diesen entscheidenden Schritt zu zelebrieren: Alexandra öffnete eine Flasche Wein. Leicht angeheitert gingen wir ins Bad, um die Wandlung vom behaarten Menschen zum Glatzkopf zu vollziehen. Alexandra begann auf der linken Seite und rasierte Zentimeter um Zentimeter. Als sie genau die Mitte meines Kopfes erreicht hatte, wollte ich mich im Spiegel ansehen. Ich stand auf und erblickte zeitgleich mich und eine Fremde. In der Kombination ein Monster. Vor Schreck habe ich mich gleich wieder hingesetzt.

Nach einem weiteren Glas Wein fuhr Alexandra fort mit der Rasur, und ich schaute nicht mehr in den Spiegel, bis das Werk vollbracht war. Ich war nervös, als ich aufstand, um zum ersten Mal im Leben meinen nackten Hinterkopf zu sehen. Ich hatte Angst, die Haut könnte voller Flechten sein oder die Form verbeult. Aber: Es sah gut aus! Mein nackter Hinterkopf war makellos. Und da ich zu diesem Zeitpunkt noch Wimpern und Augenbrauen hatte, gefiel mir mein neuer Look überraschend gut.

Eine Enttäuschung war das Duschen: Mit dem nackten Kopf unter dem Wasserstrahl zu stehen hatte ich mir sinnlich und prickelnd vorgestellt. Aber es war ein ziemlich dumpfes, klatschendes Gefühl. Mit langen Haaren zu duschen ist viel schöner, weil die schweren Haare sanft an den Hautporen ziehen. Ohne Haare schlägt das Wasser einfach auf.

Dafür lernte ich mit meiner »Frisur« völlig neue Menschen kennen. Da ich am Anfang noch nicht krank, sondern einfach ungewöhnlich aussah, sprachen mich wildfremde, ebenfalls schräg aussehende Menschen auf der Straße an, die mich vorher keines Blickes gewürdigt hätten. Und weil ich niemanden über den Hintergrund meines Aussehens aufklärte, konnte ich für kurze Zeit mein neues cooles Selbst genießen. Allerdings ließ ich nicht zu, dass sich daraus ernsthafte Kontakte entwickelten. Denn dann hätte ich die Wahrheit sagen müssen, und der Spaß wäre vorbei gewesen.

Der Spaß hörte in dem Moment auf, als sich auch die Wimpern und Augenbrauen verabschiedeten (zeitgleich mit den Schamhaaren, aber das hat keine so öffentliche Wirkung). Von diesem Moment an sieht man wirklich wie ein kranker Frosch aus. Jetzt sprachen mich nur noch Menschen an, denen es offensichtlich ebenfalls dreckig ging. Menschen, denen es gut ging, fanden es jetzt schwieriger, meinem Blick standzuhalten. Echten Stress hatten die meisten Mütter, deren Kinder mit dem Finger auf mich zeigten und laut riefen: »Guck mal! Die sieht aber komisch aus!« Die Mütter waren meist peinlich berührt, lächelten kurz entschuldigend und zerrten ihre Sprösslinge weg. Nur wenige konnten mir offen ins Gesicht sehen und ihren Kindern erklären, dass ich vermutlich krank sei.

Es gab Tage, da hätte ich diese kleinen Monster am liebsten mit einem Baseballschläger erschlagen. Den Song von Herbert Grönemeyer habe ich schon immer für Volksverdummung gehalten. Einmal musste ich dann allerdings doch lachen. Als mal wieder ein kleines Monster auf mich zeigte und schrie: »Wie sieht die denn aus?!«, erklärte ihm ein etwas älterer Junge: »Die wurde vom Krebs gebissen.«

So schnell kann eine Tierart in Verruf geraten.

Der Flaum

Es dauert unterschiedlich lange, bis nach dem Ende einer Behandlung gegen schnell wachsende Zellen die Haare zurückkommen. Nach meinen ersten fünf starken Chemotherapien musste ich nur drei Wochen warten; nach meiner Knochenmarktransplantation dauerte es eine Ewigkeit. Zehn lange Wochen, während derer ich schon Angst bekam, ich müsste für den Rest meines Lebens mit Glatze herumlaufen.

Interessant aber ist, was dann zu wachsen beginnt: Flaum. Kuschelig weicher, samtener Flaum, der eine geradezu magische Anziehungskraft auf die eigenen Hände und die aller anderen ausübt. Jeder wollte mal anfassen, mein Haar streicheln und sich streicheln lassen. Selbst fremde Menschen berührten wie unter Zwang meine Haare. Ich wurde regelrecht kopfscheu! Besonders auf Treppen und Rolltreppen konnte ich sicher sein, dass mir jemand ungefragt von oben auf den Kopf fasste.

Aber auch ich genoss es, mir alle zwei Minuten mit der Hand über den Kopf zu fahren. Diese Angewohnheit hat sich später gelegt, als mein Haar wieder seine gewohnte harte Struktur annahm. Aber damals war es sensationell. Jeder Strich durchs Haar war eine Liebkosung der Hand und des Kopfes zugleich. Trotzdem irritierte mich das zwanghafte Verlangen der anderen, mich berühren zu müssen. Bis ich es Jahre später einmal selbst umgekehrt erlebte.

In einem Nachtclub stand auf einer Treppe unter mir ein Mann, der Flaum auf dem Kopf hatte; dem offensichtlich ebenfalls neues Haar nach einer Chemo gewachsen war. Und es ging mir genau wie allen anderen zuvor bei mir: Ich wollte, ich musste ihn anfassen! Nur, dass ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen nicht einfach die Hand ausstreckte, sondern den Mann ansprach und um seine Einwilligung bat. Er schaute genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Erstaunt, weil sich jemand die Mühe machte, ihn zu fragen. Er gab mir lächelnd sein Einverständnis, und ich griff in meine Vergangenheit. In diesem Moment verstand ich all jene, die mich unbedingt hatten berühren müssen. Aber ich werde nie verstehen, wieso niemand auf die Idee gekommen ist, mich vorher zu fragen.

Aus dem Flaum wurden anschließend Locken. Ich war verliebt in meine neuen Haare. Meine Friseurin holte mich allerdings schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie erzählte mir, dass Locken nach einer Chemotherapie mit Haarverlust normal sind. Und dass sie verloren gehen wie bei einem Baby, und sich das alte Haar wieder herausbildet.

Damals hoffte ich sehr, dass Frau Weiss sich irrt. Aber Profis haben meistens recht. Und so habe ich jetzt wieder stahlglattes Rosshaar und hole dann und wann die wenigen alten Fotos hervor, die mich mit Locken zeigen.