H. G. Wells

Jenseits des Sirius

Ein utopistischer Roman

H. G. Wells

Jenseits des Sirius

Ein utopistischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-35-9

null-papier.de/437

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ein Wort an die Le­ser

Der Spre­cher

Ers­tes Ka­pi­tel: To­po­gra­phie

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

Zwei­tes Ka­pi­tel: Von der Frei­heit

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

§ 7

Drit­tes Ka­pi­tel: Uto­pi­sche Volks­wirt­schaft

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

§ 7

§ 8

Vier­tes Ka­pi­tel: Die Stim­me der Na­tur

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

Fünf­tes Ka­pi­tel: Mi­ßer­folg im mo­der­nen Uto­pi­en

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

§ 7

§ 8

Sechs­tes Ka­pi­tel: Die Frau­en im mo­der­nen Uto­pi­en

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

Sie­ben­tes Ka­pi­tel: Ei­ni­ge Ein­drücke aus Uto­pi­en

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

§ 7

Ach­tes Ka­pi­tel: Mein uto­pi­sches Ich

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

Neun­tes Ka­pi­tel: Die Sa­mu­rai

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

§ 6

§ 7

§ 8

Zehn­tes Ka­pi­tel: Die Ras­se in Uto­pi­en

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

Elf­tes Ka­pi­tel: Die Bla­se platzt

§ 1

§ 2

§ 3

§ 4

§ 5

An­hang: Skep­sis ge­gen das Werk­zeug des Den­kens.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Ein Wort an die Leser

Die­ses Buch ist vor­aus­sicht­lich das letz­te ei­ner Rei­he von Schrif­ten, die – ab­ge­se­hen von frü­he­ren ein­zel­nen Auf­sät­zen – mit mei­nen »Aus­bli­cken« be­gann. Ur­sprüng­lich soll­ten die »Aus­bli­cke« das ein­zi­ge Werk blei­ben, in dem ich der Kunst oder dem Be­ruf (oder wie man es hei­ßen mag) des Dich­ters un­treu wur­de. Ich schrieb es, um mir selbst klar zu wer­den über die zahl­lo­sen so­zia­len und po­li­ti­schen Fra­gen, die mir im Kop­fe um­gin­gen, Fra­gen, über die ich in mei­nem Bu­che we­der ganz noch auch mit un­kla­rem, ver­we­ge­nem Ge­re­de weg­ge­hen konn­te, und die, so­viel ich weiß, noch kei­ner so be­han­delt hat­te, wie es mei­nem Be­dürf­nis­se ge­nügt hät­te. Aber die­ses Ziel er­reich­te ich in den »Aus­bli­cken« nicht. Mein Kopf ar­bei­tet lang­sam, vor­sich­tig auf­bau­end, und als ich jene Ar­beit hin­ter mir hat­te, sah ich, daß der größ­te Teil mei­ner Fra­gen noch nicht ge­löst, nicht ein­mal scharf ge­faßt war. Da­her ver­such­te ich in dem Bu­che »Die Mensch­heit im Wer­den« die so­zia­le Or­ga­ni­sa­ti­on auf ei­nem an­dern Wege zu über­se­hen, sie als Er­zie­hungs­pro­zeß zu be­trach­ten, nicht als et­was, das erst die Zu­kunft uns brin­gen soll­te, und wenn mein zwei­tes Buch vom li­te­ra­ri­schen Stand­punkt aus noch we­ni­ger be­frie­di­gend aus­fiel als das ers­te (und dies fürcht’ ich), so glau­be ich doch, mei­ne Feh­ler wa­ren be­leh­ren­der – we­nigs­tens für mein ei­ge­nes Wis­sen. Of­fe­ner als in den »Aus­bli­cken« wag­te ich mich an die­sen und je­nen Ge­gen­stand her­an und schloß mei­nen zwei­ten Ver­such mit dem Be­wußt­sein ab, man­ches noch flüch­tig hin­ge­schrie­ben, in vie­lem aber mir eine fes­te An­sicht ge­bil­det zu ha­ben. Denn über zahl­rei­che der be­han­del­ten Ge­gen­stän­de habe ich mir schließ­lich eine per­sön­li­che Si­cher­heit er­run­gen, auf der ich mein Le­ben lang be­har­ren wer­de. In dem vor­lie­gen­den Bu­che habe ich ver­sucht, Re­chen­schaft ab­zu­le­gen über eine Rei­he von Fra­gen, die ich im vor­her­ge­hen­den fort- oder doch of­fen las­sen muß­te, man­che Ein­zel­hei­ten um­zu­ge­stal­ten und das Bild ei­ner Uto­pie zu ge­ben, wie es im Lau­fe die­ser Be­trach­tun­gen in mei­nem Geis­te ent­stan­den ist als ein Zu­stand der Din­ge, der durch­aus mög­lich und dem be­ste­hen­den vor­zu­zie­hen wäre. Aber die­ses Buch hat mich zur dich­te­ri­schen Schreib­wei­se zu­rück­ge­führt. In den bei­den vor­her­ge­hen­den habe ich die Ein­rich­tung der mensch­li­chen Ge­sell­schaft rein ob­jek­tiv be­han­delt, in die­sem ging mei­ne Ab­sicht wei­ter und tiefer: ich woll­te ein Ide­al, aber nicht nur für sich, son­dern in der Rück­wir­kung auf zwei Per­sön­lich­kei­ten auf­stel­len. Und da das vor­lie­gen­de Buch viel­leicht das letz­te die­ser Art ist, das ich ver­öf­fent­li­chen wer­de, so schrieb ich in das­sel­be so gut als mög­lich die Ket­ze­rei mei­nes me­ta­phy­si­schen Skep­ti­zis­mus hin­ein, auf dem mein gan­zes Den­ken ruht, und schal­te­te ge­wis­se Ab­schnit­te ein, die sich mit den be­ste­hen­den Metho­den der So­zio­lo­gie und der Volks­wirt­schafts­leh­re be­schäf­ti­gen.

Was ich da zu­letzt sag­te, wird frei­lich die Schmet­ter­lings­le­ser nicht an­lo­cken. Ich habe je­doch mein Bes­tes ge­tan, um das Buch als Gan­zes so klar und un­ter­hal­tend zu ma­chen, als der Stoff es er­laubt, weil ich möch­te, daß so vie­le als nur mög­lich es lä­sen. Aber al­len je­nen, die mei­ne Sei­ten nur mit flüch­ti­gen Bli­cken durch­strei­fen wol­len, um schnell zu se­hen, ob ich ih­rer Mei­nung bin, die in der Mit­te an­fan­gen, oder ohne treue und leb­haf­te Auf­merk­sam­keit zu le­sen pfle­gen, ver­spre­che ich nichts als Är­ger und Ver­wir­rung. Wer nicht ein we­nig Sinn und Ver­ständ­nis für po­li­ti­sche und so­zia­le Fra­gen und et­was Übung in der Prü­fung des ei­ge­nen Selbst mit­bringt, kann hier we­der An­re­gung noch Ver­gnü­gen fin­den. Wer über sol­che Din­ge schon »sei­ne Mei­nung hat«, des­sen Zeit wür­de an die­ses Buch ver­schwen­det sein. Auch der wil­ligs­te Le­ser je­doch wird für die be­son­de­re Metho­de, die ich dies­mal ge­wählt habe, ei­ni­ger Ge­duld be­dür­fen.

Die­se Metho­de mag et­was Zu­fäl­li­ges an sich ha­ben, ist aber nicht so leicht­fer­tig, als sie aus­sieht. Ich glau­be – so­gar jetzt, da ich mit dem Bu­che fer­tig bin – sie führt am bes­ten zu ei­ner Art von durch­sich­ti­ger Un­be­stimmt­heit, die ich für einen sol­chen Ge­gen­stand stets an­ge­strebt habe. Be­vor ich sie aus­wähl­te, habe ich meh­re­re An­fän­ge zu ei­ner Uto­pie durch­ver­sucht. Von al­lem An­fang an ver­warf ich die Form stren­ger Be­grün­dung, die sich an den so­ge­nann­ten »ernst­haf­ten« Le­ser wen­det (der oft ge­nug nur an großen Fra­gen mit wich­ti­ger Mie­ne her­um­nascht). Er möch­te al­les in fes­ten, kräf­ti­gen Li­ni­en se­hen, in Schwarz oder Weiß, mit Ja oder Nein, denn er ver­steht nicht, daß hier so vie­les gar nicht auf die­se Wei­se dar­ge­stellt wer­den kann; wo et­was schief oder un­be­stimmt er­scheint, wo er den nö­ti­gen Ernst ver­mißt oder gar Stim­mung ent­deckt, oder auch die Schwie­rig­kei­ten ei­ner viel­sei­ti­gen Dar­stel­lung, da folgt er nicht mehr. Für ihn ist es ty­pisch, daß er auf der un­über­wind­li­chen An­sicht ste­hen bleibt, der Geist der Schöp­fung kön­ne nicht über zwei hin­aus zäh­len: er hat es nur mit Al­ter­na­ti­ven zu tun. Sol­chen Le­sern will ich hier nicht ge­fal­len. Selbst wenn ich alle mei­ne tri­kli­ni­schen Kris­tal­le als Wür­fel­sys­tem dar­stell­te – –! Ich sah ein, es wäre nicht der Mühe wert, dies zu tun. Als ich nun die be­grün­den­de Form ab­ge­lehnt hat­te, ar­bei­te­te ich flei­ßig wei­ter und such­te mo­na­te­lang nach ei­nem Plan für das vor­lie­gen­de Buch. Zu­erst ver­such­te ich jene er­prob­te Metho­de, die Fra­gen von ei­nem ver­schie­de­nen Stand­punkt aus zu über­se­hen, denn die­se hat­te mich im­mer an­ge­zo­gen, ohne daß ich sie noch ge­meis­tert hät­te, also den er­ör­tern­den Ro­man in der Art wie Pe­a­cock (und Mal­lock) ihn aus dem Dia­log der Al­ten ent­wi­ckelt ha­ben; aber hier­zu Cha­rak­tere und die not­wen­di­ge Int­ri­ge zu er­fin­den, war mir läs­tig, und so gab ich dies auf. Dann mach­te ich den Ver­such, mei­nem Ge­gen­stand eine Form zu ge­ben, die der dop­pel­ten Per­sön­lich­keit in Bos­wells John­son un­ge­fähr ähn­lich ge­we­sen wäre, eine Art Wech­sel­spiel zwi­schen Mo­no­log und Kom­men­tar; ob­gleich dies dem, was ich such­te, nä­her­kam, schlug es zu­letzt doch fehl. Hier­auf über­leg­te ich mir et­was, das man eine »ein­fa­che Er­zäh­lung« nen­nen könn­te. Der er­fah­re­ne Le­ser wird er­ken­nen, daß die­ses Buch zu ei­ner flie­ßen­den Er­zäh­lung ge­wor­den wäre, wenn ich ge­wis­se spe­ku­la­ti­ve und me­ta­phy­si­sche Stof­fe fort­ge­las­sen, die Ge­scheh­nis­se aber brei­ter aus­ge­malt hät­te. Aber ge­ra­de auf jene Stof­fe woll­te ich dies­mal nicht ver­zich­ten. Ich sehe nicht ein, warum ich dem ge­mei­nen Ge­schmack nach blo­ßen Er­zäh­lun­gen Vor­schub leis­ten soll­te. Kurzum, ich schuf, was hier vor­liegt. Dies al­les muß ich dem Le­ser ein­ge­hend sa­gen, da­mit er wohl wis­se, daß die­ses Buch das Er­geb­nis von Über­le­gun­gen und Prü­fun­gen und ge­nau so ist, wie ich es ha­ben woll­te, wie son­der­bar es auch beim ers­ten Le­sen er­schei­nen mag. Ich habe durch­weg eine Art halb­sei­de­nen Ge­we­bes aus phi­lo­so­phi­scher Un­ter­re­dung und dich­te­ri­scher Er­zäh­lung im Auge.

H. G. WELLS.

Der Sprecher

Es gibt Wer­ke, und das vor­lie­gen­de ge­hört zu ih­nen, die man am bes­ten mit ei­nem Por­trät des Ver­fas­sers be­ginnt. Und das ist in un­se­rem Fall, um ei­nem sehr na­tür­li­chen Miß­ver­ständ­nis vor­zu­beu­gen, so­gar der ein­zig mög­li­che Weg. Es klingt ein Ton durch die­se Blät­ter, ein deut­li­cher und per­sön­li­cher Ton, der zu­wei­len scharf und schnei­dend wird, und al­les, was nicht wie die vor­her­ge­hen­de Ein­füh­rung mit an­dern Ty­pen ge­druckt ist, wird von der einen Stim­me ge­spro­chen. Nun darf man – und dies ist das Be­son­de­re an der Sa­che – die­se Stim­me nicht für die des Ver­fas­sers hal­ten, der für das Buch zeich­net. Jede Vor­ein­ge­nom­men­heit die­ser Art muß ver­bannt wer­den. Den Spre­cher stel­le man sich vor als einen weiß­blon­den, rund­li­chen Mann, nicht ganz mit­tel­groß, im jün­ge­ren Man­nes­al­ter, mit blau­en Au­gen, be­weg­li­chen Ma­nie­ren und ei­ner klei­nen kah­len Stel­le auf dem Schei­tel – nicht grö­ßer als ein Ta­ler. Sei­ne Stir­ne ist ge­wölbt. Zu­wei­len sinkt er in sich zu­sam­men, wie die meis­ten von uns, aber ge­wöhn­lich trägt er sich stolz wie ein Spatz. Er macht ge­le­gent­lich eine ele­gan­te, er­klä­ren­de Hand­be­we­gung. Und sei­ne Stim­me (die nun un­ser Me­di­um sein wird) ist ein reiz­lo­ser Te­nor, der manch­mal durch­drin­gend wird. Man stel­le sich vor, er sit­ze an ei­nem Tisch, lese in ei­nem Ma­nu­skript über Uto­pi­en und hal­te die­ses Ma­nu­skript in sei­nen bei­den, am Ge­lenk star­ken Hän­den. So hebt sich der Vor­hang über ihm. So­bald je­doch die vor­züg­li­chen Mit­tel die­ser we­nig mehr ge­üb­ten li­te­ra­ri­schen Kunst recht in Wir­kung tre­ten, wird man selt­sa­me und in­ter­essan­te Din­ge mit ihm er­le­ben. Aber er kehrt im­mer wie­der an den klei­nen Tisch zu­rück, um uns, das Ma­nu­skript in der Hand, sei­ne Schluß­fol­ge­run­gen ge­wis­sen­haft dar­zu­le­gen. Wo­mit der Le­ser un­ter­hal­ten wer­den soll, das ist we­der eine gut er­fun­de­ne Hand­lung, wie er sie in Ro­ma­nen so ger­ne liest, noch auch eine streng auf­ge­bau­te Ab­hand­lung, de­nen er so ger­ne aus­weicht, son­dern ein Mit­tel­ding zwi­schen bei­den. Stel­le dir nun vor, der Spre­cher sit­ze auf ei­ner Büh­ne, ein biß­chen auf­ge­regt und doch zu­rück­hal­tend, er habe sei­nen Tisch, sein Glas Was­ser und al­les, was zu ihm ge­hört, ich selbst sei der auf­dring­li­che Vor­sit­zen­de, der er­bar­mungs­los auf »ei­ni­gen Wor­ten« der Ein­füh­rung be­steht, ehe er sich auf die Sei­te schlägt, stel­le dir fer­ner hin­ter un­serm Freund einen Licht­schirm vor, wor­auf von Zeit zu Zeit be­weg­li­che Bil­der er­schei­nen, und be­den­ke schließ­lich, daß er dir von dem er­zäh­len will, was sei­ne See­le auf ih­ren For­schun­gen in Uto­pia er­lebt hat: so wirst du we­nigs­tens auf ei­ni­ge der Schwie­rig­kei­ten mei­nes Wer­kes vor­be­rei­tet sein.

Die­sem hier vor­ge­stell­ten Schrift­stel­ler steht eine zwei­te ir­di­sche Per­son ge­gen­über, die sich aber erst dann zu ei­ner deut­li­chen Per­sön­lich­keit ver­dich­tet, wenn wir sie zu­vor mit dem Le­ser in Be­zie­hung ge­setzt ha­ben. Sie heißt der Bo­ta­ni­ker und ist schlan­ker, ziem­lich grö­ßer, erns­ter und viel we­ni­ger red­se­lig. Sein Ge­sicht ist leid­lich hübsch und von grau­em Teint; er ist blond, hat graue Au­gen und macht den Ein­druck, als wäre er ma­gen­lei­dend. Die­ser Ver­dacht ist nicht un­be­grün­det. »Leu­te die­ses Schlags« – mit die­ser Er­klä­rung drängt sich plötz­lich der Vor­sit­zen­de ein – sind ro­man­tisch mit ei­nem Schat­ten von Nied­rig­keit, sie su­chen Be­gier­den zu ver­ber­gen und zu schär­fen, sie ge­ra­ten mit den un­ter ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Emp­find­sam­keit ihre sinn­li­chen Frau­en in ge­wal­ti­ge Kon­flik­te und Nöte, und auch der Bo­ta­ni­ker hat sei­ne Wi­der­wär­tig­kei­ten ge­habt. Man wird von ih­nen hö­ren, denn auch dies ist eine Ei­gen­schaft sei­nes Ty­pus. Er kommt in die­sem Buch selbst nicht zu Wort, es spricht im­mer der an­de­re, aber vie­les von dem Was und ei­ni­ges von dem Wie sei­ner Ein­wür­fe kann man aus den Ne­ben­be­mer­kun­gen und aus der Stim­me des Spre­chers ent­neh­men.

So weit muß­ten die Hel­den der mo­der­nen Uto­pie, die sich als Hin­ter­grund der bei­den For­scher ent­rol­len wird, por­trä­tiert wer­den. Das Bild ei­ner ki­ne­ma­to­gra­phi­schen Vor­stel­lung drängt sich auf. Man wird den Ein­druck ha­ben, als gin­gen die bei­den vor dem Licht­kreis ei­ner ziem­lich schad­haf­ten La­ter­ne hin und her, die bis­wei­len aus­setzt, dann wie­der das Bild ver­zerrt, der es ge­le­gent­lich aber auch ge­lingt, ein be­weg­li­ches Mo­ment­bild uto­pis­ti­scher Ver­hält­nis­se auf den Licht­schirm zu wer­fen. Manch­mal er­lischt auch das Bild voll­stän­dig, die Stim­me aber re­det und re­det, die Ram­pen­lich­ter leuch­ten wie­der auf, und ihr sitzt da und lauscht von neu­em dem et­was zu rund­li­chen, klei­nen Mann, der an sei­nem Tisch eine Be­haup­tung nach der an­dern aus­spricht, und vor dem sich jetzt der Vor­hang hebt.

Erstes Kapitel: Topographie

§ 1

Eine mo­der­ne Uto­pie muß sich not­wen­di­ger­wei­se in ei­nem we­sent­li­chen Punk­te von den Nir­gend­wos un­ter­schei­den, die er­träumt wur­den, ehe Dar­win das Den­ken der Welt neu be­leb­te. Sie alle wa­ren fes­te und voll­kom­me­ne Staats­we­sen und ge­währ­ten ein für al­le­mal ein si­che­res Glück ge­gen alle Un­ru­he und Un­ord­nung, die in der Welt selbst liegt. Da sah man ein ge­sun­des, ein­fa­ches Ge­schlecht, das in lau­ter Tu­gend und Glück die Früch­te der Erde ge­noß. Ihm folg­ten an­de­re tu­gend­haf­te, glück­li­che und die­sem ganz ähn­li­che Ge­schlech­ter, bis die Göt­ter es ge­nug hat­ten. Ver­än­de­rung und Ent­wick­lung wur­den von ewig fes­ten Däm­men für im­mer zu­rück­ge­hal­ten. Eine mo­der­ne Uto­pie aber darf nicht im Gleich­ge­wicht, sie muß in Be­we­gung er­schei­nen, nicht als blei­ben­der Zu­stand, son­dern als eine aus­sichts­vol­le Stu­fe, die zu ei­ner lan­gen Rei­he von Stu­fen em­por­führt. Heut­zu­ta­ge stem­men wir uns dem Strom der Din­ge nicht ent­ge­gen, wir schwim­men mit ihm. Wir bau­en un­se­re Staats­we­sen nicht als Bur­gen, son­dern als Schif­fe. An Stel­le ei­nes ein­mal ge­ord­ne­ten Ge­mein­we­sens, das für jetzt und im­mer ein glei­ches Glück fest und si­cher ver­bürgt, müs­sen wir »einen dehn­ba­ren, all­ge­mei­nen Kom­pro­miß« ent­wer­fen, »in wel­chem eine be­stän­dig neue Fol­ge von In­di­vi­dua­li­tä­ten am wirk­sams­ten auf eine um­fas­sen­de Vor­wärts­be­we­gung hin­drängt«. Dies ist der ers­te, all­ge­meins­te Un­ter­schied zwi­schen ei­ner Uto­pie nach mo­der­nen Be­grif­fen und all den Uto­pi­en, die frü­her ge­schrie­ben wur­den.

Wir ha­ben uns hier mit ei­ner Uto­pie zu be­schäf­ti­gen, sie zu­erst im klei­nen deut­lich und wahr­schein­lich zu ma­chen, dann die Welt als Gan­zes uns in ei­nem solch glück­li­chen Zu­stand vor­zu­stel­len. Wir ha­ben da­bei et­was im Auge, das zwar ge­wiß nicht un­mög­lich, je­den­falls aber von heu­te auf mor­gen nicht durch­führ­bar ist. Dazu müs­sen wir uns von der be­harr­li­chen Be­trach­tung der Ge­gen­wart eine Zeit­lang ganz ab­wen­den, um un­sern Blick zu rich­ten in die freie­ren und wei­te­ren Ge­bie­te des in der Zu­kunft noch Mög­li­chen, auf den Ent­wurf ei­nes be­ach­tens­wer­ten Ge­mein­we­sens, auf die Ge­stal­tung ei­nes Bil­des, das un­se­re Phan­ta­sie von je­nem Le­ben vor­zeich­net, das nach der Vor­stel­lung wohl mög­lich und des Le­bens mehr wert wäre als un­ser jet­zi­ges. Hier­zu wol­len wir zu­nächst ei­ni­ge Richt­punk­te fest­le­gen und dann uns in jene Welt selbst ver­tie­fen.

Ge­wiß ist dies ein op­ti­mis­ti­sches Un­ter­neh­men. Aber es ist ganz gut, den kri­ti­schen Ton auf eine Wei­le fort­zu­las­sen, der sich im­mer ein­mischt, wenn man von der Un­voll­kom­men­heit des Be­ste­hen­den spricht, uns auch von den prak­ti­schen Schwie­rig­kei­ten zu er­leich­tern, die sich er­he­ben, wenn man nach Mit­teln und We­gen fragt. Es emp­fiehlt sich, un­ter­wegs ein­mal an­zu­hal­ten, den Ruck­sack ab­zu­le­gen, sich die Stir­ne zu wi­schen und ein we­nig von den obern Hän­gen des Ber­ges zu plau­dern, den wir of­fen­bar be­stei­gen, wenn wir ihn auch der Bäu­me we­gen nicht se­hen kön­nen.

Nach der bes­ten Po­li­tik und Metho­de fra­gen wir gar nicht. Wir wol­len ein­mal ganz Ruhe ha­ben vor all dem. Gera­de des­we­gen müs­sen wir aber ge­wis­se Gren­zen ab­ste­cken. Könn­ten wir un­se­rer frei­en Nei­gung fol­gen, so wür­den wir wahr­schein­lich mit Mor­ris in sein Nir­gend­wo ge­hen, wir wür­den die Na­tur der Men­schen und der Din­ge zu­gleich än­dern, das gan­ze Ge­schlecht wei­se, duld­sam, edel, voll­kom­men ma­chen – eine glän­zen­de An­ar­chie will­kom­men hei­ßen, wo je­der tut, wie es ihm ge­fällt, und wo es kei­nem ge­fällt, Bö­ses zu tun, da er ja in ei­ner Welt lebt, die im Kern ih­res We­sens so gut, so voll­kom­men und strah­lend ist, wie die Welt vor dem Sün­den­fall. Aber das gol­de­ne Zeit­al­ter, die voll­kom­me­ne Welt muß sich in das fin­den, was Raum und Zeit mög­lich ma­chen. In Raum und Zeit un­ter­hält der Wil­le zum Le­ben ewi­ge Kämp­fe. Also muß un­ser Un­ter­neh­men auf eine Grund­la­ge kom­men, die we­nigs­tens prak­ti­scher ist als die er­wähn­te. Wir müs­sen uns zu­nächst auf das be­schrän­ken, was un­ter sol­chen Men­schen mög­lich ist, wie sie heut­zu­ta­ge um uns le­ben, dann auch die Feind­se­lig­keit und den Wi­der­stand der Na­tur in Rech­nung zie­hen. Un­ser Staat soll ge­schaf­fen wer­den für eine Welt, wo es un­be­stän­di­ge Jah­res­zei­ten, plötz­li­che Ka­ta­stro­phen, tücki­sche Krank­hei­ten, ge­fähr­li­che Tie­re und Gift gibt, und er soll aus Men­schen be­ste­hen, die ähn­li­che Lei­den­schaf­ten, Lau­nen und Be­gier­den ha­ben wie wir. Und die­se Welt des Kamp­fes neh­men wir an, wir ent­sa­gen ihr nicht und schlie­ßen uns nicht as­ke­tisch ab ge­gen sie, son­dern wol­len sie, wie die Men­schen des Ok­zi­dents, aus­hal­ten und über­win­den. In­so­weit ent­fer­nen wir uns nicht von de­nen, die sich nicht mit Uto­pi­en, son­dern mit der Welt von heu­te be­schäf­ti­gen.

Ge­wis­se Frei­hei­ten wer­den wir uns mit dem jetzt Be­ste­hen­den frei­lich er­lau­ben, und hier­in fol­gen wir un­sern bes­ten Vor­gän­gern. Wir set­zen vor­aus, daß die öf­fent­li­che Mei­nung et­was ganz an­de­res be­deu­ten kann als ge­gen­wär­tig. Wir ge­stat­ten uns freie Hand in Be­zie­hung auf die geis­ti­gen Le­bens­kämp­fe, na­tür­lich in­ner­halb des­sen, was für den mensch­li­chen Geist nach un­se­ren Kennt­nis­sen mög­lich ist. Eben­so wol­len wir frei um­ge­hen dür­fen mit dem, was wir die Le­bens­aus­stat­tung hei­ßen möch­ten, die sich der Mensch zu­recht­ge­macht hat, mit Häu­sern, Stra­ßen, Klei­dern, Kanä­len, Werk­zeu­gen, mit Ge­set­zen, Gren­zen, Kon­ven­tio­nen und Über­lie­fe­run­gen, mit Schu­len, mit Li­te­ra­tur und re­li­gi­ösen Ein­rich­tun­gen, mit Glau­ben und Sit­ten, kurz mit al­lem, was zu än­dern in der Macht des Men­schen liegt. Dies ist denn auch die ers­te Voraus­set­zung al­ler äl­te­ren und neue­ren uto­pis­ti­schen Spe­ku­la­tio­nen: Pla­tos Re­pu­blik und sei­ne Ge­set­ze, Mo­res Uto­pia, Ho­wells Al­tru­ria und Bel­la­mys zu­künf­ti­ges Bo­ston, Com­tes Gro­ße West­li­che Re­pu­blik, Hertz­kas Frei­land, Ca­bets Ika­ria und Cam­pa­nel­las Son­nen­stadt, sie alle sind auf die An­nah­me ge­stellt, daß ein mensch­li­ches Ge­mein­we­sen sich gänz­lich los­sa­gen kann von Über­lie­fe­run­gen, Ge­wohn­hei­ten, Ge­set­zen und je­ner fei­ne­ren Knecht­schaft, die der Be­sitz mit sich bringt. Und ein großer Teil des wah­ren Wer­tes sol­cher Spe­ku­la­tio­nen liegt in der An­nah­me der Eman­zi­pa­ti­on, in dem Auf­blick zu ei­ner men­schen­wür­di­gen Frei­heit, in dem nie er­lö­schen­den In­ter­es­se für die Mög­lich­keit, den ei­ge­nen Fes­seln zu ent­rin­nen, dem Kau­salzwang der Ver­gan­gen­heit zu wi­der­ste­hen, dem Al­ten zu ent­flie­hen, neue Zie­le auf­zu­stel­len, zu er­stre­ben und zu er­rei­chen.

§ 2

Auch sehr be­stimm­te künst­le­ri­sche Gren­zen fin­den wir vor. Uto­pis­ti­sche Spe­ku­la­tio­nen müs­sen im­mer et­was Tro­cke­nes und Leb­lo­ses an sich ha­ben. Die Nüch­tern­heit des Stof­fes zeigt sich im­mer und über­all an ih­nen. Das Blut, die Wär­me, die le­ben­di­ge Wirk­lich­keit fehlt ganz, wir se­hen kei­ne In­di­vi­dua­li­tä­ten, son­dern nur Leu­te im all­ge­mei­nen. Fast in je­der Uto­pie – die »Nach­rich­ten von Nir­gend­wo« von Mor­ris viel­leicht aus­ge­nom­men – sieht man hüb­sche, aber stil­lo­se Ge­bäu­de, re­gel­mä­ßi­ge, rein­li­che Feld­an­lagen und eine Men­ge von Ein­woh­nern, die alle ge­sund, glück­lich, wohl­ge­klei­det, aber ohne jede per­sön­li­che Ei­gen­art sind. Nur zu oft ist die Sze­ne ei­nem großen Ge­mäl­de ähn­lich, wie sie vor bald fünf­zig Jah­ren so be­liebt wa­ren, wo man Krö­nungs­fei­er­lich­kei­ten, kö­nig­li­che Hoch­zei­ten, Par­la­ments­sit­zun­gen, Kon­fe­ren­zen und Ver­samm­lun­gen sieht, jede Ge­stalt aber an der Stel­le des Ge­sich­tes ein rein­li­ches Oval trägt, wor­auf ihre Num­mer fein le­ser­lich ge­schrie­ben ist. Dies macht den un­ver­bes­ser­li­chen Ein­druck der Nicht­wirk­lich­keit, und ich weiß nicht, wie dem aus­zu­wei­chen wäre. Es ist ein Nach­teil, den man eben hin­neh­men muß. Was ein­mal da­ge­we­sen ist oder da ist, das hat, wäre es auch noch so ver­kehrt und wi­der­sin­nig, durch sei­ne Berüh­rung mit In­di­vi­dua­li­tä­ten et­was Wirk­li­ches und Fes­tes in sich, das dem Nie­er­prob­ten ganz fehlt. Es ist ge­wach­sen und ge­wor­den, es ist durch Ge­brauch und Zeit be­fleckt und schad­haft, es ist ab­ge­run­det und ab­ge­rie­ben, viel­leicht in ei­ner Flut von Blut und Trä­nen ge­tauft wor­den. Was aber nur ge­dacht und ein­ge­bil­det ist, das muß, wäre es noch so ver­nünf­tig und selbst not­wen­dig, son­der­bar und un­mensch­lich er­schei­nen mit sei­nen deut­li­chen, schar­fen, rück­sichts­lo­sen Li­ni­en, sei­nen un­sanf­ten Ecken und Flä­chen. –

Das läßt sich nicht än­dern – da lieg­t’s. Und der Meis­ter lei­det dar­un­ter mit dem letz­ten und ge­rings­ten sei­ner Nach­fol­ger: Pla­to mag die gan­ze Mensch­heit ge­won­nen ha­ben mit der dra­ma­ti­schen Er­fin­dung sei­nes Dia­logs, aber ich zweifle, ob er je einen ein­zi­gen zu dem Wun­sche be­geis­tert hat, ein Bür­ger sei­ner Re­pu­blik zu sein, und ich zweifle, ob je­mand einen Mo­nat der all­ge­mei­nen Tu­gend aus­hal­ten könn­te, von der More träum­te. Nie­mand will wirk­lich in ei­ner Ver­kehrs­ge­mein­schaft le­ben, wenn er nicht In­di­vi­dua­li­tä­ten dort an­tref­fen kann. Der be­fruch­ten­de Kampf un­ter den ein­zel­nen ist der letz­te Sinn des per­sön­li­chen Le­bens, und alle Uto­pi­en kön­nen nicht mehr tun, als Ver­bes­se­run­gen die­ses Ge­gen­spiels vor­schla­gen. Nach die­ser Rich­tung ent­spricht die Um­ge­stal­tung des Le­bens mo­der­nen An­schau­un­gen. Be­vor wir nicht In­di­vi­dua­li­tä­ten bei­brin­gen, kann nichts in die Ent­ste­hung tre­ten, und ein Wel­tall ver­schwin­det, wenn wir den Spie­gel zer­bre­chen, in wel­chem es selbst in dem ge­rings­ten in­di­vi­du­el­len Geis­te er­scheint.

§ 3

Eine mo­der­ne Uto­pie be­an­sprucht für ihre Dar­stel­lung nicht we­ni­ger als einen gan­zen Pla­ne­ten. Es gab eine Zeit, da ein Ge­birg­stal oder eine In­sel ei­nem Ge­mein­we­sen ge­nü­gen­den Ab­schluß bo­ten, um ge­gen jede Beun­ru­hi­gung von au­ßen ge­schützt zu sein. Pla­tos Re­pu­blik war be­stän­dig in Waf­fen für einen Ver­tei­di­gungs­krieg, und die Neue At­lan­tis und Mo­res Uto­pie er­hiel­ten sich in der Theo­rie – wie Chi­na und Ja­pan vie­le Jahr­hun­der­te lang in Wirk­lich­keit – ab­ge­schlos­sen ge­gen alle Ein­dring­lin­ge. Neue­re Bü­cher die­ser Art, wie But­lers sa­ti­ri­sches Ere­whon und Steads Kö­ni­gin­tum der um­ge­kehr­ten Se­xual­ver­hält­nis­se in Zen­tral­afri­ka hiel­ten das ti­be­ta­ni­sche Ver­fah­ren, den for­schen­den Be­su­cher zu er­schla­gen, für ein ein­fa­ches und aus­rei­chen­des Mit­tel. Aber die gan­ze Rich­tung mo­der­nen Den­kens ist je­der be­stän­di­gen Ab­schlie­ßung ent­ge­gen. Heut­zu­ta­ge sind wir uns wohl be­wußt, daß jen­seits der Gren­zen auch des noch so fein aus­ge­dach­ten Staa­tes die Macht an­ste­cken­der Krank­hei­ten, lau­ern­der Bar­ba­ren oder frem­der Wirt­schafts­ver­hält­nis­se je­der­zeit ihre Kräf­te sam­meln kann, uns nie­der­zu­rin­gen. Der Ein­dring­ling kann sich den ra­schen Gang der Er­fin­dun­gen zu­nut­ze ma­chen. Nun kannst du viel­leicht noch eine fel­si­ge Küs­te oder einen Paß hal­ten, was aber dann, wenn schon mor­gen das Luft­schiff über dir er­scheint und sich nie­der­sen­ken kann, wo es ihm be­liebt? Wäre ein Staat mäch­tig ge­nug, sich un­ter mo­der­nen Ver­hält­nis­sen ab­ge­schlos­sen zu hal­ten, so müß­te er auch mäch­tig ge­nug sein, die Welt zu be­herr­schen, und wenn er sie nicht selbst be­herrsch­te, so müß­te er doch alle an­dern mensch­li­chen Ge­mein­we­sen ru­hig dul­den und für sie die Verant­wor­tung tra­gen. Es müß­te also ein Welt­staat sein.

So kann ein mo­der­nes Uto­pi­en nicht in Zen­tral­afri­ka oder in Süd­ame­ri­ka oder um den Pol her­um lie­gen, wo die letz­ten Zuf­luchts­stät­ten al­ler Idea­le sind. Auch die schwim­men­de In­sel der Cité Mo­rel­lys­te ist nicht mehr brauch­bar. Wir brau­chen einen Pla­ne­ten. Lord Ers­ki­ne, der Ver­fas­ser ei­ner Uto­pie (der »Ar­ma­ta«), die von He­wins in­spi­riert sein könn­te, er­kann­te dies zu­erst von al­len Uto­pis­ten – er ver­band sei­ne Zwil­lings­pla­ne­ten von Pol zu Pol durch eine Art Na­bel­schnur. Aber die Phan­ta­sie des Mo­der­nen, die sich an die Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu hal­ten hat, darf sich da­mit nicht be­gnü­gen.

Jen­seits des Si­ri­us, ver­lo­ren im Raum, wei­ter ent­fernt als der Flug ei­ner Ka­no­nen­ku­gel, die eine Bil­li­on Jah­re un­ter­wegs ist, au­ßer­halb des Be­reichs un­se­rer schwa­chen Ein­bil­dungs­kraft, flammt der Stern, der un­se­res Uto­pi­ens Son­ne ist. Wer weiß, wo­hin er sei­ne gu­ten Au­gen durch ein gu­tes Fern­rohr rich­ten muß, der sieht die­sen Stern mit drei Ge­nos­sen, die sich eng um ihn zu stel­len schei­nen – ob­gleich sie uns un­glaub­lich vie­le Bil­lio­nen Mei­len nä­her sind – ge­ra­de noch als einen ganz schwa­chen Licht­fleck. Pla­ne­ten um­wan­deln ihn, ge­nau wie un­se­re Pla­ne­ten, aber an ei­nem an­dern Schick­sal we­bend, und un­ter ih­nen steht Uto­pi­en an sei­ner Stel­le, mit sei­nem brü­der­li­chen Ge­fähr­ten, dem Mond. Ein Pla­net wie der un­se­re: die­sel­ben Kon­ti­nen­te, In­seln, Mee­re und Seen, ein zwei­ter Fuji-Yama ragt präch­tig em­por über ein zwei­tes Yo­ko­ha­ma, und ein Mat­ter­horn schaut über das ei­si­ge La­by­rinth ei­nes Theo­du­le hin­weg. Er ist un­serm Pla­ne­ten so ähn­lich, daß ein Bo­ta­ni­ker der Erde dort jede sei­ner Pflan­zen­ar­ten fin­den könn­te bis zur ge­meins­ten Teich­al­ge oder der sel­tens­ten Al­pen­blu­me.

Wenn er aber die letz­te­re ge­pflückt hät­te und sich nach sei­nem Gast­haus um­se­hen woll­te … er fän­de dies sein Gast­haus viel­leicht nicht!

Den­ke dir nun, es ste­hen wirk­lich zwei Men­schen da und se­hen sich ge­nau in die­ser Wei­se um. Ich sage zwei, denn ei­nem frem­den Pla­ne­ten – und wäre es auch ein ganz zi­vi­li­sier­ter – ohne den Rück­halt ei­nes Freun­des ent­ge­gen­zu­ge­hen, das wäre zu viel für den Mut ei­nes ein­zel­nen. Den­ke dir also, wir wä­ren, wie wir ge­hen und ste­hen, dort­hin ent­rückt. Du magst dir vor­stel­len, wir be­fän­den uns auf ei­nem ho­hen Paß in den Al­pen, und ob­gleich ich selbst kein Bo­ta­ni­ker bin – ich be­kom­me näm­lich leicht Schwin­del vom Bücken –, so wür­de ich doch nicht Streit an­fan­gen, wenn mein Beglei­ter eine Bo­ta­ni­sier­büch­se am Arm trü­ge, nur dürf­te sie nicht mit dem so be­lieb­ten, un­aus­steh­li­chen Schwei­zer Ap­fel­grün la­ckiert sein. Wir sind um­her­ge­wan­dert, ha­ben bo­ta­ni­siert, uns dann zum Aus­ru­hen nie­der­ge­las­sen und, zwi­schen den Fel­sen sit­zend, un­sern Im­biß ver­zehrt, eine Fla­sche Yvor­ne ge­trun­ken, ein Ge­spräch über Uto­pi­en an­ge­fan­gen, und un­ge­fähr das ge­sagt, was ich so­eben vor­ge­tra­gen habe. Ich selbst könn­te mir dies auf dem klei­nen Joch des Lu­cen­dro­pas­ses vor­stel­len, auf dem Rücken des Piz Lu­cen­dro, denn da habe ich ein­mal sehr an­ge­nehm ge­früh­stückt und ge­plau­dert. Wir se­hen hin­un­ter ins Val Be­dret­to, und Vil­la, Fon­ta­na und Ai­ro­lo wol­len sich vor uns ver­ste­cken un­ter dem Berg­hang – drei­vier­tel Mei­len ent­fernt lie­gen sie senk­recht in der Tie­fe (La­ter­ne). Mit der ab­sur­den Schein­wir­kung der Nähe, wie man sie in den Al­pen er­lebt, se­hen wir den klei­nen, zwölf Mei­len ent­fern­ten Ei­sen­bahn­zug die Bia­schi­na ent­lang nach Ita­li­en hin­un­ter­fah­ren, und der Luk­ma­ni­er Paß hin­ter Pio­ra, links von uns, und der San Gia­co­mo rechts lie­gen wie Fuß­pfa­de un­ter uns …

Und sie­he! in ei­nem Nu sind wir in je­ner an­dern Welt!

Kaum wür­den wir die Ver­wand­lung be­mer­ken. Kei­ne Wol­ke we­ni­ger am Him­mel. Vi­el­leicht wür­de die fer­ne Stadt da un­ten ein we­nig an­ders aus­se­hen, und mein Ge­fähr­te, der Bo­ta­ni­ker, könn­te mit sei­ner ge­üb­ten Beo­b­ach­tungs­ga­be auch ge­ra­de so­viel ent­de­cken. Der Zug wäre viel­leicht von dem Bil­de ver­schwun­den, eben­so die ge­ra­de Li­nie des in den Am­bri-Piot­ta-Wie­sen re­gu­lier­ten Tes­sin – dies wäre etwa die Ver­än­de­rung, aber auch die ein­zi­ge wahr­nehm­ba­re. Es fällt mir je­doch ein, wie wir uns des Un­ter­schieds der Din­ge plötz­lich dun­kel be­wußt wer­den könn­ten.

Der Bo­ta­ni­ker wür­de sich lei­se ver­sucht füh­len, mit sei­nen Bli­cken Ai­ro­lo wie­der zu su­chen. »Son­der­bar«, wür­de er in al­ler Ruhe sa­gen, »dies Ge­bäu­de da rechts habe ich noch nie be­merkt.«

»Wel­ches Ge­bäu­de?«

»Das da rechts – mit dem son­der­ba­ren …«

»Jetzt seh’ ich’s. Ja, ja, das sieht wahr­haf­tig ko­misch aus. Und groß, sag’ ich Ih­nen! Und hübsch! Ich möch­te wis­sen – –«

Dies un­ter­brä­che un­se­re uto­pis­ti­schen Spe­ku­la­tio­nen. Zwar wür­den wir bei­de ent­de­cken, daß die klei­nen Städ­te un­ten ver­wan­delt wä­ren, aber wir hät­ten sie vor­her nicht ge­nau ge­nug be­ob­ach­tet, um zu wis­sen, wie. Man könn­te nicht nä­her be­schrei­ben, ob es eine Ver­än­de­rung ih­rer Grup­pie­rung oder eine sol­che ih­rer fer­nen, klei­nen Um­ris­se sei.

Dann schnel­le ich wohl ei­ni­ge Krüm­chen vom Knie und sage: »Son­der­bar« zum zehn­ten oder elf­ten Male, in­dem ich mich zum Auf­ste­hen an­schi­cke. Wir stün­den wie­der da, streck­ten uns und lenk­ten un­se­re Bli­cke, im­mer noch ein we­nig ver­wun­dert, auf den Pfad, der über ge­stürz­te Fel­sen hin­ab­klet­tert, den stil­len, kla­ren See um­kreist und sich zum Ho­spiz des St. Gott­hard nie­der­wen­det – wenn wir die­sen Pfad eben noch fin­den könn­ten. Lan­ge be­vor wir ihn oder auch nur die große Stra­ße er­reicht hät­ten, müß­te die Stein­hüt­te in der Keh­le des Pas­ses – die ver­schwun­den oder merk­wür­dig ver­än­dert wäre – müß­ten die Zie­gen auf den Fel­sen und der klei­ne Schup­pen bei der ro­hen stei­ner­nen Brücke uns dar­auf hin­ge­wie­sen ha­ben, daß eine große Wand­lung über die Welt der Men­schen ge­kom­men sei.

Und gleich dar­auf trä­fen wir un­ter ge­gen­sei­ti­gem Er­stau­nen auf einen Men­schen – kei­nen Schwei­zer – in un­ge­wohn­ter Klei­dung und mit ei­ner nie ge­hör­ten Spra­che.

§ 4

Vor Ein­bruch der Nacht wä­ren wir ge­sät­tigt mit Wun­der­din­gen, aber im­mer noch blie­be uns ein Stau­nen üb­rig für et­was, das mein Beglei­ter mit sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Aus­bil­dung ohne Zwei­fel als ers­ter sähe. Er schaut em­por mit dem Ken­ner­blick ei­nes Man­nes, der sei­ne Stern­bil­der bis auf die klei­nen grie­chi­schen Buch­sta­ben be­herrscht. Ich kann mir sei­nen Aus­ruf vor­stel­len. Zu­erst traut er sei­nen Au­gen kaum. Ich er­kun­di­ge mich nach dem Grund sei­ner Be­stür­zung – sie wäre ge­wiß schwer zu er­klä­ren. Er fragt mich et­was son­der­bar nach dem Ori­on, aber ich fin­de ihn nicht, dann nach dem Gro­ßen Bä­ren: er ist ver­schwun­den. »Wo?«, fra­ge ich, »wo denn?«, und su­che in dem zer­streu­ten Ge­wim­mel der Ster­ne … und lang­sam be­schleicht auch mich die Ver­wun­de­rung, die ihn er­füllt.

Da müß­te uns an die­sem un­be­kann­ten Ster­nen­him­mel viel­leicht zum ers­ten­mal klar wer­den, daß nicht die Welt sich ge­än­dert hät­te, son­dern daß wir selbst in die tiefs­ten Tie­fen des Rau­mes ver­setzt wor­den wä­ren.

§ 5

Wir brau­chen für den Ver­kehr kei­ne sprach­li­chen Hin­der­nis­se an­zu­neh­men. Die gan­ze Welt wird si­cher­lich eine ge­mein­sa­me Spra­che be­sit­zen, das ge­hört zu den ers­ten Voraus­set­zun­gen ei­ner Uto­pie. Da wir nicht so ge­bun­den sind, wie je­ner, der eine Er­zäh­lung glaub­haft ma­chen muß, so kön­nen wir an­neh­men, die­se Spra­che kom­me der uns­ri­gen nahe ge­nug, um ver­ständ­lich zu sein. Wä­ren wir über­haupt in Uto­pi­en, wenn wir nicht mit je­der­mann spre­chen könn­ten? Jene fluch­be­la­de­ne Spra­chen­schran­ke, jene feind­li­che In­schrift in des Aus­län­ders Auge »taub und stumm für Sie, mein Herr, und also – Ihr Feind«, ist der al­ler­ers­te von den Män­geln und Miß­stän­den, de­nen man durch die Flucht von der Erde ent­rin­nen woll­te.

Doch, wel­che Spra­che müß­te nach un­serm Wun­sche die Welt spre­chen, wenn es hie­ße, das Wun­der von Ba­bel sol­le sich als­bald um­keh­ren?

Wenn ich ein küh­nes Bild ge­brau­chen, mir eine mit­tel­al­ter­li­che Frei­heit er­lau­ben darf, so neh­me ich an, der Geist der Schöp­fung spre­che in die­ser Ein­sam­keit mit uns über je­nen Ge­gen­stand. »Ihr seid klu­ge Leu­te«, möch­te der Geist etwa sa­gen – und da ich trotz mei­ner An­la­ge zur Be­leibt­heit ein arg­wöh­ni­scher, emp­find­li­cher, über­erns­ter Mensch bin, so wür­de ich den Spott so­fort wit­tern (mein Ge­fähr­te aber wür­de sich wahr­schein­lich so­gar noch ge­schmei­chelt füh­len) – »und eure Weis­heit zu er­zeu­gen, wur­de die Welt in ers­ter Li­nie ge­schaf­fen. Ihr seid so freund­lich, ein be­schleu­nig­tes Tem­po in der lang­wei­li­gen, viel­fäl­ti­gen Ent­wick­lung zu wün­schen, mit der ich mich ab­ge­be. Dazu, mer­ke ich, wäre euch eine Welt­spra­che von Nut­zen. Wäh­rend ich hier in die­sen Ber­gen sit­ze – ich fei­le etwa seit die­sem Äon an ih­nen her­um, ein­zig, um eure Ho­tels an­zu­lo­cken – ihr ver­steht mich – wollt ihr so freund­lich sein …? Ein paar Fin­ger­zei­ge …?«

Dann wür­de der Geist der Schöp­fung flüch­tig lä­cheln, und sein Lä­cheln wäre, als zie­he eine Wol­ke da­hin. Die gan­ze Berg­wild­nis um uns her stün­de in strah­len­der Be­leuch­tung da. (Man kennt jene flüch­ti­gen Au­gen­bli­cke in der ein­sa­men Wild­nis, da Wär­me und Glanz über sie hin­hu­schen.)

Soll­ten je­doch zwei Men­schen ihr Stre­ben auf­ge­ben, weil der Unend­li­che sie be­lä­chelt? Da ste­hen wir mit den knor­ri­gen, klei­nen Köp­fen, den Au­gen, Hän­den, Fü­ßen und star­ken Her­zen, und wenn nicht wir noch die Un­se­ren, so sol­len doch die end­lo­sen Scha­ren, die aus uns oder an­dern her­vor­ge­hen, zu­letzt zum Welt­staat, zu ei­ner grö­ße­ren Ge­mein­schaft und ei­ner Ein­heits­s­pra­che ge­lan­gen. Wir wol­len mit al­len Kräf­ten, wenn auch nicht die Fra­ge be­ant­wor­ten, so doch ihre bes­te Lö­sung im Geis­te vor­aus­se­hen. Dies ist un­se­re Ab­sicht: uns das Bes­te aus­zu­den­ken und da­nach zu stre­ben. Eine schlim­me­re Sün­de und eine grö­ße­re Tor­heit als die An­ma­ßung ist der Klein­mut, wenn auch der Größ­te un­se­rer Gro­ßen ge­ring er­scheint un­ter den Son­nen des Wel­talls.

Nun möch­te man, den­ke ich mir, viel­leicht eine Vor­lie­be für et­was ha­ben, das man »wis­sen­schaft­lich« nennt. Wer aber bei die­sem über­aus be­lei­di­gen­den Wort zu­sam­men­zuckt, der darf mei­nes ver­ständ­nis­vol­len Mit­ge­fühls ver­si­chert sein – ob­gleich »pseu­do­wis­sen­schaft­lich« und »qua­si­wis­sen­schaft­lich« noch eine viel schlim­me­re Wir­kung ha­ben. Und man fin­ge wahr­schein­lich an, von wis­sen­schaft­li­chen Spra­chen zu re­den, vom Es­pe­ran­to, von der »Langue bleue«, dem Neu­la­tein, dem Vo­la­pük und ähn­li­chem. Ei­ner wür­de auch be­haup­ten, die che­mi­sche Ter­mi­no­lo­gie sei von wun­der­ba­rer Ge­nau­ig­keit und all­um­fas­sen­der Ver­wend­bar­keit, und bei dem Wor­te Ter­mi­no­lo­gie wür­de ich eine Be­mer­kung ein­flech­ten über je­nen her­vor­ra­gen­den ame­ri­ka­ni­schen Bio­lo­gen, Pro­fes­sor Mark Bald­win, der die bio­lo­gi­sche Spra­che auf eine sol­che Höhe aus­drucks­vol­ler Klar­heit ge­ho­ben hat, daß sie mit ih­rer Un­les­bar­keit Tri­um­phe fei­ern konn­te. (Da­rin liegt mei­ne Ver­tei­di­gungs­li­nie an­ge­deu­tet.)

Man er­läu­tert die­ses Ide­al so: es soll eine wis­sen­schaft­li­che Spra­che sein, ohne Zwei­deu­tig­keit, so scharf wie ma­the­ma­ti­sche For­meln, und jede Be­zeich­nung soll mit je­der an­dern in ge­nau­em lo­gi­schem Zu­sam­men­hang ste­hen. Die­se Spra­che wird nur re­gel­mä­ßi­ge Fle­xio­nen des Verbs und Sub­stan­tivs und fes­te Kon­struk­tio­nen ha­ben, je­des Wort wird in Schrei­bung und Auss­pra­che von je­dem an­dern deut­lich un­ter­schie­den sein.

Je­den­falls sind dies die For­de­run­gen, die man ge­wöhn­lich hört, und sie sind es wert, hier be­trach­tet zu wer­den, wäre es auch nur, weil ihre Zu­sam­men­hän­ge weit über das Ge­biet der Spra­che hin­aus­rei­chen. Sie schlie­ßen in der Tat fast al­les ein, was wir in die­sem Buch zu­rück­zu­wei­sen be­müht sind. Zu­nächst dies: daß die gan­ze geis­ti­ge Grund­la­ge des Men­schen­ge­schlechts fest­steht, daß die Re­geln der Lo­gik, die Sys­te­me des Zäh­lens und Mes­sens, die all­ge­mei­nen Ka­te­go­ri­en und Sche­men der Ähn­lich­keit und Ver­schie­den­heit für den mensch­li­chen Geist auf im­mer be­grün­det sind: die rei­ne Leh­re Com­tes, wie sie ge­schrie­ben steht. Es hat aber die Wis­sen­schaft der Lo­gik und das gan­ze Gerüs­te phi­lo­so­phi­schen Den­kens, das die Men­schen seit Pla­to und Ari­sto­te­les auf­recht er­hal­ten ha­ben, als end­gül­ti­ger Aus­druck des mensch­li­chen Geis­tes nicht mehr Dau­er als der große schot­ti­sche Ka­te­chis­mus. Aus dem Cha­os des mo­der­nen Den­kens er­hebt sich wie­der eine Phi­lo­so­phie, die lan­ge ver­ges­sen war, wie ein blin­der und ge­stalt­lo­ser Em­bryo, der jetzt Ge­sicht und Form und Kraft ent­wi­ckelt, eine Phi­lo­so­phie, die jene An­ma­ßung ver­wirft. 1

Ich will gleich be­mer­ken, daß man im gan­zen Ver­lauf un­se­res Aus­flugs ins Uto­pi­sche die­se neu auf­tau­chen­de Be­we­gung leb­haft spü­ren wird. In dem wie­der­hol­ten Ge­brauch des Wor­tes »Ein­zig« wird man gleich­sam den Schim­mer ih­res Äu­ße­ren, in der ste­ten Be­to­nung der In­di­vi­dua­li­tät und der per­sön­li­chen Ver­schie­den­heit als der Be­deu­tung des Le­bens aber das Ge­we­be ih­rer sich bil­den­den Ge­stalt er­ken­nen. Nichts dau­ert, nichts ist scharf und si­cher (als der Geist ei­nes Pe­dan­ten), und Voll­kom­men­heit ist blo­ße Leug­nung je­ner un­ver­meid­li­chen Ver­schwom­men­heit der Um­ris­se, die das in­ners­te Ge­heim­nis al­les Seins ist. Des Seins! … es gib­t kein Sein, nur ein all­ge­mei­nes Wer­den des ein­zel­nen, und Pla­to kehr­te der Wahr­heit den Rücken, als er sich sei­nem Mu­se­um der ein­zel­nen Idea­le zu­wand­te. Hera­klit, der ein­sa­me und miß­deu­te­te Rie­se, kommt viel­leicht zu sei­nem Recht …

In un­serm Wis­sen ist nichts Blei­ben­des. So wie un­se­re Er­kennt­nis deut­li­cher wird, hellt sie einen bis­her dun­keln Hin­ter­grund auf, und gleich er­scheint hin­ter die­sem wie­der ein neu­er und ver­schie­de­ner. Wir kön­nen nie vor­her­sa­gen, ob nicht ein an­schei­nend si­che­rer Bo­den bei der nächs­ten Ver­än­de­rung weicht. Wie tö­richt also, un­ser Den­ken in fes­te, wenn auch noch so wei­te Gren­zen ein­schlie­ßen, den un­end­li­chen Ge­heim­nis­sen der Zu­kunft Be­zeich­nung und Aus­druck vor­schrei­ben zu wol­len! Wir ver­fol­gen die Ader, bau­en sie ab und häu­fen un­sern Schatz auf; wer aber kann sa­gen, wo­hin die Ader ver­läuft? Die Spra­che ist der Nähr­stoff un­se­res Den­kens und schlägt nur an, wenn sie sich um­set­zen kann in Den­ken, wenn sie lebt und im Le­ben sich ver­zehrt. O ihr Wis­sen­schaft­ler mit eu­rem Hirn­ge­spinst ei­ner Spra­che von un­aus­steh­li­cher Ge­nau­ig­keit und un­ver­än­der­li­chem Be­stand, euch fehlt es gar sehr an je­der Ein­bil­dungs­kraft!

Die Spra­che Uto­pi­ens wird ohne Zwei­fel ein­heit­lich sein und sich nicht mehr spal­ten. Die gan­ze Mensch­heit wird sich nach dem Maße der ein­zel­nen Ver­schie­den­hei­ten einen ein­heit­li­chen Re­so­nanz­bo­den des Den­kens zu schaf­fen wis­sen, aber ihre Spra­che wird im­mer noch eine le­ben­de Spra­che sein, ein see­len­vol­les Gan­ze aus un­voll­kom­me­nen Ein­zel­hei­ten, an de­nen je­der im kleins­ten fort­wäh­rend um­ge­stal­tet. Da ein all­ge­mei­ner Aus­tausch und Ver­kehr be­steht, wird sich der Ge­samt­geist die­ser Spra­che so fort­ent­wi­ckeln, daß sei­ne Ver­än­de­run­gen im­mer durch die gan­ze Welt ge­hen: dar­in liegt eben ihre Ei­gen­schaft als Welt­spra­che. Ich stel­le sie mir als eine aus ver­schie­de­nen Säf­ten ge­nähr­te, als eine aus vie­len ein­zel­nen ent­stan­de­ne Spra­che vor. Das Eng­li­sche ist eine Spra­che die­ser Art, ent­stan­den aus dem An­gel­säch­si­schen, dem Nor­man­nisch-Fran­zö­si­schen und dem Ge­lehr­ten­la­tein und in eine ein­heit­li­che Spra­che ver­schmol­zen, die um­fas­sen­der, kräf­ti­ger und schö­ner ist als jede an­de­re. Das Uto­pi­sche müß­te aus noch zahl­rei­che­ren Nähr­flüs­sen ge­bil­det sein und im Rah­men ei­ner bei­na­he fle­xi­ons­lo­sen Spra­che, wie es das Eng­li­sche ist, einen ver­schwen­de­ri­schen Wor­treich­tum ent­hal­ten. Die­ser wäre aus vie­len frü­her selb­stän­di­gen Spra­chen zu­sam­men­ge­flos­sen, die all­mäh­lich in­ein­an­der über­gin­gen. 2 Frü­her ga­ben sich geist­rei­che Män­ner mit der Fra­ge ab: wel­che Spra­che wird die an­dern über­dau­ern? Die­se Fra­ge war falsch ge­stellt. Es scheint mir heu­te viel wahr­schein­li­cher zu sein, daß meh­re­re Spra­chen sich ver­ei­ni­gen und in ei­nem ge­mein­sa­men Stro­me fort­flie­ßen.

Der vor­ste­hen­de Ab­schnitt über die Spra­chen be­deu­tet je­doch eine Ab­schwei­fung. Wir wa­ren auf dem Pfad, der den Lu­cen­dro­see um­kreist und eben im Be­griff, dem ers­ten Uto­pier zu be­geg­nen. Ich sag­te schon, er war kein Schwei­zer. Und doch wäre er auf un­se­rer al­ten Erde ein Schwei­zer ge­we­sen und hät­te auch hier das­sel­be Ge­sicht, viel­leicht mit ei­ner klei­nen Ver­schie­den­heit im Aus­druck, den­sel­ben Kör­per­bau, wenn auch ein we­nig bes­ser ent­wi­ckelt, die­sel­be Ge­sichts­far­be. Er hät­te an­de­re Ge­wohn­hei­ten, Über­lie­fe­run­gen, Klei­der, Gerä­te, ein an­de­res Wis­sen und Vor­stel­len, aber da­von ab­ge­se­hen wäre es der­sel­be Mensch. Schon im An­fan­ge faß­ten wir scharf ins Auge, daß ein mo­der­nes Uto­pi­en von den glei­chen Men­schen be­wohnt sein müs­se wie un­se­re Welt.

Da­rin liegt viel­leicht mehr, als man auf den ers­ten Blick ver­mu­tet. Denn die­se Voraus­set­zung be­deu­tet einen cha­rak­te­ris­ti­schen Un­ter­schied ge­gen fast alle frü­he­ren Uto­pi­en. Die un­se­re darf, wie wir schon be­tont ha­ben, nichts Ge­rin­ge­res sein, als eine Wel­tu­to­pie, und so müs­sen wir not­wen­dig mit der Ver­schie­den­heit der Ras­sen rech­nen. Selbst die un­te­re Klas­se in Pla­tos Re­pu­blik war von kei­ner spe­zi­fisch ver­schie­de­nen Ras­se. Un­ser Uto­pi­en soll al­les um­fas­sen, wie die christ­li­che Barm­her­zig­keit: Wei­ße und Schwar­ze, Brau­ne, Rote und Gel­be, alle Haut­far­ben, Kör­per­for­men und An­la­gen. Wie wir ihre Ver­schie­den­hei­ten in Ein­klang brin­gen, ist eine Haupt­fra­ge und nicht ge­eig­net, in die­sem Ka­pi­tel an­ge­schnit­ten zu wer­den. Es wird ei­nes ei­ge­nen Ka­pi­tels be­dür­fen, ihre Lö­sung auch nur zu über­bli­cken. Hier un­ter­strei­chen wir noch ein­mal die For­de­rung, daß die Ras­sen der Erde in glei­cher Zahl und Art auch dort zu fin­den sein müs­sen – nur, wie ge­sagt, mit gänz­lich ver­schie­de­nen Über­lie­fe­run­gen, Idea­len, Vor­stel­lun­gen und Zie­len, und so un­ter je­nem an­dern Him­mel auch ei­nem an­dern Ge­schick ent­ge­gen­ge­hend. Daraus er­gibt sich eine son­der­ba­re Fol­ge­rung für je­den, der von der Ein­zig­keit und der ein­zi­gen Be­deu­tung des In­di­vi­du­ums durch­drun­gen ist. Eine Ras­se ist nicht et­was Fes­tes, Ge­schlos­se­nes, kei­ne Schar von völ­lig glei­chen Men­schen, son­dern eine Häu­fung von Un­ter­ras­sen, Stäm­men und Sip­pen, jede ein­zig in ih­rer Art, und wie­der aus klei­ne­ren Ein­zel­bil­dun­gen be­ste­hend, bis hin­un­ter auf jede ein­zel­ne Per­son. Wir wol­len also zu­erst da­hin über­ein­kom­men, daß nicht nur je­der Berg und Fluß, jede Pflan­ze und je­des Tier der Erde auch auf je­nem Pla­ne­ten jen­seits des Si­ri­us zu fin­den ist, son­dern auch je­der le­ben­de Mann, jede Frau, je­des Kind dort einen Dop­pel­gän­ger hat. Von jetzt an wer­den die Schick­sa­le die­ser bei­den Pla­ne­ten na­tür­lich aus­ein­an­der­lau­fen: hier wer­den Men­schen ster­ben, die dort eine ver­bes­ser­te Ein­sicht ret­ten kann, viel­leicht kön­nen wir auch um­ge­kehrt Leu­te bei uns ret­ten; ih­nen wer­den Kin­der ge­bo­ren und uns nicht, aber auch uns und ih­nen nicht. Wir ste­hen hier am Aus­gangs­punkt und se­hen zum ers­ten- und letz­ten­mal die Be­völ­ke­rung un­se­rer Pla­ne­ten auf glei­cher Li­nie ste­hen.

In un­se­rer Zeit ist eine an­de­re Voraus­set­zung nicht mehr mög­lich. Sonst blie­be uns ein­zig ein Uto­pi­en aus en­gel­glei­chen Pup­pen – ein Hirn­ge­spinst von Ge­set­zen für un­denk­ba­re Men­schen – wahr­haf­tig eine reiz­lo­se Auf­ga­be.

Zum Bei­spiel müs­sen wir dort einen Men­schen an­neh­men, wie ich ei­ner hät­te sein kön­nen: bes­ser ge­bil­det und ge­ord­ne­ter, brauch­ba­rer, schlan­ker und be­weg­li­cher – und ich möch­te se­hen, was er um­treibt! – auch Sie, lie­ber Le­ser, lie­be Le­se­rin, ha­ben Ihr Du­pli­kat, und alle Män­ner und Frau­en, die wir bei­de ken­nen. Es wäre zwei­fel­haft, ob wir un­se­re Dop­pel­gän­ger trä­fen, oder ob dies für uns ein Ver­gnü­gen wäre; aber je mehr wir aus den ein­sa­men Ber­gen hin­ab­stei­gen zu den Stra­ßen und Häu­sern und be­wohn­ten Or­ten des uto­pis­ti­schen Wel­treichs, de­sto si­che­rer wer­den wir hin und wie­der auf Ge­sich­ter sto­ßen, die uns aus­ge­spro­chen an jene er­in­nern, die un­ter un­sern Au­gen ge­wan­delt sind.

Man­chem, sa­gen Sie, möch­ten Sie nicht mehr be­geg­nen, und man­chem, den­ke ich mir, doch. »Und gar ei­nem …!«

Es ist merk­wür­dig, aber die­se Ge­stalt des Bo­ta­ni­kers will durch­aus nicht an ih­rer Stel­le blei­ben. Sie er­hob sich zwi­schen uns, lie­ber Le­ser, als eine flüch­ti­ge Er­fin­dung zu bes­se­rem Ver­ständ­nis. Ich weiß nicht, wie ich auf ihn kam, es ge­fiel mei­ner Lau­ne so­gar, ihn an die Stel­le Ih­rer wer­ten Per­son zu set­zen und Sie wis­sen­schaft­lich zu nen­nen – was ja sehr be­lei­di­gend ist. Aber da steht er nun un­strei­tig ne­ben mir in Uto­pi­en und glei­tet von der Höhe un­se­rer Spe­ku­la­tio­nen her­ab zu zö­gern­den, aber recht ver­trau­li­chen Mit­tei­lun­gen. Er er­klärt, er sei nicht nach Uto­pi­en ge­kom­men, um sei­nen Sor­gen wie­der zu be­geg­nen.

Wel­chen Sor­gen?

Ich be­teu­re, aufs wärms­te so­gar, daß es we­der auf ihn, noch auf sei­ne Sor­gen ab­ge­se­hen war.

Er ist ein Mann von etwa neun­und­drei­ßig, des­sen Le­ben we­der eine Tra­gö­die noch ein fröh­li­ches Aben­teu­er war, ein Mann mit ei­nem Ge­sichts­aus­druck, den das Le­ben eher in­ter­essant als kräf­tig oder edel ge­stal­tet hat. Er hat ein et­was ver­fei­ner­tes, emp­find­sa­mes We­sen und eine ge­bil­de­te Selbst­be­herr­schung; er hat mehr ge­le­sen als ge­lit­ten und mehr ge­lit­ten als ge­han­delt. Er sieht mich an mit den blau­grau­en Au­gen, aus de­nen al­les In­ter­es­se an die­sem Uto­pi­en ver­schwun­den ist.

»Es ist dies eine Un­ru­he«, ant­wor­tet er, »die erst seit un­ge­fähr ei­nem Mo­nat in mein Le­ben ge­kom­men ist – we­nigs­tens wie­der recht fühl­bar. Ich dach­te schon, es wäre vor­bei. Es war eine …«

Die Ge­schich­te hört sich son­der­bar an auf ei­nem Ge­birgs­kamm in Uto­pi­en: die­se An­ge­le­gen­heit aus Hamps­tead, die­se Ge­schich­te ei­nes Her­zens aus Fro­gnal. »Fro­gnal«, sagt er, ist der Ort, wo sie sich be­geg­net sind, und ich er­in­ne­re mich, das Wort auf ei­nem Schil­de ge­le­sen zu ha­ben an der Ecke ei­ner neu­en, kie­sel­ge­pflas­ter­ten Stra­ße, die zur Er­schlie­ßung ei­nes Gu­tes an­ge­legt war und über wel­cher zer­streu­te Vil­len am Hang ei­nes Hü­gels ste­hen. Er hat­te sie ge­kannt, ehe er sei­ne Pro­fes­sur er­hielt und we­der ihre »An­ge­hö­ri­gen«, noch die sei­nen – er spricht in je­nem un­aus­steh­li­chen Stil des Mit­tel­stan­des, in dem Tan­ten und Din­ger mit Geld und mit dem Recht, sich in al­les zu mi­schen, »An­ge­hö­ri­ge« hei­ßen – bil­lig­ten die Sa­che. »Sie ließ sich, wie mir scheint, et­was leicht da­von ab­brin­gen«, sagt er. »Aber das ist viel­leicht nicht ge­recht ge­gen sie. Sie sah zu sehr auf die an­dern. Wenn sie be­trübt schie­nen, oder wenn sie et­was für rich­tig hiel­ten …«

Bin ich nach Uto­pi­en ge­kom­men, um sol­che Din­ge zu hö­ren?


  1. Der erns­te­re Le­ser mag dar­über nach­le­sen in Sidg­wicks »Lo­gik«; der flüch­ti­ge­re lese Pro­fes­sor Ca­ses Ar­ti­kel »Lo­gik« im 30. Band der Bri­ti­schen En­zy­klo­pä­die und be­ach­te sei­ne Ge­reizt­heit. Ich habe die­sem Buch eine flüch­ti­ge Skiz­ze ei­ner Phi­lo­so­phie auf die­ser neu­en Grund­la­ge an­ge­fügt; sie wur­de ur­sprüng­lich, 1903, der Ox­for­der Phil. Soc. vor­ge­tra­gen.  <<<

  2. Vgl. einen aus­ge­zeich­ne­ten Auf­satz: Die fran­zö­si­sche Spra­che im Jah­re 2003, von Leon Bol­lack, in der Re­vue vom 15. Juni 1903.  <<<

§ 6

Ich muß die Ge­dan­ken des Bo­ta­ni­kers auf wür­di­ge­re Bah­nen len­ken. Es gilt, die­se arm­se­li­ge Sehn­sucht, die­se auf­dring­li­che klei­ne Lie­bes­ge­schich­te zu über­win­den. Ist er sich klar dar­über, daß dies hier wirk­lich Uto­pi­en ist? Wen­den Sie Ihre Auf­merk­sam­keit mei­nem Uto­pi­en hier zu, und über­las­sen Sie die­se ir­di­schen Nöte ih­rem ei­ge­nen Pla­ne­ten. Kön­nen Sie sich ge­nau vor­stel­len, wo­hin die für eine mo­der­ne Uto­pie nö­ti­gen Voraus­set­zun­gen uns füh­ren? Ein je­der von der Erde muß hier sein – als er selbst, nur mit ei­ner ge­wis­sen Ver­än­de­rung. Ir­gend­wo ist zum Bei­spiel Herr Cham­ber­lain in die­ser Welt, auch der Kö­nig von Eng­land ist da (ohne Zwei­fel in­ko­gni­to) und die gan­ze Kö­nig­li­che Aka­de­mie.

Aber die­se be­rühm­ten Na­men ma­chen kei­nen Ein­druck auf ihn.

Mein Geist geht von ei­ner her­vor­ra­gen­den und be­deut­sa­men Per­sön­lich­keit zur an­dern, und ich ver­ges­se mei­ne Ge­fähr­ten für ei­ni­ge Zeit. Die selt­sa­men Ne­ben­schlüs­se, die sich aus un­se­rer all­ge­mei­nen An­nah­me er­ge­ben, len­ken mich ab. Name und Ge­stalt des Herrn Roo­se­velt tre­ten in den Brenn­punkt mei­ner Vor­stel­lung, und ich ver­ges­se dar­über einen Ver­such, den deut­schen Kai­ser zu ak­kli­ma­ti­sie­ren. Was soll Uto­pi­en zum Bei­spiel mit Herrn Roo­se­velt be­gin­nen? Über mein in­ne­res Ge­sichts­feld glei­tet das Bild ei­nes hef­ti­gen Kamp­fes mit uto­pi­schen Kon­sta­blern, die Stim­me er­klingt, die auf der Erde Mil­lio­nen in be­red­tem Pro­test durch­schau­ert hat. Der Haft­be­fehl, der im Kampf lose um­her­fliegt, fällt mir zu Fü­ßen. Ich fan­ge das Blatt auf und lese – ist’s mög­lich? – »Ver­such der Auf­lö­sung? … Auf­rei­zung zu Un­ru­hen? … Gleich­ge­wicht der Ge­sell­schaft?«

Die Rich­tung mei­nes Den­kens hat uns auf ein­mal in eine hei­te­re Gas­se ge­führt. Man könn­te auch bei die­ser Ton­art blei­ben und eine hüb­sche, klei­ne Uto­pie ver­fas­sen, die wie die hei­li­gen Fa­mi­li­en mit­tel­al­ter­li­cher Künst­ler (oder Mi­che­lan­ge­los Jüngs­tes Ge­richt) un­sern Freun­den in ver­schie­de­ner Wei­se schmei­cheln müß­te. Oder man lie­ße sich auf eine spe­ku­la­ti­ve Be­hand­lung des gan­zen Go­thai­schen Al­ma­nachs ein, etwa in der Art von Epis­te­mons Vi­si­on der ver­damm­ten Gro­ßen, wo es heißt:

»Xer­xes war ein Sen­faus­ru­fer,
Ro­mu­lus war Sal­zer und Holz­schuh­fli­cker …«

Ein un­ver­gleich­li­cher Ka­ta­log! ein un­ver­gleich­li­cher Ka­ta­log! Von der Muße der Par­odie er­leuch­tet, könn­ten wir die Sei­ten des Al­ma­nachs vor­neh­men und, mit ei­nem Blick auf die über­zeug­tes­te Re­pu­blik, auch einen »Adel­sal­ma­nach von Ame­ri­ka« und die köst­lichs­ten und aus­ge­dehn­tes­ten Ver­bin­dun­gen an­ord­nen. Wo­hin nun mit die­sem ganz aus­ge­zeich­ne­ten Mann? Und mit die­sem hier? …

Aber es ist ja zwei­fel­haft, ob wir auf un­se­rer Rei­se in Uto­pi­en einen von die­sen Dop­pel­gän­gern tref­fen oder er­ken­nen, wenn wir ihn tref­fen. Ich glau­be nicht, daß ir­gend je­mand es in bei­den Wel­ten zu et­was bringt. Die größ­ten Män­ner in die­sem noch un­er­forsch­ten Uto­pi­en sind viel­leicht bei uns nur Dorf­hel­den, wäh­rend die Zie­gen­hir­ten und der un­wis­sen­de Pö­bel der Erde dort auf den Ses­seln der Macht sit­zen.

Dies öff­net wie­der­um an­ge­neh­me Aus­bli­cke nach al­len Sei­ten hin.

Aber von neu­em drängt mein Bo­ta­ni­ker sei­ne Per­sön­lich­keit da­zwi­schen. Sei­ne Ge­dan­ken sind eine an­de­re Stra­ße ge­wan­delt.

»Ich weiß«, sagt er, »sie wird hier glück­li­cher sein, und man wird sie bes­ser wür­di­gen als auf der Erde.«

Sei­ne Un­ter­bre­chung bringt mich wie­der zu­rück von der Be­trach­tung je­ner po­pu­lä­ren Göt­zen­bil­der, die von al­ten Zei­tun­gen und lee­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­