Hermann Stresau
Als lebe man nur
unter Vorbehalt
         
Tagebücher aus den Kriegsjahren
1939–1945
         
Herausgegeben und kommentiert
von Peter Graf und Ulrich Faure
         
Klett-Cotta
Das Frontispiz zeigt den Autor Hermann Stresau.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Klett-Cotta
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Printed in Germany
Cover: Anzinger & Rasp, München
unter Verwendung eines Fotos von © picture alliance
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98472-9
E-Book ISBN 978-3-608-11658-8
Wir hängen am Radio und suchen Nachrichten aufzufangen. Der Warschauer Sender schickt Musik in den Äther, Symphonisches und dergleichen, dazwischen Meldungen, die regelmäßig mit »Uwaga, Uwaga!«[1] beginnen und unverständlich sind. Sonderbarer Eindruck. Krieg in Polen[2] und dazu diese Musik. Die Funktion des Radios, das als Geräuschkulisse nicht ausfallen darf.
Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Menschheit verfluchen. Kaum weniger grauenhaft abends, wenngleich nicht so kraß, wenn wir, um ein wenig frischere Luft nach dieser Hitze zu schöpfen, nach den Kanalwiesen gehen. Kein Hauch in der Luft. Die Dämmerung über den schweigenden Wiesen, Lautlosigkeit. Im Südosten der rotglühende Stern, der Mars, und ein bitteres Gefühl in der Brust. Die Riesenhaftigkeit eines heraufbeschworenen Schicksals über Millionen, eines unmenschlichen Schicksals.
Inzwischen haben nun England und Frankreich den Krieg erklärt[3]. Da England die Garantie an Polen gegeben hatte, war das zu erwarten. Die ersten britischen Flieger über Hamburg.
Hitlers Rede vor dem Reichstag: wenn man das so hört und liest, »möchte es leidlich scheinen, allein –« ja, wenn einen nicht das Mißtrauen angesichts dieser Erklärung beseelte. Interessant die Ausführungen über den Pakt mit Rußland. Mit einem Mal, da Sowjetrußland seine Doktrin nicht nach Deutschland zu exportieren gedenkt, sieht Adolf keine Veranlassung mehr, »daß wir auch nur noch einmal gegeneinander Stellung nehmen sollen!« Der Pakt also schließt »für alle Zukunft« jede Gewaltanwendung aus. Adolf bezeichnete das als eine »ungeheure Wende für die Zukunft«, er erklärte sie für »endgültig«[4]. Der Reichstag jubelte ihm zu, als er verkündete, Rußland und Deutschland hätten sich einmal bekämpft: »Ein zweites Mal soll und wird das nicht mehr geschehen.« Molotows Rede, auf die Hitler bei dieser Gelegenheit hinwies, scheint sehr klar gewesen zu sein, jedenfalls merkt man eine gewisse nüchtern realpolitische Auffassung der Dinge insofern, als er offen von Verhandlungen mit den Westmächten sprach, auch militärischen, die zu nichts führten, angeblich vor allem wegen der Weigerung Polens, von der Sowjetunion militärische Hilfe anzunehmen, worin England Polen, nach Molotows Behauptung, sogar unterstützt haben soll. Die Standpunkte Englands und Frankreichs, sagte Molotow, seien von »schreienden Widersprüchen« erfüllt gewesen. Ganz offen behauptet er, die Engländer fürchteten von einem Pakt mit Rußland die Stärkung der russischen Position, woraus sich auch die polnische Haltung gegenüber der Sowjetunion ergäbe. Was den Pakt mit uns angehe, so seien unsere Beziehungen früher zwar gespannt gewesen. Aber Stalin habe nun einmal Frieden befohlen und vor den Kriegstreibern gewarnt, die gern »die Kastanien durch andere aus dem Feuer holen lassen«, d. h. Deutschland und Sowjetrußland gegeneinander hetzen möchten. Gewisse »kurzsichtige Personen« hätten sich in Rußland für die »einfältige antifaschistische Agitation« begeistert, aber Stalin habe eine glänzend gerechtfertigte Voraussicht bewiesen. Das alles klingt, noch im Hinblick auf vorteilhafte Wirtschaftsabkommen, durchaus vernünftig. Die Frage ist, wieweit unsere Herren gesonnen sind, den Vertrag zu halten. Man sollte meinen, diese Rückendeckung sei so kostbar, daß man sie unter gar keinen Umständen aufs Spiel setzen würde.
Wir haben, sagte Hitler, seit sechs Jahren über 90 Milliarden an den Aufbau der Wehrmacht gewandt. Er bezeichnet sie als die bestausgerüstete der Welt. Im übrigen möchte er der Umwelt versichern, daß es nie wieder einen 9. November in der deutschen Geschichte geben werde. »Ich habe wieder jenen Rock angezogen, der mir selbst der heiligste und teuerste war«, sagte er, »ich werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg – oder – ich werde dieses Ende nicht erleben!«[5] Für den Fall, daß ihm was passiert, wird Göring sein Nachfolger, dann Heß.
In den Lüften herrscht hier über unserer Siedlung endlich Ruhe. Aber ich zöge den Radau vor, wenn Friede wäre. Leute werden einzeln eingezogen, meistens erhalten sie den Gestellungsbefehl nachts, d. h. der Amtsvorsteher persönlich fährt herum und trommelt die Leute aus dem Schlaf. Es sind auch Ältere darunter, Weltkriegsteilnehmer. Allerdings vorwiegend, wie es scheint, solche mit besonderen Fähigkeiten, Kraftfahrer und so.
Ich habe im Luftschutz zu tun: Schnellkurse. Jetzt soll man in zwei Stunden alles durchjagen, was vorher 10 Stunden beanspruchte.
(Aus Gretes Aufzeichnungen): Die deutschen Truppen sind in Warschau eingedrungen, um den Bug und die Weichsel tobt die Schlacht. Bis zur Weichsel ist Polen in deutschen Händen. Heute fiel seit Wochen der erste Regen, unser Garten war fast vertrocknet.
Heinz[6] ist noch in Frankfurt, wir sollen hinkommen, aber wir kommen hier aus finanziellen Gründen nicht los. Jeden Tag wache ich nach schweren Träumen zu der Tatsache auf, daß Krieg ist. Hermann wacht ohne Träume auf, fällt aber regelmäßig einer sehr deprimierten Stimmung anheim, die sich erst langsam im Laufe des Tages bessert.
Mit der Ernährung geht es noch. Fett und Zucker sind knapp. Hier gibt es wenigstens Milch nach Belieben, auch Quarkkäse. Die Stimmung der Bevölkerung ist mäßig.
War heute in Berlin. Mein Lektoratsverhältnis zu S. Fischer ist zum 1. Oktober gekündigt, da wir mit englischer und amerikanischer Literatur nichts mehr machen können. Überdies scheint man bei den Verlegern mehr und mehr mit einer Stillegung der Betriebe zu rechnen, d. h. mit totalem Kriege, Massenverpflegung und dergleichen. Wenigstens rechnet Suhrkamp damit, und es mag ja sein, daß höheren Orts so etwas erwogen wird. Die Stimmung in der Bevölkerung ist trotz der Siege alles andere als begeistert, eher gedrückt. Nur bei Aschinger am Potsdamer Platz[7] sah ich ein paar Spießbürger, die offenbar unter der Einwirkung mehrerer Schnäpse verwegene Redensarten machten. Das sind seltene Ausnahmen.
Dr. v. C.[8], den ich besuchte, war gleichfalls sehr bedrückt und pessimistisch. Erzählte, er sei am Abend vor der englischen Kriegserklärung in einer Gesellschaft von Wirtschafts- und Parteiführern gewesen, wo man zu seinem Erstaunen allgemein in bester Laune der Ansicht war, England werde nicht in den Krieg eintreten. Er war noch nachträglich entsetzt über diese Ahnungslosigkeit. Wir waren uns einig darüber, daß sich die Geschichte zu einem langdauernden Weltkrieg auswachsen werde.
Das Entsetzliche ist dabei die ohnmächtige Erbitterung, die in einem hochsteigt, wenn man an die Lumpen denkt, die das Feuer angezündet haben. Der britische Botschafter Henderson[9] soll von einer seiner letzten Unterredungen mit Hitler mit dem Ausdruck des Abscheus zurückgekehrt sein (»abhorring« soll er gesagt haben), da Hitler schließlich ausgebrochen sei: wie lange er denn auf »seinen Krieg« warten solle, er sei über fünfzig! Dr. R.[10] erzählte mir das, auch er bedrückt und eine böse Zukunft voraussehend.
Täglich hört man hier von diesem und jenem, daß er eingezogen sei, d. h. nachts oder gegen Morgen seinen Gestellungsbefehl bekam.
Wir haben soeben Tee getrunken, an der offenen Balkontür, und aßen Apfelstrudel dazu. Man muß sich das Leben noch ein bißchen angenehm machen. Draußen schüttelt der Wind die Bäume, Regenschauer sprühen vorbei.
Wir wissen noch nicht, was mit unserer Existenz wird und was wir machen sollen. Für den Winter wollen wir nicht hierbleiben. Die Hauptfrage ist die, wo und wie ich Geld verdienen kann. Die ständige Verbindung mit der Frankfurter Zeitung ist recht gut, reicht aber nicht aus. Wir überlegen, ob wir nach Frankfurt zu den Kindern oder nach Göttingen ziehen können, wo wir Freunde haben. Der Zustand hier in dieser Siedlung wird unmöglich. Außerdem meint Grete halb scherzhafterweise: Berlin wird russisch, Göttingen englisch, und wir ziehen englisch vor – wenn’s schiefgeht.
Ich soll mich, auf Empfehlung von Bekannten, bei einer Nachrichtenstelle der Wehrmacht vorstellen, auf Grund meiner paar Sprachkenntnisse, vielleicht öffnet sich mir da ein Pöstchen. Irgendwo muß ich mich unterbringen; da ich über keinerlei technische Fähigkeiten verfüge, werde ich vorläufig vielleicht nicht eingezogen werden und habe Frist, mich nach etwas umzusehen.
Wir erörterten auf einem Spaziergang zum Fleischer (um ein Pfund für uns und eventuell einen Hammelkopf für Jackie[11] zu ergattern) die möglichen Auswirkungen des Krieges. Nur so viel ist uns klar: daß das Zeitalter der Nationalstaaten zu Ende geht. Etwas Neues ist im Werden, wahrscheinlich die Zusammenfassung größerer Räume. Unter welchen Lebensformen sich das vollziehen wird, welche politischen Formen das zeitigen wird, das ist noch dunkel. Jedenfalls erleben wir eine Zeitwende, zu der es schwerlich eine historische Analogie gibt. Vielleicht nur diejenige vor 2000 Jahren – was sofort die Frage aufwirft, ob nicht auch das christliche Zeitalter zu Ende gehen wird. Aber diese Frage ist kaum zu beantworten. Das christliche Zeitalter, d. h. ein solches, das ideell wesentlich und einheitlich christlich bestimmt war, war mit der Renaissance zu Ende, dem Beginn der sogenannten »Neuzeit«, ohne daß man sagen kann, daß sich damit das Christentum verloren hätte. Aber es ist in eine andere Stellung geraten, eine bedrohte Stellung nachgerade: Was passiert, wenn man es bewußt über Bord wirft, das sehen wir hier, das haben wir erlebt und werden wir weiterhin erleben: es war ja, als sei mit der Machtergreifung Hitlers der letzte Boden ausgebrochen, auf dem man nach allgemein gültigen Prinzipien leben kann, den Prinzipien von Treu und Glauben, der Wahrheit mit einem Wort. Daher kommt der deutliche Eindruck, daß ein Regime auf einer solchen Bodenlosigkeit fortwährend »kämpfen« muß, um nicht sofort unterzugehen, wie ein Mensch im Wasser, der sich durch dauerndes Schwimmen am Leben erhalten muß. Siehe den Rußland-Pakt: man greift nach jedem Anhalt, der etwas Atemholen verstattet. Aber das ist schließlich eine Sache der Politik, die nur beweist, wie wenig an diesen säkularen »Ideen« dran ist. Es sind in Wirklichkeit keine Ideen.
Meine Vorstellung bei der Wehrmachtsstelle verlief ergebnislos, scheiterte eigentlich daran, daß ich nicht Offizier gewesen bin, trotz der Empfehlung durch Major W. Mußte gleich darauf, da eine Empfehlung durch denselben Herrn einlief, zu einer anderen Stelle, irgendeine Presseabteilung des Reichswehrministeriums oder wie sich das nennt, mit demselben Erfolg. Ich bin nicht sehr geeignet, mich selbst zu repräsentieren, und war daher von vornherein ziemlich skeptisch. Mich interessierte in dem Betrieb, wo ich eine Weile warten mußte, um dann von einem Herrn zum anderen gereicht zu werden, nur eins: die Typen der Offiziere. Offensichtlich bediente sich keiner von ihnen der nasolistischen Umgangsformen mit Überzeugung. In einem Zimmer erhob sich ein unglaublich vornehm aussehender Oberstleutnant mit Monokel (an der Tür las ich im Halbdunkel einen Namen aus dem Hochadel), der mit unnachahmlicher Höflichkeit, einem amüsanten Gemisch von Hochnäsigkeit und ausgesuchter Courtoisie Bescheid gab – ich dachte bei seinem Anblick unwillkürlich: wenn du deinen obersten Kriegsherrn, den ehemaligen Gefreiten, nicht aus Herzensgrund verachtest, genau wie deine Kollegen hier in diesem Bau, dann ist 2 mal 2 fünf, und trotzdem arbeitet ihr Herren hier wie die Berserker für ihn. Sonderbar …
Die Frankfurter Zeitung nimmt meine Feuilleton-Artikel gut auf. Zur Zeit unsere einzige Einnahme. Es soll demnächst neue Lebensmittelkarten geben, auch für Brot und Kartoffeln.
Unser Wald hier hängt voll von regenschwerem Dunst und sieht märchenhaft aus. Es würde mir doch schwer werden, ihn zu verlassen.
(Aus Gretes Aufzeichnungen): Hermann ist mit dem heutigen Tage aus dem Verlag S. Fischer ausgeschieden. Gestern aber kam eine Eilkarte von Noli[1] aus Göttingen, Hermann möchte sofort kommen, weil dort eine Stelle als Lektor für Englisch an der Universität frei sei, und so ist er heute früh abgereist. Wir wagen nicht zu hoffen, daß etwas daraus wird, vielleicht findet sich aber ein anderes bescheidenes Pöstchen, damit wir überhaupt dorthin kommen können. Dort herrscht die Luft, die ich am liebsten atmen möchte … Göttingen erscheint mir nach allem Unglück, das uns betroffen hat, wie ein Refugium. Die Kinder in Frankfurt haben uns herzlich eingeladen, aber jetzt muß sich erst die Göttinger Angelegenheit klären.
Finanziell sind wir ungefähr wieder in der Lage wie vor fünf Jahren, mit dem Unterschied, daß unsere chronische Geldknappheit uns nicht dazu kommen ließ, unsere Kleidung auf der Höhe zu halten. Mit unserem Schuhwerk, mit Wäsche usw. sieht es schlimm aus. Und jetzt gibt es Kleidung nur auf Bezugsschein, und es soll schwierig sein, einen zu erhalten. Sie sollen nachprüfen kommen, ob man auch wirklich Schuhe usw. braucht.
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