Feierlich war die nächtliche Stille.
Der Wald schlief, die Bäume, die Sträucher schlummerten, die Vögel hatten ihre Köpfe unter den Fittichen versteckt, selbst die Luft der warmen Frühsommernacht ruhte.
Lautlos und duftend atmete der Wald, in dem Traum seines Blühens befangen.
Klang zuweilen der wehmütig schöne Sang der Eule oder das kurze, gellende Schreien, das der Kauz hin und wieder ausstieß, so wurde dadurch die Stille noch tiefer.
Das Wild, Hirsche, Rehe, Hasen, vom Menschen seit undenklichen Zeiten gezwungen, sich tagsüber zu verbergen, streifte in der Finsternis auf Wiesen, Blößen, Schneisen umher und genoß Nahrung in Sicherheit.
Fuchs, Marder, Iltis, Wiesel vollführten ihre Raubzüge. Sie wurden minder gefürchtet als der Mensch, dessen Gegenwart auch sie mieden.
Noch blinkten die Sterne am Himmel, doch sie fingen an zu erblassen.
Ein allererster, fahler Schein frühester Dämmerung lockerte die Schwärze der Nacht, ohne sie merkbar zu erhellen.
»Wer geht denn da?« schäkerte erwachend die Elster.
Ihr Gefährte hob den Kopf aus dem Flügel, darin er ihn während des Schlummers geborgen hatte, und meinte: »Niemand! Wer soll auch jetzt schon kommen? Es dämmert ja kaum. Und ich höre nichts. Keinen Laut!«
Unten, vom Gebüsch her, wisperten die Meisen: »Doch! sicherlich! Jemand ist unterwegs. Das hat uns geweckt. Seltsam! Wir staunen.«
Mit schlaftrunkener Stimme zirpte die Amsel: »Ich wundere mich gleichfalls. So früh! So früh!«
Da kreischte der Häher: »Faline! Hach! Faline und ihre Kinder!«
Jetzt fing der Specht zu trommeln an: »Die brave Faline!« Er lachte gellend. »Die dumme Faline! Zu komisch!« Er hielt nämlich alle Geschöpfe für dumm außer sich selbst, und er trommelte stürmisch; das klang alarmierend.
Aus den Nestern flatterten die Krähen. »Faline!« krächzten sie mißbilligend, »Faline tut, was die Kinder befehlen! Eine Erziehung! Unerhört!« Sie stoben flügelklatschend davon.
In den Baumwipfeln regten sich die Tauben. »Stillsitzen!« mahnten sie einander, »sitzen bleiben, bis es hell wird. Noch lauert die Eule! Noch jagt der Kauz!«
Nun vernahmen alle leise zögernde Schritte.
Auf dem schmalen Pfad bogen sich die Zweige zur Seite; sie hingen schwer von Tau, und dicke Tropfen näßten das Fell der Rehe, die hier täglich gingen.
»Du bist merkwürdig, Geno«, sagte Faline zu ihrem Sohn, »warum drängst du immer so sehr, dich hinzulegen?«
»Weil ich müde bin«, antwortete Geno kurz.
»Er ist gar nicht müde«, ließ sich Gurri vernehmen, die immer dicht an der Flanke Falinens blieb. »Ich hätte noch so gerne draußen auf der Wiese gespielt.«
»Lauf doch hinaus!« rief Geno, »lauf nur! Ich bin müde und schläfrig.«
»Aber nein!« widersprach die Schwester, »das glaub ich dir nicht.«
»Dann laß es bleiben«, murrte jetzt Geno unwirsch.
»Kinder ... Kinder ...«, beschwichtigte Faline.
Die Geschwister neckten einander. Sie waren ganz jung, waren kaum im Begriff, die weißen Sprenkel zu verlieren, die sie bei ihrer Geburt mit auf die Welt gebracht hatten. Ihre roten Röckchen färbten sich um einen Schatten dunkler.
»Boso und Lana sind gewiß noch draußen«, klagte Gurri, »die warten, bis ihnen die Mutter das Zeichen gibt, einzuziehen. Nur du wartest nie! Aber so früh wie heute ...!«
Geno schwieg.
»Tante Rolla wird mit ihnen nun gewiß schon zur Ruhe gehen«, sagte Faline.
»Ach, es ist noch lang Zeit«, plauderte Gurri, »und ich hab die beiden so gerne, Boso und Lana.«
»Ich mache mir gar nichts aus ihnen«, urteilte Geno.
»Sie sind so fröhlich«, wandte Gurri ein.
»Albern sind sie!« beharrte Geno.
»Natürlich! Nur du bist gescheit!«
»Ich? Ich bin ein Kind!«
»Wir alle sind Kinder. Und Boso ist reizend.«
»Meinetwegen.«
»Lana hat ein ... sie schaut entzückend aus.«
»Lana?« Geno wollte spotten, da entfuhr ihm ein Schreckensruf. »Ba –« Er sprang mit allen vier Läufen hoch.
Durch Farne und Lattich raschelte etwas.
»Wer war das?« Geno zitterte am ganzen Leib.
»Nur der Iltis«, gab Faline Auskunft, »der tut dir nichts. Hab keine Angst.«
Doch Geno wurde schwer wieder ruhig; die Witterung atmend, stotterte er: »Dieser Iltis ... riecht fürchterlich.«
Gurri erklärte: »Geno hat immer Angst. Immer ist er bange. Deshalb müssen wir auch gar so zeitig ...«
»Schwatz nicht«, unterbrach sie Geno, »sicher ist sicher. Du wirst noch einmal mit deinem Leichtsinn ins Unglück geraten. Sicherheit bleibt das Allerbeste.«
»Er zittert noch«, lächelte Gurri, »auch auf der Wiese waren wir sicher.«
»Hier sind wir es viel mehr.«
»Als ob hier drinnen nichts passieren könnte!« Gurri lachte. »Wenn der Iltis vorbeihuscht, kannst du dich nicht fassen.«
»Ich bin eben erschrocken«, rechtfertigte sich Geno, »und der Bursche stinkt entsetzlich.«
»Laß deinen Bruder«, mengte sich Faline in das kindliche Geplänkel, »Geno hat recht. Vorsicht ist für uns notwendig. Wachsamkeit bleibt unsere Bestimmung. Die Welt mag wundervoll herrlich sein, aber sie birgt zahllose Gefahren. Wer von uns lange leben, wer sich an der Welt erfreuen will, darf in der hellsten Lustigkeit niemals vergessen, wie viele Gefahren uns umlauern. Beständig müssen wir auf der Hut sein. Dann ist alles schön. Wir können uns nicht sonderlich wehren. Unsere Waffen sind Aufpassen, uns verbergen und rechtzeitige Flucht. Lieber zu früh von der Wiese fort als zu spät. Geno ist klug, und er wird hoffentlich lange leben.«
Die Kinder lauschten.
Geno ging stolz in dem leise schwankenden Schritt ganz junger Rehe.
Gurri ließ die Ermahnungen der Mutter von sich abgleiten; sie nahm das oft Gehörte leicht. Die Stimme der Mutter klang angenehm zärtlich, doch was sie sagte, berührte die Kleine nur oberflächlich, und Gurri blieb heiter.
Nun waren sie angelangt.
Ein enger Platz, umhegt von dichtem Buschwerk, überschattet von hohen alten Eschen, Buchen und Eichen, bot ihnen Heimstätte, gewährte so guten Schutz, wie man nur überhaupt verlangen konnte. Eine hohe Pappel überragte schlank die anderen Bäume. Gleich Mauern standen hier Haselstauden, Holundersträucher, wuchsen Hartriegel, Liguster, und weiches, duftendes Moos deckte die schwarze Walderde beinahe völlig. Hier hatte Faline ihre Kinder geboren. Das Eichhörnchen kam zu dieser schweren Stunde damals neugierig und teilnahmsvoll herbei und blieb seither Faline wie den Kindern freundschaftlich verbunden. Hier unten im Gebüsch, oben in den Wipfeln nisteten noch andere Freunde, die Elster, der Häher, der Specht, die Schar der Meisen, und alle behüteten den Schlaf der Rehe, alle gaben Warnungszeichen, wenn sich jemand näherte, der vielleicht böse Absichten hatte.
Behaglich tat sich Faline nieder; Geno und Gurri schmiegten sich an ihren warmen Leib. Geno bat: »Mutter, erzähl uns etwas.«
»Ich hab' geglaubt«, rief Gurri dazwischen, »ich hab' geglaubt, du bist schläfrig.«
»Was soll ich erzählen?« fragte Faline.
»Erzähle von deinem Bruder Gobo«, schlug Geno vor.
»Ja, ja!« stimmte Gurri ein, »von Gobo, von Gobo!«
»Die Geschichte habt ihr doch schon oft gehört.«
»Das macht nichts«, meinte Geno, »sie ist so spannend.«
Und Gurri sagte eifrig: »Diese Geschichte kann ich immer hören, immer! Dabei fürchte ich mich so schön.«
»Der arme Gobo«, seufzte Faline, »er war als Kind sehr schwach, und den Winter vermochte er nicht zu ertragen.«
»Was ist das, Winter?« begehrte Geno Auskunft.
»Er fragt schon wieder«, ärgerte sich Gurri, »wie oft soll die Mutter dir sagen, was Winter ist?«
»Weißt du es denn so genau?« erwiderte Geno.
Und bekam die Antwort: »Winter ist, wenn man Hunger hat.«
»Dann hab ich jeden Tag Winter«, erklärte Geno und bat die Mutter: »Sag also, was Winter ist – das gehört zur Geschichte.«
»Ja«, sprach Faline, »es ist schon richtig, was Gurri sagt. Man hungert und man findet nur wenig, oft auch gar nichts zu essen. Die Bäume und Sträucher stehen nackt; ihr Laub welkt auf der Erde, das Gras verdorrt mit allen Kräutern; sie sind tot, schmecken bitter oder sauer. Man friert vor Kälte und muß froh sein, wenn einem der Schnee nicht die Füße blutig reißt.«
»Gleich wird er fragen, was Schnee ist«, meldete Gurri.
»Gewiß frage ich«, versicherte Geno, »denn das macht die Geschichte so fürchterlich.«
»Schnee«, berichtete die Mutter, »fällt vom Himmel, weiß und kalt. Schnee bleibt am Boden liegen, zuweilen so hoch, daß es Plage kostet, ja daß es unmöglich wird, sich ein bißchen Nahrung hervorzuscharren. Das Gehen, erst gar das Laufen oder Springen wird sehr mühsam. Man braucht Kraft.«
»Jetzt weiter von Gobo«, bat Geno. Faline erzählte: »Der arme Gobo hatte keine Kraft. Als der wilde Schrecken durch den Wald tobte, mußten wir alle flüchten. Viele sind von der Donnerhand getroffen worden, nicht nur Rehe. Viele Fasanen und Hasen, sogar Füchse. Auch der Vater hat an diesem entsetzlichen Tag seine Mutter verloren. Gobo ist im Schnee zusammengestürzt. Der Vater war damals ein Kind, nicht älter als Gobo, aber gesund und stark. Er kam an Gobo vorbei; er hat ihn gesehen, hat mit ihm gesprochen, hat ihm zugeredet, ihn gebeten, sich aufzuraffen, doch mein unglücklicher Bruder vermochte das nicht, und die beiden haben Abschied voneinander genommen; sie glaubten für immer. Wir alle dachten, es sei aus und zu Ende mit Gobo.«
»Und dann?« drängten die Kinder.
»Dann ist Gobo wieder gekommen. Plötzlich war er da! Groß, gesund und schön. Unsere Mutter hatte eine riesige Freude, Gobo hatte Freude, wir alle haben uns gefreut. Nur der alte Fürst sagte ›Unglücklicher!‹ Wir waren dem Ehrwürdigen deswegen gram, aber leider hat der alte Fürst recht behalten. Dafür war er eben der Fürst und klüger als alle anderen. Gobo wußte nicht genug zu schildern, wie gut Er zu ihm gewesen, wie Er ihn aus dem Schnee gehoben, wie Er ihn gepflegt und genährt hat. Gobo glaubte fest, Er wäre sein Freund ...«
Ein lauter Donnerschlag unterbrach Faline. Sie zuckte ein wenig. Aber die Kinder sprangen in die Höhe und standen bebend da.
Endlich stammelte Geno: »Wenn ... jetzt ... der Vater getroffen ist ...«
Gurri fing an zu wimmern.
»Seid ruhig, Kinder«, beschwichtigte Faline, »sorgt euch nicht um den Vater; den kriegt Er nie! Jetzt ist der Vater dahier im Wald der Fürst.«
Ringsum herrschte nach dem kurzen Donner tiefes Schweigen.
Die Kinder legten sich wieder zur Mutter. Sie vergaßen das Erschrecken sehr rasch.
Das Eichhörnchen kam herbeigesaust und jubelte: »Den Marder hat Er vom Baum geholt! Den Marder, den blutgierigen, den unbarmherzigen Marder!«
Im Einschlafen vernahmen es die Kinder, und Faline flüsterte: »Gut, daß es keiner unserer Verwandten war.«
Es wurde immer lichter, es wurde hell.
Mit berstendem Schrei flatterten, schwingenknatternd, die Fasane von ihren Schlummerplätzen zu Boden.
Auf den höchsten Spitzen der Baumwipfel flöteten, trillerten die Amseln ihr Morgenlied.
Der Kuckuck rief nah und fern und ließ ein leises, kehliges Lachen vernehmen.
Die Tauben begannen ihren eintönigen, melodischen Liebesgesang.
Der Pirol schleuderte sich wie ein goldener Ball von Baum zu Baum und wiederholte sein Jauchzen: »Ich bin so froh!«
Die Meisen führten in den Büschen ihr lebhaftes zartes Wispergespräch.
Der Häher schnarrte von Zeit zu Zeit jäh auf, als wäre er zornig. Eigentlich war er immer zornig.
Lustig schmetterten Finken und Rotkehlchen.
Der Specht trommelte an den Baumstämmen und stieß oft ein gellendes Lachen aus.
Geschäftig schäkerten die Elstern.
Am Boden raschelten die Mäuse.
Hoch in den Lüften scholl kühner Falkenruf, sauste schwirrender Entenflug.
Faline und die Kinder schliefen friedlich. Der Wald war erwacht.
Ein sachter Wind strich durch die Bäume, daß sie leise rauschten. Feurig stieg die Sonne empor, eine am Himmel lodernde, aber wohltuend zärtliche Flamme.
In der abendlichen Dämmerstunde gingen die Kinder mit ihrer Mutter auf die Wiese.
Gurri wollte vorauseilen, doch Faline rief sie zurück.
»Ich habe dir streng verboten, so allein hinauszurennen! Du mußt warten, bis ich draußen bin. Halte dich an deinen Bruder; er ist folgsam, und er bleibt artig hinter mir. Denke doch an die Gefahr!«
»Ich bin sehr hungrig«, entschuldigte sich Gurri.
»Oh, wenn sie Hunger hat, vergißt sie alles«, spottete Geno, »da wird meine Schwester sogar tapfer.«
»Die einzige Tapferkeit, die sich für uns schickt, ist wachsame Angst«, erklärte Faline.
Sie stand und prüfte die Gerüche mit witternder Nase, ließ die Augen überall umherschweifen, fragte die Elster, die zum Nest flog, ob etwas Bedrohliches im Anzug wäre.
»Nichts! Weit und breit nichts«, antwortete die Elster und verschwand.
»Weit und breit nichts«, wiederholte das Eichhörnchen, das von oben, von den höchsten Zweigen herunterturnte, auf einem breiten Ast saß, die Fahne aufgepflanzt hatte und die Vorderpfoten beteuernd an die weiße Brust drückte. »Ich habe mich genau umgeschaut – keine Gefahr!«
Trotzdem blieb Faline, ohne sich zu rühren, wo sie stand. Nur ihre Lauscher spielten, ihre Nase zog immer Witterung ein. Im Gitter des Laubes war ihr Gesicht kaum wahrnehmbar.
Die Amsel beendigte ihr Abendlied. Der Kuckuck ließ einen letzten Ruf vernehmen; dann wechselte er auffällig den Platz, um nächtliche Verfolger zu täuschen, flog bald dorthin, bald dahin und setzte sich schließlich irgendwo, dicht an einen Baumstamm gedrängt, zur Ruhe.
Der Specht schlief schon. Selbst der mißtrauische Häher barg den Kopf unter die Schwinge. Die Meisen, die Tauben verstummten.
Durch die Luft brauste Entenflug. Ein Reiher zog mit ausgebreitetem Fittich, die langen, dünnen Ständer stramm nach hinten gestreckt, im erblaßten Firmament dahin. Er glich einem Schwimmer; die Menschen erinnerte er an ein Flugzeug.
Vom Dickicht der Holunderbüsche her tönte jetzt das holde Singen der Nachtigall.
»Ist Tante Rolla mit den Kindern schon draußen?« erkundigte sich Gurri ungeduldig.
»Nein«, sagte Faline.
»Na eben«, meinte Gurri, »wir gehen immer viel zu früh weg von der Wiese und manchmal zu früh hinaus.«
»Du aber redest viel zu viel«, tadelte Geno.
Faline trat Schritt vor Schritt auf die Wiese, sicherte noch eine kleine Weile, kehrte sich dann zur grünen Wand des Dickichts und rief leise: »Jetzt kommt!«
Die Kinder sprangen hinaus.
Geno fing sogleich zu äsen an.
Plötzlich hob er das Haupt, lief zur Mutter und erkundigte sich: »Bist du auch ganz gewiß, daß keine Gefahr droht?«
Ehe Faline antworten konnte, meldete Gurri: »Da sind sie ja! Tante Rolla und Boso und Lana!«
Die drei spazierten mitten über die Wiese. Sorglos hielt Rolla ihre Mahlzeit, während die Kleinen miteinander spielten, auch hie und da ein wenig naschten.
Gurri rannte ihnen entgegen; possierlich unbeholfen, doch anmutig wie alle diese Rehkinder.
Etwas langsamer folgte ihr Geno; seine schüchternen Sprünge, sein oftmaliges Innehalten und sein rasches, altkluges, sicherndes Aufwerfen nahmen sich noch drolliger aus. Er hatte die vollendete Grazie der Unschuld.
Boso und Lana stürmten heran, so heftig, daß sie die zarten Läufe spreizen mußten, als sie stehenblieben.
»Da ist ein merkwürdiger Geselle«, berichtete Boso atemlos.
»Ihr müßt ihn euch anschauen«, fügte Lana hinzu, »wir führen euch zu ihm.«
»Er wird schon auf und davon sein«, zögerte Geno.
Aber Lana versicherte: »Oh, der marschiert nicht so schnell.«
»Ist es kein Feind?« erkundigte sich Geno.
»Ein Freund ist er gerade nicht«, sagte Boso heiter.
Belustigt stellte Lana fest: »Freund oder Feind, das bleibt bei dem kleinen Kerl ganz egal.«
Gurri drängte: »Ich will ihn sehen.«
Die drei Kinder überhörten Genos Einwand, »wenn er kein Freund ist, mag ich ihn überhaupt nicht«. Sie liefen einfach drauflos. Dabei hopsten sie kreuz und quer, konnten eine geradlinige Richtung kaum halten, so spielerisch und ungeschickt wie sie waren.
Geno folgte ihnen bedächtig, aber neugierig.
»Komm doch her!« rief ihm Boso zu.
Und Gurri beruhigte ihn: »Du brauchst keine Angst zu haben!«
Dann umstanden alle vier den Igel, der mürrisch dahockte und sie mit den dunklen Perlen seiner Augen anfunkelte.
Boso wollte ihn beschnuppern, fuhr aber erschrocken zurück. »Er sticht!« sagte er bedauernd.
Der Igel sträubte zornig seine Stacheln.
Gurri und Lana fühlten sich getrieben, das gleichfalls zu versuchen. Behutsam schnupperten sie an dem Fremden und zuckten ergötzt in die Höhe. »Wirklich!« bestätigten sie, »er sticht!«
»Höre, mein Guter«, sprach Gurri zu ihm, »es ist sehr klug von dir, daß du dich so bewaffnest; aber uns brauchst du nicht zu stechen. Wir tun dir nichts!«
»Wir tun keinem etwas«, erklärte Geno.
Der Igel murrte: »Ich lasse mir nichts tun!«
»Wie schön wäre das«, seufzte Lana, »wenn wir solche Waffen hätten! Lang, scharf und spitz!«
»Am ganzen Körper!« träumte Gurri.
Geno meinte sehnsüchtig: »Vieles wäre leichter für uns!« Er fragte: »Wer bist du eigentlich?«
Der Igel grollte: »Wer ich bin, geht dich ein Staubkorn an. Mich kümmert's auch nicht, wer du bist.«
»Was für ein grober Bursche«, entrüstete sich Gurri.
Die feine schwarze Schnauze des Igels regte sich; er zog die Mundwinkel nach aufwärts, als lächelte er hämisch: »Ich finde keine Ursache, mit euch höflich zu sein. Ihr stört mich. Gebt mir den Weg frei.«
»Ja«, entschied Geno nachgiebig, »lassen wir ihn gehen.«
Die anderen stimmten bei: »Lassen wir ihn gehen.«
Sie wendeten sich fort. Nur Geno kehrte noch einmal um. »Entschuldige«, sagte er mild, und da keine Antwort kam, wiederholte er, »entschuldige, wir haben dich nicht beleidigen wollen.«
Der Igel schwieg geringschätzig, voll Aerger. Er watschelte, eifrig suchend und schwerfällig, weiter.
Eine Weile tummelten sich die Kinder übermütig umher; das Gras zischte seidig, wie sie mittendurch dahinfuhren.
»Boso läuft am schnellsten«, sprach Gurri mit Anerkennung. Sie mochte ihn gerne und wollte ihn ermuntern.
»Gefahr! Gefahr!« rief Lana mit raschem Einfall.
Sofort setzte sich Geno in hohe Flucht. Niemand konnte ihn einholen.
»Es war nur ein Scherz!« schrien sie zusammen.
Er war außer Atem und rutschte noch ein paar Schritte, bevor er innezuhalten vermochte.
»Geno ist doch der Geschwindeste«, konstatierte Lana.
Gutmütig und ein wenig keuchend fragte Geno: »Warum hast du mich so erschreckt?«
»Weil ich zeigen wollte, daß du es bist, der am schnellsten von uns läuft«, antwortete Lana.
Gurri meinte: »Wenn wir an die Gefahr geglaubt hätten, wären wir alle rascher gewesen.«
»Schaut doch unsere Mütter an«, warf Boso ein, »sie sind ganz ruhig beisammen.«
Faline und Rolla sprachen während der Mahlzeit still miteinander. »Es ist schwer«, klagte Rolla, »ich weiß nicht, was ich tun soll ...«
»Was meinst du denn?« erkundigte sich Faline.
»Die Zeit ist nahe, in der die Gekrönten uns suchen; man hat keine Ruhe vor ihnen.«
»Nun ... und ...?«
»Ob ich mich wieder mit einem verbinde ...«
»Du wirst wohl müssen«, entschied Faline.
»Dir geht es gut«, flüsterte Rolla, »du bist glücklich. Du hast Bambi!«
»Ja«, lächelte Faline, »da hast du recht, ich bin glücklich.«
»War er schon bei den Kindern?« begehrte Rolla zu wissen.
»Ein einziges Mal. Doch sie haben ihn nicht zu Gesicht bekommen.«
Ehrfürchtig raunte Rolla: »Jedem von uns widerfährt es ganz selten, daß er den Fürsten erblickt. Immer ist's ein Fest.«
»Auch ich sehe ihn oft lange nicht«, gestand Faline, »aber stets fühle ich seine Nähe.«
»Rufst du ihn da nicht?«
»Nein. Selbst wenn die Sehnsucht mich zwingen will. Du kennst ja die Zeit der Sehnsucht, nicht wahr? Selbst dann rufe ich ihn nicht. Er hat es mir einmal verboten. Ich ahne nicht, weshalb. Ich stelle keine Fragen, ich gehorche. Es geht eben so und nicht anders, ich muß Bambi blind gehorchen.«
Leise, sehr leise sagte Rolla: »Ich werde niemanden rufen.«
Es war finster geworden. Am nächtlichen Himmel glitzerten die Sterne. Im zackigen Jagdflug schwirrten Fledermäuse, warfen sich bald höher, bald tiefer. Lautlos schwebte die Eule daher, und von den Bäumen, darauf sie für Minuten ruhte, klang ihre melancholische Stimme, langgezogen, schwermütig, beinahe schön: »Haah – ah – hahaha – haa – ah!«
Am Waldsaum erschien ein starker Rehbock, begann eifrig zu äsen, hob jedoch immer sein Haupt und sicherte.
Die Kinder nahmen ihn wahr; sie wurden von Bangigkeit ergriffen.
Gurri kam gelaufen. »Ist das der Vater?« fragte sie mit Herzklopfen.
»Keine Spur! Der gehört zu den minder Gekrönten«, lautete die wegwerfende Antwort.
Inzwischen deutete Geno auf den Rehbock und erkundigte sich bei Boso: »Ist der Gekrönte dort euer Vater?«
Traurig entgegnete Boso: »Wir haben keinen Vater. Solange wir denken können, sind wir ohne Vater.«
Lana teilte wichtig mit: »Unser Vater ist von der Donnerhand getroffen worden.«
»Wir haben ihn nie gesehen«, ergänzte Boso, »die Mutter hat uns von ihm erzählt.«
Sachlich fügte Lana hinzu: »Das ist geschehen, bevor wir noch auf der Welt waren.«
»Die Mutter blieb bei dem gefallenen Vater stehen«, berichtete Boso, »er blutete stark und lebte schon nicht mehr. Trotzdem wollte sie ihn nicht verlassen. Aber«, schloß Lana, »sie durfte nicht bleiben, denn Er hat sie weggescheucht.«
Gurri war von der Mutter zurückgekehrt; sie hatte einen Teil der Geschichte vernommen und meinte leichthin: »Man kann auch ohne Vater leben.«
Lana seufzte ein wenig: »Es ist doch besser, wenn man einen Vater hat.«
Verspätete Glühwürmchen tanzten über der Wiese auf und nieder, irrten als leuchtende Punkte durchs Gebüsch.
»Was kann das sein?« staunten die Kinder. Sie rannten zu den Müttern.
»Sieh doch, wie schön!« rief Lana und Boso flüsterte erregt: »Wunderschön!«
Der tote Vater war vergessen.
»Mutter«, bestürmte Gurri als erste Faline, »woher kommen diese Lichter?«
»Guck dort hinauf«, wies Faline zum Himmel.
Die vier Kinder hoben die Augen zu den Sternen empor.
»Dort funkeln unzählige Lichter«, sprach Faline, »größere und kleinwinzige und alle sind lebendig. Einige von ihnen werden neugierig, wie es hier unten zugeht. So neugierig werden sie, daß sie sich nicht begnügen, uns gleich den anderen aus der Ferne zu betrachten. Sie fliegen herunter. Aber das ist ein großes Wagnis.«
»Wieso ein Wagnis?« forschte Geno dringend, den dieses Wort reizte.
»Nun, es sind die Kleinsten und die Jüngsten, die das tun«, redete Faline weiter, »es ist eine ungeheure Entfernung; sie werden oft beim Zurückfliegen müde, sie werden ganz erschöpft. Denn das Herunterfliegen ist leicht, das Hinauffliegen jedoch ist furchtbar anstrengend.«
»Was geschieht ihnen dann?« fragte Gurri.
»Sie löschen aus und sterben.«
»Traurig ist das«, meinte Geno, »ihre Eltern sollten sie warnen, sollten ihnen verbieten, herunterzufliegen.«
»Neugierige, vorwitzige Kinder lassen sich nicht warnen, und das Verbieten nützt noch weniger«, sagte Faline.
»Hörst du, Gurri?« mahnte Geno.
Aber Gurri brach aus: »Ich bewundere alle! Sie sind tapfer!«
»Was hilft das Tapfersein, wenn man daran sterben muß?« erwog Geno.
»Schön ist es!« schwärmte Gurri, »beneidenswert schön!«
»Sicherheit und Leben«, beharrte Geno, »bleiben immer das Schönste.«
Die Kinder rannten dem tanzenden Schweben der Glühwürmchen nach; jedes irrte genarrt in eine andere Richtung.
Die Mütter blieben wieder allein.
»Woher weißt du das?« erkundigte sich Rolla.
»Was denn?«
»Nun, das von den Lichtern?«
»Meine Mutter hat es mir erzählt, als ich noch klein war«, antwortete Faline, »ich bin gerade so erstaunt gewesen wie jetzt unsere Kinder. Mich rührt auch heute noch der Anblick dieser verlorenen Lichter.«
»Hast du bemerkt, sie kommen nur einmal«, sagte Rolla, »nur einmal, wenn alles wieder grün geworden ist, wenn die Kräuter duften und die Vögel singen und der Kuckuck wieder ruft.«
»So?«
»Ja, Faline! Und eine ganze Zeit, wenn sie fort sind, diese Lichter, ich fühle genau, wie lange diese Zeit währt, da ergreift uns die Sehnsucht, die so unwiderstehlich ist. Und dann werden wir von den Gekrönten zärtlich verwöhnt. Die Lichter sind mir stets die ersten Vorboten.«
»Mir ist das nie aufgefallen«, entgegnete Faline, »du aber denkst immer nur daran.«
Rolla beteuerte: »Diesmal werde ich wohl keine Sehnsucht haben.«
»Wer weiß«, zweifelte Faline.
»Ich glaube es nicht«, sprach Rolla vor sich hin, »seit Er mit der Donnerhand meinen Gatten ermordet hat – oh! nie kann ich vergessen, wie er im Blut dagelegen ist und sich nicht mehr geregt hat – seit jenem Morgen fürchte ich mich nur vor der Sehnsucht.«
»Du sagst ja selbst«, versetzte Faline, »daß die Sehnsucht unwiderstehlich ist.«
»Eben deshalb!« gestand Rolla voll Scham.
Geno rief unweit frohlockend: »Da! da! Ein Licht hat sich niedergelassen!«
Die andern eilten herbei, umstanden voll Begeisterung ein Glühwürmchen, das im Grase lag und matt schimmerte.
»Siehst du, törichtes Kind«, redete Geno zu ihm, »warum hast du das große Wagnis unternommen?«
»Tapferer, kleiner Himmelsbote«, flüsterte Gurri, »ruh dich aus! Ruh dich gut aus! Dein Heimweg ist weit und mühsam.«
»Es wird nicht heimkommen«, meinte Lana, und Boso urteilte: »Es ist viel zu müde.«
»Darum soll es sich ausruhen, das arme Kleine«, widersprach Gurri, »dann kommt es schon wieder zu Kräften.«
Das Glühwürmchen machte mit seinem lockenden Schein eine Pause.
»Es ist erloschen!« Gurri war gerührt.
»Aus!« Boso wollte sich abwenden.
»Schade!« Lana war im Begriff, dem Bruder zu folgen.
»So geht es immer!« predigte Geno, »ja, so geht es immer. Man darf die Warnungen nicht mißachten.« Auch er drehte sich fort. Für ihn galt die Sache als erledigt.
Nur Gurri blieb wartend stehen.
Da fing das Glühwürmchen zu zwinkern an und leuchtete gleich darauf wieder ganz hell.
»Es lebt!« jauchzte Gurri, »es hat sich erholt! Es lebt! Es lebt!«
Als Faline mit den Kindern wieder einmal schlafen ging, saß auf der kleinen Blöße, die sich im Dickicht öffnete, der Hase.
Er hielt das Haupt schräg empor, seine Schnurrhaare bebten unablässig, so stark witterte er beständig. Er sah kummervoll und nachdenklich aus.
»Zum Gruß, Freund Hase«, sprach ihn Faline an.
Er schnellte beide Löffel hoch. »Zum Gruß! Zum Gruß!« klang seine Antwort mit leiser gepreßter Stimme. Es war, als risse er sich aus seinen versorgten Gedanken und suchte Fassung zu erlangen.
»Das sind deine Kinder?« fragte er tief ergeben. Immer leise fügte er hinzu: »Schöne, gesunde Kinder.«
»Gefallen sie dir?« Faline vergnügte dieses Lob.
»Die jungen Herrschaften müssen jedem gefallen.« Der Hase ließ die Löffel sinken.
Geno und Gurri standen dabei und betrachteten den Hasen aufmerksam.
Der redete zu ihnen: »Nehmt euch nur in acht, meine Verehrten, daß euch nichts Böses geschieht. Auch ihr gehört zu den Guten, zu den Edlen, zu den Unschuldigen und gerade die werden immer verfolgt. Am meisten hütet euch vor dem grausamen Fuchs.« Der Hase war ergriffen. »Ihr dürft nicht beleidigt sein, weil ich euch warne. Ich sehe euch heute zum erstenmal.«
»Gehst du nie auf die Wiese?« mengte sich Faline ein.
»Du merkst«, entgegnete der Hase, »ich sitze hier ganz nah am Saum der Dickung. Ein Ruck und ich verschwinde. Mit der Wiese ist es vorbei. Ich traue mich nicht mehr hinauszugehen.«
»Deshalb habe ich dich so lange nicht getroffen.«
»Ach«, klagte der Hase, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe!«
Plötzlich schlug er die Löffel hoch, richtete sich steil auf, daß die kurzen Vorderbeine in der Luft tasteten und sein weißwolliger Bauch sichtbar wurde. »Hörst du nichts?« Er witterte leidenschaftlich, seine Schnurrhaare bebten heftig.
Faline warf das Haupt empor, breitete die Lauscher, zog prüfend den Atem ein: »Alles ist ruhig. Alles. Du bist gar zu ängstlich, Freund Hase.«
Geno hatte gleich der Mutter gelauscht und geschnuppert, denn er war erschrocken. Jetzt meinte er schüchtern: »Man kann nie zu ängstlich sein.«
»Klug gesprochen, mein junger Prinz, sehr klug«, stimmte der Hase zu. »Ich will dir erzählen, Faline, was mir passiert ist. Etwas Furchtbares! Mich hat der Fuchs überfallen! Wirklich, man weiß schon gar nicht mehr, wo man sitzen, wo man essen soll, nah am Rand des Gebüsches oder mitten in der Wiese. Du kennst mich, du weißt, wie vorsichtig ich bin; jedenfalls war ich nur zwei Hopser von der Dickung entfernt. Da, auf einmal stürzt der Räuber hervor, genau an der Stelle, wo ich herausgegangen war. Er ist sicherlich meiner Fährte gefolgt.«
»Wäre es nicht besser gewesen, weiter in die Wiese zu gehen?« fragte Faline.
»Das habe ich früher immer getan«, erklärte ihr der Hase, »und auch damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht. Einmal, es war schon fast hell, bin ich beinahe der großen Eule in die Fänge geraten, in die mörderischen Krallen. Drei Kinder hat sie mir vor meinen Augen weggeschnappt, drei reizende kleine Kinder. Dann wieder kam mir der spitznasige Schleicher ganz nahe, ohne daß ich ihn hörte. Himmel, bin ich gerannt, vor der Eule und vor dem Fuchs! Ich sage ja, man weiß nie, wo man sitzen und einen Bissen in Ruhe essen kann.«
Er richtete sich wieder mit hochgeschlagenen Löffeln kerzengerade auf, horchte und schnupperte.
»Keine Gefahr!« beschwichtigte Faline, nachdem sie und Geno gleichfalls geschnuppert hatten.
»Erzähle weiter«, bat Gurri voll Gespanntheit.
»Also, wie ich nahe an der Dickung saß, stürzt der rote Halunke hervor«, berichtete Freund Hase, »stürzt hervor mit gefletschten Zähnen. Ich sehe den grimmigen Rachen, die gierigen Augen; sein übler Geruch weht mich an, und zuerst faßt mich lähmendes Entsetzen. Aber ich mache ganz von selbst ein paar ratlose Sprünge in die Wiese. Er mir nach, dicht hinter mir. Ich halte mich für verloren und beginne zu laufen. Er immer hinter mir drein. Jetzt schlage ich scharf einen Haken; er rennt geradeaus, und ich gewinne endlich einen kleinen Vorsprung. Doch das nützt mir wenig. Er hetzt mich, hetzt mich, daß mir der Atem ausgeht und der Schädel hämmert. Drei Haken habe ich vollführt, bis ich das Dickicht erreichte. Mir schwirrt es vor den Augen. Renne, was du kannst, denke ich, es geht um dein Leben! Doch ich fühle, daß ich nicht mehr viel weiter kann. Dort in den Hartriegelbüschen drüben kenne ich eine Grube. Drauflos ohne Haken! Ich lasse mich hinunterfallen, liege erschöpft da, mit rasendem Herzklopfen, habe noch sein Keuchen im Gehör; ich zittere und erwarte mein Ende. Um nichts wäre ich imstande gewesen, mich zu regen. Mir ist alles gleichgültig, mag er kommen, sage ich zu mir. Doch er kommt nicht! Er kommt nicht! Langsam fasse ich das Glück, er kommt nicht! Wehrlos bin ich, und er ist stark; aber ich bin schneller als er, und ich habe ihn müde gemacht! Heute noch, wenn ich mich daran erinnere, schüttelt mich das Grauen.«
Der Hase schwieg, die Löffel eng an den Rücken geschmiegt.
»Deine Geschichte werde ich nie vergessen«, versicherte Geno erschüttert, um dann die Mutter zu drängen: »Komm endlich schlafen.«
Faline nahm Abschied: »Gesundes Wiedersehen, Freund Hase.«
»Ein Wunsch für uns alle«, erwiderte der trübselig.
Gurri blieb eine Sekunde zurück, beugte sich nieder, küßte die Stirne des Hasen und flüsterte: »Ich danke dir für deine Erzählung.«
Sie sprang davon.
»Möge dich der Fuchs nie erwischen, kleine Prinzessin«, rief ihr der Hase nach.
Mutter und Kinder begaben sich zur Ruhe.
Allein heute sollte noch mehr, sollte Wichtiges geschehen.
Etliche Stunden später war es. Die Sonne sandte schon heiße Strahlen durch das Laubgitter der Wipfel; die Blätter, die Kräuter, die reifenden Früchte dufteten unter der Sonnenglut; der harzige Geruch des warmen Holzes strömte scharf und kräftigend durch den Wald. Es schwatzten die Meisen, der Pirol schwang sein Jauchzen von Baum zu Baum, der Specht hämmerte und lachte gellend, die Elstern schakerten, der Häher kreischte, Finken, Rotkehlchen, Zeisige sangen ihre Lieder, dazwischen rief der Kuckuck, gurrten die Tauben.
Da wurde Faline mit eins hell wach, erhob sich und weckte die Kinder.
»Auf, Geno! Gurri, auf!«
»Was soll's?« Erschrocken stand Geno gleich auf seinen Läufen, fluchtbereit.
»Keine Gefahr!« herrschte Faline ihn an. »Der Vater ist da!«
»Der Vater!« rief Gurri; sie war noch ganz schlaftrunken, doch es riß sie empor.
Nun riefen beide sehnsüchtig: »Vater! Vater!«
»Wo bist du, Vater?« sagte Gurri zärtlich.
Und Geno fügte hinzu: »Wir sehen dich ja nicht ...«
»Still!« befahl die Mutter, »ihr dürft den Vater nicht anreden! Ihr müßt warten, ob er zu euch spricht! Seid nur bescheiden und schön geduldig ...!«
Sie wendete sich dorthin, wo das Gebüsch am undurchdringlichsten war: »Zum Gruß, Bambi!«
Eine tiefe Stimme antwortete: »Faline, zum Gruß!«
»Die Kinder wünschen sich's so sehr, daß du dich ihnen zeigst.«
»Wenn sie können, werden sie mich sehen.«
Vom Blattwerk verhängt, undeutlich war Bambis Haupt erschienen; stolze, ernste Züge, große, dunkel leuchtende Augen und eine mächtige Krone, die braun geperlt mit langen, hellen Zacken sein Haupt zierte.
Es dauerte eine Weile, bis Geno ganz leise sprach: »Ich sehe dich, Vater ...«
»Wo? Wo?« drängte Gurri, »ich finde dich nicht, Vater.«
Die tiefe Stimme klang: »Suche und schaue.« Dann redete sie weiter: »Sind die Kinder, wie sie sein sollen?«
Faline gab Bescheid: »Gut sind sie und brav. Nur Geno fürchtet sich zu viel.«
»Recht, mein Sohn«, lobte ihn Bambi, »so bleibst du lange am Leben.«
»Aber«, wandte Faline ein, »er bringt sich um das Vergnügen, das er haben soll, und er ist unfreundlich.«
»Zu dir? Oder zu seiner Schwester?«
»Oh nein, zu uns nicht! Doch zu den anderen.«
»Jetzt sehe ich dich, Vater!« rief Gurri glücklich und ganz ohne Scheu, »jetzt sehe ich dich!«
»Mein kleiner Geno«, sprach Bambi, »es ist recht von dir, wenn du vorsichtig, wenn du furchtsam bist. Das gehört zu unserer Art. Einstweilen bin ich zufrieden mit dir. Du wirst jedoch lernen müssen, Achtsamkeit mit Frohsinn zu vereinen. Du wirst es später von mir lernen. Dann wird sich deine Furcht vermindern, deine Laune wird sich aufhellen, und du wirst allen Waldgenossen so liebenswürdig begegnen, wie es sich für unsereinen geziemt. Bis dahin vertraue deiner Mutter.«
»Ich bin zu allen im Walde sehr nett«, pries Gurri sich naiv an, »ich verlasse mich auf die Mutter, und ich habe immer frohe Laune.«
Bambi antwortete ihr nicht. »Faline«, ermahnte er, »die Kleine ist leichten Sinnes, du mußt sie sehr hüten.«
»Vater«, bat Gurri, »Vater!«
Nichts regte sich.
»Vater!« flehte Gurri noch einmal, scheu und leise.
»Er ist fort«, sagte Faline.
Die drei, Mutter und Kinder, horchten, angespannt mit regen Lauschern in das Dickicht.
»Fort«, wiederholte Faline nach einer Weile abschließend.
»Wann kommt er zu uns?« Gurri begehrte Auskunft.
»Bald«, tröstete die Mutter, »schlafen wir jetzt.« Sie tat sich nieder.
Gurri legte sich an ihre Seite und versank sofort in Schlummer.
Nur Geno blieb noch stehen, eifrig horchend. »Unbegreiflich!« bewunderte er den Verschwundenen, »unbegreiflich! Nichts war zu hören! Nichts! So lautlos ist der Vater weg! Von ihm kann man lernen. Von keinem als von ihm!«
Aber Faline und Gurri vernahmen Geno nicht mehr. Da streckte auch er sich hin, doch er fand lange keinen Schlaf.
Seit Wochen herrschte die Sonne.
Die Kinder hatten Regen noch nie erlebt.
Zogen hie und da Wölkchen herauf, konnten sie das glühende Tagesgestirn nicht verdunkeln; sie waren dünn, waren schmächtig, und sie wurden von der Sonne immer wieder zerstreut, zerstört, aufgelöst.
Die Luft kochte vor Hitze.
Selbst des Nachts trat kaum eine Abkühlung ein. In den Dickungen blieb es dumpfig schwül, und es gab fast keinen Tau mehr, die durstigen Geschöpfe des schmachtenden Waldes ein wenig zu laben. Das Wiesengras begann sich gelb zu färben. Die Farne, der Lattich, alle Kräuter am Boden des Dickichts wurden matt und dürr.
Von den Sträuchern, von den Bäumen hing das Laub schlaff, ermüdet hernieder. Ein beizender, unangenehmer Geruch schwebte manchmal über dem Ganzen, als erstickte der Wald.
Durch das Schilf des Ufers schlich der Fuchs.
Die Enten, die träg auf dem Wasser lagen, flüchteten tief ins raschelnde Röhricht.
»Dummes Volk«, knurrte der Fuchs, »ich habe keinen Hunger, nur einen entsetzlichen Durst habe ich. Quälenden Durst!«
Nahe beim Schilf hielt der Reiher auf dünnen, hohen Ständern, ohne sich zu bewegen; er schaute in die schlammigen, langsam hingleitenden Wellen.
Der Fuchs zuckte zurück, als er den Reiher sah.
»Du bist's«, sagte der Reiher, der den winzigen Kopf zur Seite drehte, »komm nur ruhig heraus.«
»Ich will nichts als ein wenig Wasser trinken«, versprach der Fuchs.
»Wenn du dich anständig benimmst«, entgegnete der Reiher geringschätzig, »darfst du meinetwegen trinken; ich werde dich sicherlich nicht forttreiben.«
Die zwei hatten schon früher ihre Waffen aneinander gemessen. Der Reiher ging damals gegen den Fuchs, der ihn erbeuten wollte, so wild-zornig los, er zielte mit dem langen, spitzen Dolch seines Schnabels so scharf nach den Augen des Feindes, daß der Fuchs entsetzt davonlief. Seither war, so oft sie sich trafen, ein gehässiger Friede zwischen ihnen. Der Reiher verachtete den Besiegten, hütete sich jedoch vor ihm, während der Fuchs einen tiefen Respekt vor dem jähzornigen, wehrhaften Reiher nicht mehr loswurde, zugleich aber ebenso stark die Wut des Gedemütigten empfand.
Jetzt trank der Fuchs gierig; der Reiher ließ keinen Blick von ihm.
»Lächerlich, daß ich mich vor ihm fürchte«, dachte der Fuchs, »ich bin doch keine Nahrung für ihn; warum habe ich Angst vor diesem widerlichen Burschen?«
Der Reiher dachte: »Er soll es nur wagen, er soll sich nur unterstehen, dann hat er keine Augen mehr, dieser rote Kerl! Ich wäre ein Bissen für ihn, das glaube ich. Aber mit mir ist nicht zu spaßen.«
Der Fuchs hatte den Durst gelöscht; mühsam barg seine Stimme die Scheu, die ihn beschlich, doch er rang um ein anständiges Abgehen und sagte: »Das Wasser ist trüb und warm. Ueberhaupt, es wird immer ärger.«
»Findest du?« warf der Reiher gleichgültig hin, indessen seine Blicke funkelten, »... ich kann nicht klagen.«
»Zum Gruß«, empfahl sich der Fuchs.
Er bekam keine Antwort.
Am Saum der kleinen Blöße hockte wieder der Hase, als Faline mit den Kindern vorbeischritt. Er jammerte: »Was werden wir anfangen? Wie soll man das aushalten?«
»Aber dafür sind wir von den Mücken verschont«, redete ihm Faline zu.
Er war jedoch nicht beruhigt. »Merkst du nicht, wie schlecht das Essen schmeckt, bitter, saftlos, halb welk?«
»Aber es gibt keine Mücken«, wiederholte Faline.
»Und wie man sich beim Wittern täuscht«, beschwerte er sich weiter, »bald spüre ich nichts – bald aufregende Gefahren. Eines so schlimm wie das andere.« Er sah elend aus, hatte die Löffel verzweifelt heruntergeklappt und hob sie nicht ein einziges Mal.
»Du bist undankbar, Freund Hase«, mahnte Faline, »es gibt keine Mücken; wir haben unsere Ruhe.«
»Auch im Winter gibt es keine«, widersprach er trübselig, »sollen mich die Mücken stechen! Ich bin daran gewöhnt. Mich peinigt die Hitze, der Durst, das falsche Wittern! Das läßt mich gar nicht zur Ruhe kommen. Ich werde ganz krank davon.«
»Du bist ungeduldig«, Faline ging weiter.
»Ich – ungeduldig?« sagte der Hase hinter ihr drein, »wer hat so viel Geduld wie ich?«
Geno meinte zur Mutter: »Du hast recht; man muß sich freuen, daß diese Lästigen einem nicht mehr um die Augen summen, und daß es einen nicht mehr juckt.«
»Auch der arme Freund Hase hat recht«, meinte Faline, »es ist wirklich nicht angenehm, wenn das Essen schlecht schmeckt, wenn man Hitze und Durst leidet.«
»Ich leide nicht unter der Hitze«, erklärte Geno, »mir tut sie wohl.«
»Ja, du«, antwortete Faline, »du bist noch ein Kind, und Kindern ist es gesund, wenn sie warm haben.«
»Warum, Mutter, gibt es keine Mücken? Ich bin ja froh, daß es keine gibt, aber warum gibt es keine?« Das war die wißbegierige Gurri.
»Weil sie so klein sind«, wollte Geno die Schwester belehren, »und da sterben sie an der Hitze.«
»O nein, mein Sohn«, setzte Faline die Sache auseinander, »die Mücken leben überhaupt nur ganz kurze Zeit. Höchstens eine Reihe von Tagen, dann sterben sie unter allen Umständen, ob es nun heiß ist oder nicht. Aber sie legen ihre Eier in den feuchten, am liebsten in den nassen Boden. Und wenn es wie jetzt überall nur trockenen Staub gibt, kann die Brut nicht ausschlüpfen. Deshalb sind keine Mücken da.«
Niedergetan, hörte Geno, während Mutter und Schwester schliefen, ein paar Fledermäuse flattern, hörte, wie die eine zur anderen sich beschwerte: »Keine einzige habe ich geschnappt.«
Die andere jammerte: »Nicht einmal hier findet man welche! Sonst fliegen sie einem geradezu in den Mund.«
»Ob uns die Vögel alle wegfangen?«
»So viel essen die Vögel unmöglich.«
»Dann verstehe ich das Ganze nicht.«
»Mir ist das Verstehen gleichgültig«, piepte die zweite, »ich habe Hunger.«
Die erste erwiderte: »Rätselhaft! Rätselhaft! Suchen wir Käfer und Schmetterlinge!«
Nun flatterten sie beinahe taumelnd fort.
Geno wollte jetzt auch schlummern.
Da vernahm er das Gespräch der Büsche und Bäume.
»Aus der Erde«, klagte der Haselstrauch, »kriege ich keine Nahrung mehr, meine Nüsse werden taub.«
»Und meine Beeren«, wimmerte die Holunderstaude, »schrumpfen; sie sind ohne Saft.«
Die Eiche seufzte: »Wie ist mir schwer zu Sinn! Die Spitzen meiner Äste dorren. Jeder Windhauch knickt sie mir vom Leib.«
»Aber es regt sich ja kein Lüftchen«, bedauerte die alte Esche daneben.
»Ich dringe mit den Wurzeln tief in die Erde«, ächzte die hohe Buche, »allein, was ich dort trinke, ist viel zu wenig.«
»Wir kommen um«, stöhnte der Ahorn, »mit uns ist es aus!«
Ein schmächtiger, niedriger Eichbaum, den die anderen beschatteten, weinte leise: »Wenn ihr Großen verzagt, bin ich noch früher hin.«
Die hohe Pappel entschied: »Niemand kommt um! Niemand darf verzagen! Es ist eine Zeit der Not, da muß man aushalten und den Mut nicht sinken lassen. Erinnert euch doch, welche Stürme, welche bitteren Entbehrungen wir durchgemacht haben, und wie wir trotzdem gewachsen, trotzdem stark geworden sind. Hört auf zu jammern! Tragt das Leid mit stummer Zuversicht, mit ruhig ergebener Geduld, dann ist es nicht halb so schwer. Und eh ihr's denkt, wird auch die Not vorüber sein.«
Alle schwiegen.
Am Boden der Lattich, die Farne, der Lauch, die anderen Kräuter flüsterten im Chor: »Ihr dort oben könnt leicht reden. Aber uns bleibt nur das Verderben. Wir sind die Armen, und wir ertragen nichts, weil wir arm sind.«
»Still, ihr da unten in der Tiefe«, befahl die Pappel, »gerade die Armen ertragen am meisten, gerade die Armen haben die zäheste Daseinskraft. Das haben wir doch alle oft genug erlebt.«
Ein schüchternes Murren antwortete: »Das sagt man uns immer. Aber von den Unzähligen unter uns, die erliegen, die im Elend sterben, ist nie die Rede!«
»Wer zugrunde geht, geht eben zugrunde!« herrschte die Pappel. »Es ist euer Schicksal, in der Tiefe zu leben. Findet euch damit ab! Nicht alle können groß, hoch und edel sein. Wir haben das nicht so gemacht; es wurde von selbst so.«
Ein höhnisches Kichern ertönte.
»Ihr dort oben«, rief der Hartriegel, »seht ihr nichts? Schaut euch um!«
Der Schlehdorn übertönte ihn: »Wir verschmachten! Du stolze Pappel, vielleicht kannst du uns statt guter Lehren ein wenig Hoffnung spenden!«
Nach einer Weile gab die Pappel Bescheid: »Die Sterne über mir funkeln, doch weiter weg verschwinden sie; wahrscheinlich werden sie von Wolken gedeckt.«
Der Holunderstrauch flüsterte: »Mag sein, daß etwas kommt.«
Alle Büsche raunten durcheinander: »Hoffnung ... mag sein ... Hoffnung!«
Und die Kräuter am Boden bebten unmerklich: »Ja ... Hoffnung ... wenn die uns Armen helfen könnte, wären wir gerettet ...!«
»Unser aller Leben ist Hoffnung!« wies die Pappel sie streng zurecht.
Geno schlief ein.
Als er ein paar Stunden später wach wurde, da war es nicht mehr Tag und noch nicht wieder Nacht. Er meinte, er habe zu lange oder zu kurz geschlafen, fühlte sich verwirrt, denn Mutter und Schwester standen schon auf ihren Läufen; doch sie traten unruhig am Ort umher. Geno wurde bange. »Was geht denn vor?«
»Blick doch hinauf«, riet Gurri. Ihre kleine Stimme hörte sich wie geklemmt an.
Geno hob die Augen. Doch er begriff noch nichts.
Tiefschwarz und drohend hingen die Wolken vom Himmel herab, bedrückend nahe.
Er ließ bestürzt das junge Haupt sinken und trat zur Mutter.
Auch Faline zeigte sich verzagt: »Es kann furchtbar werden.«
»Müssen wir sterben?« drängte Geno.
»Wohl möglich ...«, sagte Faline dumpf.
»Warum denn sterben?« widersprach Gurri, »wieso denn?«
Aber sie wurde nicht gehört. Allen stockte der Atem.
Denn in die lautlose, angespannte Stille, die geherrscht hatte, brach mit einem Mal der Sturm.
Wie ein unsichtbarer Riese fiel er über den Wald her, zornig, erbittert, wild.
Gleich einer Meeresbrandung rauschten die Wipfel, brüllten, ächzten, wimmerten, wie sie gezaust, geschüttelt, gepeitscht wurden.
Blätter wirbelten, von ihrem Wachstum losgerissen, umher, als wären sie von irgendeiner Eile oder von irgendeinem Wahnsinn getrieben. Aeste splitterten mit lautem Knallen oder mit leisen Seufzern und stürzten nieder. Dünnere Baumstämme klirrten jämmerlich aneinander.
Wütend tobte der Sturm, brauste, wie wenn er den Wald vernichten wollte.
Kein lebendes Wesen war zu sehen.
Geno glaubte, alle wären schon tot, und nun müsse er gleichfalls sterben.
Ihm selbst verwunderlich, erfüllte ihn gefaßte Bereitschaft, sich in sein Schicksal zu fügen.
Da erschien plötzlich Bambi vor den Seinen.
»Ruhig, Kinder«, sprach er, »ruhig bleiben, Faline!«
Geno und Gurri starrten ihn wortlos an.
Mitten im Rasen des Orkans stand er, das gekrönte Haupt hoch aufgerichtet, ein Herrscher, ein Beschützer, ein Tröster.
So wunderbar deutlich hatten die Kinder den Vater noch nie erschaut.
Und sein Wort durchdrang das Sausen des Sturmes, das wüste Rauschen der Wipfel und Sträucher.
»Keinen Feind habt ihr jetzt zu fürchten«, redete er weiter, »niemand wird euch etwas zuleide tun. Solange das Wetter dauert, raubt und mordet weder Fuchs noch Habicht, noch sonst jemand.«
Gurri wollte rufen: »Danke, lieber Vater!« Doch sie war unfähig, einen Laut hervorzubringen.
»Meidet die Bäume!« befahl Bambi, »meidet die Pappel vor allem! Haltet euch in den niederen Büschen!«
Er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.
Faline eilte mit den Kindern weg von den hohen, nun hin und her schwankenden Dächern der Wipfel, barg sich und ihre Jungen im Strauchwerk.
Ein greller Feuerstrahl fuhr herab, dem augenblicklich solch ein betäubender Donner folgte, daß die Kinder und sogar Faline entsetzt und geblendet die Augen schlossen. Dicht an die Mutter schmiegten sich Geno und Gurri.
Der Blitz hatte die Pappel getroffen, hatte sie gespalten, von oben bis unten.
»Ich bin hin ...«, stöhnte der ragende Baum.
Aus seinem trockenen Leib schlugen Flammen empor, züngelten an den Aesten, die immer aufwärtsgestrebt hatten und die nun, dürr, mit Knistern loderten.
Die Kinder wollten, von Panik ergriffen, fliehen.
»Ruhig bleiben, wo ihr seid!« gebot Faline.
Die Kleinen drängten sich schaudernd noch enger an die Mutter. Nie erlebtes Grauen hielt sie gebannt!
Aber jetzt stürzte, klatschte, prasselte, trommelte der Regen herab, durchdrang die mächtigsten Baumwipfel, überflutete im Nu den Boden und löschte dann den Brand der Pappel.
Der Sturm schwieg. Nur das gewaltige Regenrauschen war vernehmlich. Es wurde empfindlich kühl.
Doch Blitz zuckte auf Blitz; Donner nach Donner rollte grimmig über den Wald.