I.
Doppelamulett mit Tyr und dem Fenrirwolf. Trollhättan
Die Handschriften der Edda gehören zu den ursprünglichsten Werken der Weltliteratur. Sie sind darüber hinaus die wichtigsten Informationsquellen germanischer Göttersagen.
Gäbe es keine Edda, dann wüssten wir so gut wie nichts über die Götterwelt der Germanen, über Odin und Thor zum Beispiel, über Loki und den von ihrn ermordeten Sonnengott Baldur, über Fenrirwolf und Midgardschlange, wir wüssten nichts über die Götterburg Asgard oder das düstere Totenreich der Hel, nichts von Abenteuern und Kämpfen zwischen Asen uad Riesen, nichts von Ragnarök, der Götterdämmerung.
Wenn wir von Edda sprechen, meinen wir Prosa-Edda und Lieder-Edda.
II.
Verfasser der Prosa-Edda war ein Christ: der Isländer Snorri Sturluson, geboren l179, Poet und Staatsmann, bedeutendster Geschichtsschreiber seines Volkes, einer der wichtigsten Chronisten des Mittelalters überhaupt; er wurde im Jahr 1241 das Opfer eines politischen Mordanschlages.
Der Name Edda für Snorris Prosawerk lässt zweierlei Erklärungen zu, entsprechend des Wortes doppelter Bedeutung: »Urgroßmutter« und »Poetik«.
Einige Forscher glauben, dass der Name Edda gewählt wurde, weil das Werk gewissermaßen die »Urgroßmutter« germanischer Sagen ist.
Andere wieder vertreten die Ansicht, dass mit Edda »Poetik« gemeint sein müsse. Die Prosa-Edda nämlich war ursprünglich ein Lehrbuch, um die verwahrloste Dichtkunst des 13. Jahrhunderts wieder zu beleben und die Skalden neu zu motivieren: jene fahrenden Dichter und Sänger, die seit Jahrhunderten alte Sagen und historische Begebenheiten von Generation zu Generation auf unterhaltsame Weise überlieferten und zur Zeit Snorris an Bedeutung verloren. Neben Anleitungen zur Poetik enthielt die Edda Snorris auch eine zusammenfassende Darstellung der germanischen Göttersagen.
Darin schildert Snorri die sagenhafte Entstehung der Welt, das Wesen der Götter und Dämonen, ihre Abenteuer und ihre Zauberkräfte so klar und ohne Umschweife, so straff und pointiert, so logisch im Aufbau und im Zusammenhang, dass sein Werk – wenn dieser kühne Vergleich erlaubt ist – einer modernen Reportage nicht unähnlich ist.
III.
Quellen seines Wissens waren offenbar alte, mündlich überlieferte Lieder, aus denen er gelegentlich einige Verse zitierte: Verse in einer faszinierenden, an Bildern und Vergleichen reichen Sprache, ohne den heute üblichen Endreim. Poetisch wirkten sie durch die wuchtige Rhythmik des sogenannten Stabreims, der entsteht, wenn bedeutungsschwere Wörter einer Zeile durch gleichen Anlaut ihrer Stammsilbenbetonung hervorgehoben werden. Beispielsweise zitierte Snorri zwei Strophen über den Urriesen Ymir:
Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, aus dem Haar die Bäume,
Aus der Hirnschale der Himmel.
Aus den Augenbrauen schufen güt’ge Asen
Midgard den Menschensöhnen;
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten
Wolken erschaffen worden.
Derlei Strophen, von Snorri gelegentlich in den Prosatext eingestreut, mussten freilich wie die aus dem Wasser ragende Spitze eines schwimmenden Eisberges empfunden werden; sie verführten zu der Vermutung, dass es noch viele andere Verse geben müsse, verschollene Verse aus der Vorzeit germanischer Dichtkunst; sie waren Hinweise auf einen versunkenen Schatz mythischer Lieder.
IV.
Diesen Schatz hob Bischof Brynjulf Swendson, der höchste christliche Würdenträger Islands seiner Zeit. Er entdeckte im Jahr 1643 eine alte Liederhandschrift und stellte fest, dass er zumindest einen Teil von Snorris Quelle gefunden hatte. Denn vereinzelte der vielen hundert Verse stimmten wörtlich mit den zitierten Strophen aus der Prosa-Edda überein, auch ergänzten viele Lieder die von Snorri in reportagehafter Straffung dargestellten Sagen.
Schnitzerei an der Stabkirche in Hylestad
Die Liederhandschrift wurde »Lieder-Edda« oder »ältere Edda« genannt, analog zu Snorris »Prosa-Edda«, die nun auch »jüngere Edda« heißt. Als Verfasser der Lieder-Edda galt zunächst der Dichter Saemundr. Da Saemundr auf seinem Landsitz Oddi an der Südküste Islands eine Skaldenschule gegründet hatte, deren Schüler später Snorri Sturluson war, ergab es sich, dass Prosa-Edda und Lieder-Edda gemeinsam den Namen »Buch von Oddi« erhielten. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Saemundr als Dichter jener Lieder nicht in Frage kam.
Wer die Lieder verfasste, gehört zu den vielen ungelösten Rätseln der Edda-Forschung. Sicher weiß man heute nur, dass die Handschrift nicht das Werk eines Dichters ist, sondern eine Sammlung, von einem unbekannten Gelehrten wahrscheinlich im 12. Jahrhundert zusammengestellt, um die von fahrenden Sängern mündlich überlieferten Strophen anonymer Autoren der Nachwelt zu erhalten. Einige wenige Lieder brachten Seefahrer aus Norwegen, die meisten aber wurden zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert auf der Vulkaninsel Island gedichtet.
Auf Island wird die Sprache der Edda-Lieder – das Altnordische – heute noch verstanden. Nur Isländer können die Edda im Originaltext einigermaßen gut lesen.
V.
Wer nicht Isländisch versteht, ist auf Übersetzungen angewiesen. Die erste und bis heute hochgeschätzte Übertragung von literarischer Güte schuf der Germanist und Dichter Karl Simrock (1802–1876). Ihm gelang es, die Edda in das Deutsch unserer Zeit zu übertragen und dabei den Zauber der Dichtung, ihre Bildhaftigkeit und sprachliche Rhythmik zu erhalten. Vor allen Dingen aber wollte Simrock ein populäres Werk für das Volk schaffen und eine farbenprächtige Vorstellung vermitteln von der bis dahin im Elfenbeinturm wissenschaftlichen Interesses als graue Theorie diskutierten Mythologie. Deshalb entnahm er der Prosa-Edda nur die spannenden Storys der Göttersagen, nicht jedoch die metrischen Anweisungen zur Belehrung der Skalden, und aus der Lieder-Edda übertrug er nur die handlungsreichen, für das Verständnis der Vergangenheit wichtigen Gesänge.
Tatsächlich wurde die Edda ein Bestseller im gesamten deutschen Sprachraum und die Vorlage nahezu aller – besonders für die Jugend – später nacherzählter Göttersagen. Die Epigonen übertrugen den nordgermanischen Sagenkreis der Edda auf den sogenannten »gemeingermanischen Mythos«, nicht ganz zu Unrecht, denn die nordischen Götter Odin, Thor und Tyr zum Beispiel entsprechen den westgermanischen Göttern Wotan, Donar und Ziu, von denen nur wenig bekannt war.
VI.
Das vorliegende Buch bietet Prosa-Edda und Lieder-Edda in einem Band. Es stützt sich auf die Originaltexte der Simrockschen Übertragung und verfolgt den Zweck, Göttersagen auch für Leser ohne mythologische Kenntnisse leicht verständlich darzubieten. Einleitungen und Kommentare, Randbemerkungen und Querverweise, behutsame Bearbeitung missverständlicher Textstellen und Korrekturen vereinzelter, im frühen Pionierwerk Simrocks unvermeidlicher Fehlübersetzungen sollen die Lektüre vereinfachen. Erklärt werden mussten auch die vielen Metaphern der altnordischen Sprache, die sogenannten »Kenningar« und »Heiti«. Eine »Kenning« – Mehrzahl: »Kenningar« – ist die mehrgliedrige Umschreibung eines Wortes oder Namens, zum Beispiel »der Böcke Gebieter« oder »der Irdischen Götter« für den Gewittergott Thor. Als »Heiti« wird die eingliedrige Umschreibung bezeichnet: »Windschiff« oder »Regenbringer« für Wolken beispielsweise. Dem Verständnis dienlich erwies sich zudem, gewisse mythische Namen oder Begriffe in den Randbemerkungen wörtlich zu übersetzen oder ihren Symbolgehalt zu deuten.
Auch die im Originaltext gelegentlich verwendeten Pseudonyme für Götter, Riesen, Dämonen und Zwerge bedurften jeweiliger Erklärungen, um den Leser nicht zu verwirren.
Vor allen Dingen aber wird das Verständnis für die Göttersagen im vorliegenden Buch dadurch erreicht, dass der Leser, beginnend mit dem Grundsatzwerk »Gylfaginning«, in die Mythologie gewissermaßen hineinwächst und erst zum Schluss, wenn er kenntnisreiches Einfühlungsvermögen erworben hat, das schwer verständliche, selbst von Wissenschaftlern nicht gänzlich entschlüsselte Lied »Völuspa« – »Der Seherin Weissagung« – angeboten bekommt.
VII.
Die Edda gehört zu den wichtigsten Quellen von Richard Wagners »Ring des Nibelungen«, ein Bühnenfestspiel in drei Tagen und einem Vorabend: »Das Rheingold«, »Die Walküre«, »Siegfried« und »Götterdämmerung«. Der »Ring des Nibelungen« ist das größte Projekt der Operngeschichte.
Bemerkenswert ist, dass Richard Wagner seine Texte in Stabreimen dichtete, die im gesungenen Vortrag, mit Wagners Musik, von erstaunlicher Wirkung sind.
»Gerade die Wagner geglückte dichterische Bearbeitung im Verein mit seiner beeindruckenden musikalischen Interpretation des Stoffes haben zu einer Verbreitung germanischer Götter- und Heldendichtung geführt, welche sämtliche anderen neuzeitlichen Aktualisierungen von Gestalten der germanischen Mythologie zusammen in den Schatten stellen« (Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie).
Ab Beginn des Jubiläumsjahres 2013 – anlässlich Wagners 200. Geburtstag am 22. Mai – wird das ganze Jahr über »Der Ring des Nibelungen« an fast allen großen Opernhäusern im deutschsprachigen Raum aufgeführt. Dadurch entsteht ein aktuelles und nachhaltig gesteigertes Interesse an der germanischen Mythologie und ihren Quellen: der Edda.
Walter Hansen
Johannes Gehrts: Der letzte Kampf. Illustration um 1880
Titelblatt einer Edda-Handschrift »Anno 1760«, geschrieben und illustriert von dem isländischen Geistlichen Ólafur Brynjúlfsson