IMPRESSUM
informationen zur deutschdidaktik (ide)
Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Herausgeber_innen: Ursula Esterl und Nicola Mitterer (Arbeitsgemeinschaft für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt).
Redaktion: Ursula Esterl, Institut für GermanistikAECC, Universitätsstraße 65–67, A-9022 Klagenfurt, Tel. +43/(0)463/2700-2721, Fax: /2700-99-2721.
E-Mail: ursula.esterl@aau.at
Internet: http://www.aau.at/ide und http://www.aau.at/germanistik/fachdidaktik
Wissenschaftlicher Beirat: Monika Dannerer (Innsbruck), Wolfgang Hackl (Innsbruck), Stefan Krammer (Wien), Andrea Moser-Pacher (Graz), Lisa Pardy (Wien), Matthias Pauldrach (Salzburg), Markus Pissarek (Passau), Jutta Ransmayr (Wien), Claudia Rittmann-Pechtl (Baden), Elisabeth Schabus-Kant † (Wien), Stephan Schicker (Graz), Sonja Vucsina (Oppenberg), Christa Wernisch (Innsbruck), Elfriede Witschel (Klagenfurt), Sabine Zelger (Wien/Krems).
© 2021 by StudienVerlag
ISSN 0721-9954
ISBN 978-3-7065-6214-0
Layout und Satz: Marlies Ulbing.
Redaktion: Ursula Esterl.
Cover: Walter Oberhauser.
Grafik: © Tognon Y. Fred Cako (Benin): Beauté africaine.
Verlag: StudienVerlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck; Tel. 0512/395045.
Fax: 0512/395045-15, E-Mail: order@studienverlag.at, Internet: http://www.studienverlag.at
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Offenlegung laut Mediengesetz: Eigentümer der »informationen zur deutschdidaktik« ist zu 100 % die Arbeitsgemeinschaft für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Obfrau: Ursula Esterl; Stellvertreter: Jürgen Struger; Schriftführer: Arno Rußegger; Kassierin: Katharina E. Perschak. Grundlegende Richtung: Die grundlegende Richtung der »informationen zur deutschdidaktik« ist die Berichterstattung über alle deutschdidaktisch, pädagogisch und kulturpolitisch relevanten Themen, die Verbreitung von wissenschaftlichen und schulpraktischen Informationen und Positionen.
Alle Beiträge werden von den Herausgeber_innen geprüft.
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Editorial
WERNER WINTERSTEINER, SABINE ZELGER:
Wege in der Chaos-Welt
Service
STEFANIE SCHWANDNER, WERNER WINTERSTEINER:
GCED und der Deutschunterricht. Bibliographische Notizen
Magazin
WERNER WINTERSTEINER:
Nachruf auf Elisabeth Schabus-Kant
Kommentar
MARTIN G. WEISS:
Das Unterrichtsfach Ethik
ide empfiehlt
HAJNALKA NAGY:
Magdalena Kißling (2020): Weiße Normalität
Neu im Regal
Konzeptuelles
WERNER WINTERSTEINER: Deutschunterricht als Global Citizenship Education. Ein Vorschlag zum Mit- und Weiterdenken.
Deutschdidaktischer Rahmen
HEIDI RÖSCH: Globales Lernen? Ein Kommentar zum Konzept des bundesdeutschen Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung | Deutsch und seiner Implementierung
HAJNALKA NAGY: Entfremdung des weißen Blicks. Globales Lernen und postkolonial orientierter Literaturunterricht.
CHRISTIAN FILKO: Mehrsprachigkeit im (Deutsch-)Unterricht: Realität, Herausforderung, Ziel(e)? Überlegungen aus einer Global Citizenship-Perspektive.
Orientierungen für die Praxis
SABINE ZELGER: Aus der imperialen Lebensweise hinausschreiben? Anregungen für den Deutschunterricht von der Primarstufe bis zur Matura und darüber hinaus
MICHAEL HOFMANN: Eine literarische Begegnung mit Abya Yala (›Lateinamerika‹). Beispiel einer Global Citizenship Education im Deutschunterricht
STEFANIE SCHWANDNER: GCED-inspirierte Leseförderung. Ein Vorschlag zur Beurteilung von Material und Auswahl von Texten
Unterrichtsvorschläge: Weltbilder
STEFAN PRÜNSTER: Seit wann ist die Erde rund? Transkulturelle Literaturdidaktik in der Volksschule.
CAROLINE KODYM: Neue Realitäten denken. Science Fiction, Spekulativer Realismus und Spekulative Fabulation
JOHANN ZEIRINGER: Literatur und World Citizenship. Erfahrungen von Fremdheit und Identität in exemplarischen transnationalen Erzählungen
Unterrichtsvorschläge: Weltgesellschaft
SIEGLIND GABRIEL: Von Ton-Bild-Scheren zu Wort-Bild-Reißverschlüssen. Einsatz multikodialer Kommunikate in GCED
PATRICIA K. SCHOBER: Reading and Imagining the Future. Sich lesend in die Zukunft denken – mit besonderem Fokus auf Klima und Umwelt
ELEONORE GSTREIN: Apu in der Migrationsgesellschaft. Medienbildung mit der migrantischen Figur Apu Nahasapeemapetilon aus den Simpsons
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»Global citizenship« und »kosmopolitische Zugänge« in anderen ide-Heften |
ide 1-2017 |
»Menschen gehen«. Flucht und Ankommen |
ide 4-2015 |
Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit |
ide 1-2010 |
Weltliteratur |
ide 1-2007 |
Mittelmeer |
ide 2-2005 |
Sprachbegegnungen |
ide 1-2004 |
Europa |
ide 1-2000 |
Schöpfungsmythen |
ide 1-1992 |
Lateinamerika |
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Das nächste ide-Heft |
ide 1-2022 |
Lesen: Wege zum Text |
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erscheint im März 2022 |
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Vorschau |
ide 2-2022 |
Neues aus Österreich |
ide 3-2022 |
Kurze Filme |
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https://ide.aau.at |
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Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen. |
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www.aau.at/germanistik/fachdidaktik |
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Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen. |
Dieses ide-Heft widmet sich dem Thema »Global Citizenship Education« (GCED) und setzt damit auch für den Deutschunterricht einen neuen Denkrahmen: Statt Literatur-, Sprach- und Medienvermittlung als nationalkulturelle Angelegenheiten zu sehen, wird kulturelle Bildung in einem kritischen transnationalen, globalen Paradigma verortet. Das ist ein neuer Ansatz, aber so ganz neu doch wieder nicht: Transkulturalität, Mehrsprachigkeit, Gesellschaftskritik waren auch bislang immer wieder Themen der ide. Was aber bedeutet diese Orientierung für die Planung des Deutschunterrichts, für die Auswahl von Materialien und Büchern, von Konzepten der Literaturund Sprachdidaktik, für unser methodisches Vorgehen? Diesen Fragen geht das Heft in theoretischer Diskussion und zahlreichen konkreten Vorschlägen für die Praxis nach.
Es diskutiert institutionelle Rahmenbedingungen und hinterfragt Zusammenhänge von Sprache und Macht sowie hegemoniale Lesarten und Weltbilder in Literatur, Filmen und Unterrichtsmaterialien. Außerdem stellt es vielfältige Möglichkeiten zur Vermittlung weltbürgerlicher Kompetenzen vor. Es zeigt, wie Geschichten mit multiperspektivischen Blicken rassismuskritische Lektüren oder die Integration von Weltliteratur für globale bzw. glokale Zusammenhänge sensibilisieren. Augenfällig wird, wie viel Deutschunterricht zum Ziel der GCED beitragen kann: nicht einfach nur die Welt besser zu verstehen, sondern globale Gerechtigkeit als Norm politischen Handelns zu etablieren. Und noch etwas: Hoffnung auf die Zukunft zu geben. So hat etwa der aus der Karibik stammende Dichter und Philosoph Édouard Glissant zeit seines Lebens betont, dass sich unter der Oberfläche der oft zerstörerischen Globalisierung eine viel tiefere unterirdische Globalität abspielt – das Abenteuer des kulturellen Vermischungs- und Transformationsprozesses in einer Chaos-Welt, die gerade dadurch Chancen auf Erneuerung bereithält.1
Das dem Heft zugrunde gelegte Verständnis des kontrovers verhandelten pädagogischen Vorhabens der GCED stellt Werner Wintersteiner in seinem konzeptuellen Einführungstext vor. Voraussetzung für eine Befähigung zu Weltbürger*innen ist die ganzheitliche Sicht auf Bildung, für die der Deutschunterricht prädestiniert ist, weil er praktische Fertigkeiten zur Teilhabe vermittelt und via Sprache und Literatur auch philosophisch, politisch und ästhetisch über die Welt nachsinnen lässt. Sie im Sinne globaler Gerechtigkeit zu denken und zu verändern, bedeutet Bildungstraditionen und den Deutschunterricht auf den Kopf zu stellen. Es bedarf eines glokalen Blickwinkels, also anderer Lesarten der Literatur, es braucht Stimmen des Globalen Südens, also andere Texte und Sprachen, und es muss die individuelle Perspektive zu einer (welt-)politischen ausgeweitet werden.
Globale Probleme, die Sorge um existenzgefährdete, vom guten Leben ausgeschlossene Menschen ebenso wie die massive Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen erlauben keinen Aufschub. So wollen auch die von der UNO ratifizierten 17 Sustainable Development Goals (SDGs), in denen GCED in einem Unterpunkt des Bildungsziels ausgewiesen ist, bis 2030 erreicht sein. Aber geht das überhaupt? An vielen Ecken wird daran laboriert, auch im Feld der Deutschdidaktik und des Deutschunterrichts wurden Ansätze entwickelt und engagierte Projekte umgesetzt. Sie zusammenzuführen, weiterzudenken und für die Praxis zugänglich zu machen, ist ein wichtiges Ziel dieses Themenheftes.
Den Aufschlag machen konzeptionelle und theoretische Ansätze, die bisherige Aufteilungen in drei zentralen Feldern des Deutschunterrichts radikal verändert haben. Heidi Rösch stellt den Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung vor, der die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in der Institution Schule neu konzipiert. Der Beitrag beschreibt, welche neuen Ansätze im Bereich Sprache und Nachhaltigkeit grundgelegt wurden. Nachzulesen ist aber auch, dass es laut Autorin, die an diesem wichtigen Papier für das Fach Deutsch mitgearbeitet hat, gerade für eine kritische Ausrichtung der GCED der Integration der ästhetischen Dimension und postkolonialer sowie migrationsgesellschaftlicher Ergänzungen bedarf. Was literaturwissenschaftlich und literaturdidaktisch bereits an theoretischer Grundlegung erarbeitet wurde, legt Hajnalka Nagy in einer kurzen Einführung in Postcolonial- und Weißseins-Studien dar. Warum ausgerechnet ein Blick des Verlernens geschult und weshalb diese Verkehrung traditioneller Bildungsvorstellungen plausibel und notwendig ist, zeigt sie anhand eines praktischen Beispiels, des Jugendromans Der unvergessene Mantel von Frank Cottrell Boyce. Wider die westliche Überlegenheit mit all ihren problematischen Konsequenzen wird in der Didaktik auch im Bereich Sprache ein Paradigmenwechsel angeregt. Wie Christian Filko in seinem Beitrag argumentiert, müsste im Sinne der GCED die institutionelle und strukturelle Orientierung auf Deutsch zugunsten einer gesamtsprachlichen Bildung aufgehoben und Mehrsprachigkeit zur Norm werden.
Welche Fragen dieser Paradigmenwechsel für die praktische Arbeit im Schreib-, Literaturgeschichte- und Leseunterricht aufwirft und wie mit dem fundamentalen Wandel umgegangen werden kann, wird im zweiten Abschnitt erörtert. Wenn nicht Identitätspolitik, sondern die »imperiale Lebensweise« (Brand/Wissen 2017) Gegenstand der GCED ist, wird der Deutschunterricht vor große Herausforderungen gestellt, da die didaktische Reduktion entstellen und die Dramatik der globalen Ungleichheit lähmen und depressiv machen kann. Um eine »solidarische Lebensweise« (ebd.) denk- und nahbar zu machen, entwirft Sabine Zelger für den Dokumentarfilm Untitled und Geschichten aus dem Haus der Solidarität Wege im distanzierenden Modus des Schreibens, der globale (Film-)Erzählungen für Klein und Groß verzögert zugänglich und kollektiv erweiterbar macht. Veränderte Rahmen für den Literaturunterricht schafft auch Michael Hofmann in seinen verschiedenen literarischen Begegnungen mit Aba Yala, so der indigene Begriff für Lateinamerika. Dass im Literatur(geschichte)unterricht kanonische Texte aus dem deutschsprachigen Raum mit mehr oder weniger kolonialistischem Blick ebenso zum Einsatz kommen wie literarische »Gegendiskurse der Moderne«, zeigt, wie einschneidend Lektüren und Texte in einem GCED-orientierten Unterricht verändert werden. Auch der Leseunterricht wird sich grundlegenden Fragen stellen müssen, wenn er sich an kritischer GCED orientiert, wie Stefanie Schwandner in ihrer differenzierten Durchsicht gängiger Lesefördermaterialien vorführt. Der Beitrag schließt mit einem praktischen Fragenkatalog für Lehrpersonen, der die Auswahl an macht- und diskriminierungskritischen Werten orientiert.
Wie die veränderten Rahmen praktisch werden können, wird in den darauf folgenden Unterrichtsvorschlägen in vielfältiger Weise dargelegt. Im Abschnitt »Weltbilder« zeigt Stefan Prünster anhand des Bilderbuchs Seit wann ist die Erde rund? von Guillaume Duprat, das sich mit weltweiten Kosmologien und Vorstellungen von der Erde beschäftigt, wie auch schon in der Volksschule geforscht und philosophiert werden kann: Warum klammern wir so viele grundsätzliche Fragen über den Sinn des Lebens aus, die unseren Vorfahren und anderen Zivilisationen so wichtig waren? Caroline Kodym berichtet von einem Unterrichtsprojekt zu spekulativer Fabulation, einer Art wildes Erzählen, bei dem Tiere, Kinder und auch neuartige Kreaturen vorkommen können. Wenn nichtmenschliche Wesen gleichermaßen Akteur*innen werden, kann eine neue Sicht auf die Welt generiert werden. Johann Zeiringer analysiert die Thematik von Fremdheit und Identität anhand von drei Erzählungen. Er zeigt, welchen Beitrag literarische Texte zum Verständnis transnationaler Lebensweisen und Kulturen leisten können.
Der letzte Abschnitt mit dem Titel »Weltgesellschaft« enthält ebenfalls Beiträge, die direkt aus der Praxis kommen. Anhand des Films Emergency Turned Upside-Down des Künstlers Oliver Ressler zeigt Sieglind Gabriel, wie man mit produktiver Überforderung, analytischen und kreativen Methoden Schüler*innen helfen kann, den komplexen Film als »sinnliche Orientierungshilfe« in einer komplexen Welt zu erleben und zu nutzen. Patricia K. Schober wiederum hat ihre Schüler*innen veranlasst, sich lesend in die Zukunft zu denken – mit besonderem Fokus auf Klima und Umwelt. Impulse dafür boten Sachtexte und Literatur aus dem Genre der Climate Fiction, entstanden sind viele Einsichten, Ideen und – »Dialoge mit der Zukunft«. Bei Eleonore Gstrein steht die migrantische Figur des Apu Nahasapeemapetilon aus den Simpsons im Mittelpunkt, anhand der sie Themen wie die Unterscheidung zwischen »zugehörig« und »nicht-zugehörig«, das Othering, Rassismus und Vorurteile für einen medienreflexiven Deutschunterricht aufbereitet. Anschaulich wird, wie GCED die Fachgrenzen überschreitet und historische, ökonomische und politische Bildung integrieren kann.
Unser Cover
Die Vorlage für das Cover dieses ide-Heftes ist das Bild beauté africaine (»Afrikanische Schönheit«) des Malers und Illustrators Tognon Y. Fred Cakpo aus Benin. Er hat bereits an einigen internationalen Illustrations- Projekten vor allem für Bildungsmaterialien mitgewirkt. Den Kontakt zu ihm verdanken wir Jacob Léandre Sovoessi, einem Bildungsexperten und Bildungsmanager, ebenfalls aus Benin. Er ist als Konsulent tätig, hat immer wieder universitäre Lehraufträge und leitet die NGO Nego-Com (NEGOcions les bases du développement holistique durable et COM-muniquons-les aux générations actuelles et celles à venir). Er arbeitet seit Jahrzehnten mit Organisationen und Institutionen in Europa zusammen. In Österreich sind das vor allem Südwind und SASIA (Support A School in Africa). Jacob L. Sovoessi ist unseren Leser*innen bereits durch seinen Beitrag im ide-Heft 1/2000 (»Schöpfungs mythen«) bekannt.
In den Bibliographischen Notizen zu diesem Heft präsentieren Stefanie Schwandner und Werner Wintersteiner einführende und vertiefende Texte zur GCED (im Deutschunterricht) und ihren vielfältigen Anwendungsbereichen. Die Einführung des neuen Unterrichtsfaches Ethik steht im Zentrum des Kommentars von Martin G. Weiß. In der Rubrik »ide-empfiehlt« stellt Hajnalka Nagy den Band Weiße Normalität von Magdalena Kißling vor.
Wenn der Deutschunterricht nicht konzeptuell und praktisch verändert wird, trägt er zur Perpetuierung einer Bildung bei, die Ungerechtigkeiten nicht abbaut, sondern noch verstärkt. Der Verantwortung werden wir Akteur*in nen auf schulischer und hochschulischer Ebene uns nicht entziehen können. Weltbürger*innenschaft ist schließlich nicht als optionale Erweiterung nationaler citizenship zu sehen, sondern als Aufgabe in einer globalen Welt, sie ist keine Wahlmöglichkeit, sondern eine Zuständigkeit, die auch dann besteht und wirkt, wenn sie nicht wahrgenommen wird. Wie sie im Deutschunterricht ausgefüllt werden könnte, wird hier zur Diskussion gestellt.
Das Potential der Kultur, die Welt anders zu sehen und sie in Richtung einer positiven Globalität (im Sinne Glissants) zu gestalten, dieses große Abenteuer der Gegenwart, kann gerade im Deutschunterricht gut erschlossen werden. Mit den vorgeschlagenen Transformationen kann Zurichtungen entgegengewirkt, Routine entstaubt und oft auch sinnliches Vergnügen bereitet werden. Erste Wege wurden ausgelegt, mögen sie von vielen unserer Leser*innen begangen werden.
BRAND, ULRICH; WISSEN, MARKUS (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom.
GLISSANT, ÉDOUARD (2005): Kultur und Identität: Ansätze zu einer Poetik der Vielfalt. Heidelberg: Wunderhorn.
Ein Zeichen westlicher Arroganz
Unter dem Titel »Literaturnobelpreis: Die krachende Verabschiedung in die Bedeutungslosigkeit« hat Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung noch am Tag der Bekanntgabe des Preisträgers die Entscheidung kritisiert. Die Zuerkennung des Preises an den in Sansibar geborenen und in England lebenden Autor Abdulrazak Gurnah diskreditiere die Schwedische Akademie. Es zahlt sich aus, die Begründung für diese Einschätzung im Wortlaut zu lesen:
Mit ihren [sic] angestrengt unkonventionellen Entscheidungen beweist das Nobelkomitee die eigene Provinzialität. Abdulrazak Gurnah hat zum grösseren Teil in seinem Werk Fragen von Migration und prekärer Identität thematisiert. Das macht ihn in Zeiten grosser Flüchtlingsströme als Aushängeschild einer um Aufgeschlossenheit bemühten Akademie attraktiv. Indessen sind weltbewegende Themen noch keine Garantie für eine weltbewegende Literatur.
Zwei Bücher sind von Abdulrazak Gurnah ins Schwedische übersetzt worden; fünf seiner zehn Romane sind auf Deutsch erschienen, der letzte 2006, und keiner ist lieferbar. Ebenso düster sieht es mit Übersetzungen ins Französische oder Italienische aus. Das besagt nicht viel und doch einiges. Die Schweden aber haben es zum zweiten Mal in Folge geschafft, einen Preisträger zu küren, dem hauptsächlich eines fehlt: Leserinnen und Leser.1
Hier wird offensichtlich nicht die Qualität der Literatur als Maßstab für die Preiswürdigkeit herangezogen, sondern Marktinteressen und die Aufgeschlossenheit des europäischen Publikums. Bizarre Schlussfolgerung: Da diese nicht ausreichend gegeben sei, sei die Preisverleihung ein Fehler. Die Provinzialität des eigenen Publikums als Argument gegen die Literatur ist aber selbst ein sehr provinzielles Argument. Von der Tatsache ganz zu schweigen, dass der Literaturmarkt in der Originalsprache Englisch ja doch etwas größer ist als der deutsche oder schwedische – von wegen keine Leserinnen und Leser …
Das ist leider nicht das einzige Beispiel westlicher Arroganz, mit der mitunter auf die Preisverleihung an den erst zweiten schwarzen Autor aus Afrika seit 1986 reagiert wird. So findet sich bei den Kommentaren unter dem übrigens sehr informativen Artikel in der ZEIT gleich als Erstes folgender Eintrag: »Entfernt. Bitte formulieren Sie Kritik sachlich und differenziert. Danke, die Redaktion/mf.«2 Ist ein preisgekrönter Autor, wenn er aus Afrika stammt, tatsächlich für manche eine Provokation?
Die Literaturwissenschaftlerin Lizzy Attree meint hingegen, Gurnah verdiene den Preis gerade wegen der ästhetischen Qualität seiner Romane: »The power in Gurnah’s writing lies in this ability to complicate the Manichean divisions of enemies and friends, and excavate hidden histories, revealing the shifting nature of identity and experience.« Dass damit auch jener Teil des Literaturbetriebs wachgerüttelt wird, der das Werk bislang übersehen hat, ist dabei ein positiver Nebeneffekt: »Winning puts a global spotlight on a writer who has often not been given full recognition by other prizes, or whose work has been neglected in translation, thus breathing new life into works that many have not read before and deserve to be read more widely.«3
WERNER WINTERSTEINER
1 https://www.nzz.ch/feuilleton/literaturnobelpreis-fuer-abdulrazak-gurnah-autor-ohne-leser-ld.1649325?reduced=true [Zugriff: 19.10.2021].
2 https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-10/abdulrazak-gurnah-literatur-nobelpreis-kolonialismussansibar-tansania?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F [Zugriff: 19.10.2021].
3 https://www.pri.org/stories/2021-10-07/nobel-prize-winner-abdulrazak-gurnah-introduction-man-andhis-writing https://www.pri.org/stories/2021-10-07/nobel-prize-winner-abdulrazak-gurnah-introductionman-and-his-writing [Zugriff: 19.10.2021].
WERNER WINTERSTEINER ist Universitäts professor für Deutschdidaktik i. R. und Friedenspädagoge sowie Gründer des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
E-Mail: werner.wintersteiner@aau.at
SABINE ZELGER ist Hochschulprofessorin für Deutschdidaktik an der KPH Wien/Krems. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist »Politik der Fiktionen«, die sie literaturwissenschaftlich und literaturdidaktisch in den Blick nimmt. E-Mail: sabine.zelger@univie.ac.at
1 https://www.rfpp.net/spip.php?article553 [Zugriff: 19.9.2021], vgl. auch Glissant 2005.
Anstatt den Kosmopolitismus in einer supranationalen Identität verkörpert zu sehen, ist es sinnvoller, ihn in reflexiveren Formen des Selbstverständnisses zu finden.
(Delanty 2006, S. 43)
Heute ist es die Rolle der Kultur, unseren Zeitgenossen die intellektuellen und moralischen Werkzeuge zu liefern, die ihnen das Überleben ermöglichen können – nichts weniger.
(Maalouf 2009, S. 203)
Global Citizenship Education (GCED) ist zunächst eine bestimmte Perspektive auf Bildung (global), verbunden mit einer bestimmten Werthaltung (globale Gerechtigkeit) und einem Bildungsziel (global citizens). Es ist der Vorschlag für ein Bildungs-Paradigma, wenn man GCED im weiten Sinn versteht, und zugleich ein konkreter Bildungsinhalt, was GCED im engeren Sinn betrifft. Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Deutschdidaktik und Deutschunterricht als eine Realisierung von GCED verstanden werden können.1
»Welchen Planeten werden wir unseren Kindern hinterlassen?« (Hans Jonas)
»Welchen Kindern werden wir unsere Welt hinterlassen?« (Jaime Semprun)2
Man kann die Herausforderungen der Gegenwart wohl am besten als die Spannung zwischen diesen beiden Fragen beschreiben: die Sorge um den Zustand des Planeten, der ökologisch und sozial aus dem Gleichgewicht geraten ist, einerseits, und andererseits die Sorge um die Menschen, die diese Herausforderung meistern müssen, formuliert als Sorge um den Zustand einer Bildung, die nicht adäquat auf die Bewältigung dieser Aufgaben vorbereitet.
Wie berechtigt die Sorge um den Planeten ist, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Dazu ist die öffentliche Debatte, die oft um den Begriff des Anthropozäns kreist, allzu präsent. Wie relevant hingegen die Sorge um die Qualität der Bildung ist, belegen die zahlreichen einschlägigen Publikationen. Etliche bemühen sich um den Nachweis, dass das Bildungssystem immer noch »bildungsferne« sowie migrantische Kinder benachteiligt und die Ökonomisierung der Bildung ihren Zielen schade (z. B. Bourdieu/Passeron 1964 und 1970; Gogolin 1994; Renner/Ribolits/Zuber 2004; Herzog-Punzenberger 2006; Münch 2009; El-Mafaalani 2020; Erkurt 2020). Andere wiederum zeigen grundsätzlich die Inadäquatheit der Bildungsinhalte und -methoden, gemessen an den Herausforderungen (z. B. Illich 1971; Liessmann 2008, 2016, 2017; Nida-Rümelin 2013). Einer der scharfsinnigsten Kritiker heutiger Bildung ist der französische Philosoph Edgar Morin. Er stellt, unter Berufung auf Jean-Jacques Rousseaus Émile, als hauptsächliche Aufgabe von Bildung, gerade auch schulischer Bildung, heraus »leben zu lernen«: »Leben ist ein Beruf, den ich ihn [den Zögling Emil, W. W.] lehren will.« (Rousseau 1998, S. 14) Morin erläutert:
Unsere Bildung lehrt uns nur sehr partiell und ungenügend zu leben, sie entfernt sich vom Leben, da sie die grundlegenden Probleme des Lebens ignoriert […] und die Wissensbereiche in getrennte Bestandteile zerschneidet. Der immer mächtigere und immer drückendere techno-ökonomische Trend tendiert dazu, die Bildung auf den Erwerb sozioprofessioneller Kompetenzen zu reduzieren, auf Kosten der existentiellen Kompetenzen, die eine Erneuerung der Kultur und Einführung von lebensnotwendigen Themen in die Bildung bieten können. (Morin 2014, S. 22)
Dem gegenüber plädiert Morin für eine ganzheitliche Bildung, die nicht nur Wissen bietet, sondern auch ein Wissen über das Wissen, die die Unsicherheiten und Risiken der Generierung von Kenntnissen und Wissen lehrt, die die Unsicherheit als menschliche Grundbedingung akzeptieren lehrt, und die vor allem lehrt, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Wissensbereichen und zwischen dem Wissen und der eigenen Persönlichkeit herzustellen. Dabei sieht Morin den Menschen nicht bloß als homo oeconomicus, der sich beruflich bilden soll, sondern auch als Individuum, das ein gelingendes Leben anstrebt, als verantwortungsbewusste Staatsbürger*in im Kontext der Weltgesellschaft wie auch als Erdenbürger*in in Verbundenheit mit allen Formen des Lebens (vgl. dazu Gutjahr/ Millonig/Wolf 2015). Nur mit dieser planetaren Perspektive, so Morin, kann ein Leben gelingen, das sich den genannten heutigen Herausforderungen stellt.
Der Deutschunterricht ist wohl das ganzheitliche Fach par excellence, in dem viele Anforderungen, die Morin an die Bildung stellt, in selbstverständlicher Weise miteinander verbunden werden können. »Leben lehren« war wohl schon seit jeher ein Ziel vieler Deutschlehrer*innen, wie immer sie auch diese Aufgabe verstanden haben mochten. Der Deutschunterricht ist eben sowohl ein »technisches« Fach, das praktische intellektuelle Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Sprechen, Analysieren, Beurteilen, Argumentieren und den Gebrauch audiovisueller »Texte« lehrt, wie auch ein künstlerisch-philosophisches Fach, das es erlaubt, über sich und die Welt nachzudenken, ein politisches Bewusstsein auszubilden, die ästhetische Dimension zu entdecken und mit Sprache und Bild Welt zu gestalten. All diese Aktivitäten und die Ausbildung all dieser Fähigkeiten – und das ist sicher eine Besonderheit des Deutschunterrichts – sind nicht voneinander isoliert, sondern fließen ineinander, können zwar analytisch getrennt betrachtet werden, sind jedoch im praktischen Vollzug eins.
Natürlich ist diese Beschreibung ein Idealbild des Deutschunterrichts, denn seine Vielfalt und Vielgestaltigkeit führt dazu, dass jede Generation und jede Richtung von Deutschdidaktiker*innen, sicher auch unter dem Einfluss gesellschaftlich vorherrschender Strömungen, diese Vielfalt ganz unterschiedlich akzentuieren. Ich behaupte aber, dass wir gerade heute diese ganzheitliche Sicht, die keinen Aspekt des Faches vernachlässigt, brauchen, um tatsächlich »leben zu lernen«, das heißt, die heute existentiellen Herausforderungen anzunehmen. Ein Kriterium ist dabei, ob Bildung uns auf einen nationalen Blickwinkel fixiert oder ob und wieweit Bildung uns eine globale und planetare Sichtweise vermittelt, also ein Verständnis von unseren wechselseitigen Abhängigkeiten im »Heimatland Erde« (Morin/Kern 1999) bzw. von allem Leben in der Biosphäre fördert. Auch diesbezüglich ist der Deutschunterricht ein Kernfach des schulischen Kanons.
Ein weiteres Charakteristikum des Deutschunterrichts ist, dass er, ähnlich wie der Geschichtsunterricht, vermitteln kann, wie die Gesellschaft sich selbst und die Welt sieht und wie sie möchte, dass die Jugend die Welt sieht. Das geht natürlich nicht ohne Verzerrungen und Idealisierungen ab. Lange Zeit standen dabei, zumindest in den Gymnasien, die Werke (vornehmlich) der deutschen Literatur im Mittelpunkt – Maßstab des Guten, Wahren und Schönen wie auch Leitbilder des nationalen Stolzes. Nationale Bildung durch nationalliterarische Bildung hieß die Formel. »Nichts hat die Entwicklung des Deutschunterrichts vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus stärker bestimmt als die Überzeugung, daß es seine höchste Aufgabe sei, alle Schüler zu einem bewußten Deutschtum zu erziehen.« (Frank 1973, S. 375) Nach 1945 sollte eine literarische Rezeption, die den gesellschaftlichen Kontext bewusst ausblendet, jedem nationalistischen Sündenfall vorbeugen. Damit wurde aber erst recht ein Weltbild propagiert, in dem Literatur nun wie ein Religionsersatz für restaurative Werte und eine abstrakte Moral stand. »Was bleibet aber, stiften die Dichter« – dieses einseitig verstandene Hölderlin-Wort diente noch in den 1970er Jahren als Titel eines Deutschlehrbuches (Rauch/Reichel 1970).
Bald danach kam die Zeit, in der nicht mehr die Dichtkunst das Maß aller Dinge war (und damit eine unkritische Orientierung an idealisierten Vorbildern förderte), sondern wo die Literatur zur Zeugin kritikwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse aufgerufen wurde (und damit auch kritisches Denken lehren sollte). Zugleich kam es zu einer Verschiebung der Gewichte: Sprachunterricht wurde gegenüber dem Literaturunterricht aufgewertet und ist schließlich de facto zum Hauptinhalt des Deutschunterrichts geworden (unabhängig davon, wie die einzelnen Lehrpläne das beschreiben). Diese Orientierung hat sich spätestens mit der alles umfassenden so genannten Kompetenzorientierung und der mit ihr korrespondierenden Ausarbeitung von Standards nochmals gewandelt. Das Schwergewicht auf dem Sprachunterricht ist geblieben, aber der Deutschunterricht wurde nun ziemlich eindeutig zu einem »technischen« Fach, das die Fertigkeiten in den Mittelpunkt stellt, die für die Schule selbst, für jedes Studium wie auch für die meisten Berufe von grundlegender Bedeutung sind. Vielleicht hat sich damit auch die Art verändert, wie die Ausbildung von Weltbildern der Lernenden gefördert wird. Dies geschieht nun wohl weniger direkt, vor allem im Literatur- oder im Schreibunterricht, aber dafür subkutan sehr intensiv. Ist doch die Fixierung auf Standards und Kompetenzen selbst eine nachdrückliche, wenn auch indirekte Wertevermittlung. Zugleich ist die Frage, ob die Zurückdrängung der Literatur zugunsten pragmatischer Texte nicht auch mit einer Ersetzung komplexerer und vielschichtigerer Weltbilder durch plattere Modelle einhergeht.
Niemals aber ist die »humanistische« bzw. »humanistisch-politische« Orientierung des Deutschunterrichts verschwunden. Wenn sie auch heute, zumindest in der Deutschdidaktik, nicht mehr Mainstream zu sein scheint, finden sich doch im praktischen Schulunterricht zahllose Lehrkräfte, die es als ihre Mission ansehen, die Kompetenzen, die der Deutschunterricht fördern und entwickeln kann, gerade im Sinne des »Lernens zu leben«, einzusetzen. Damit ist auch eine große Aufnahmebereitschaft für die Anliegen von Global Citizenship Education (GCED) gegeben. Es wird sich allerdings zeigen, dass das »humanistische Anliegen« mitunter nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems ist.
GCED, ein Begriff, der immer stärker den früher gebräuchlichen Term Globales Lernen ablöst bzw. mit ihm verschmilzt, betont die politische Dimension der Bildung. Dafür steht der Ausdruck citizenship, der im Deutschen nicht so gebräuchlich und auch nicht so leicht ohne Verlust an Konnotationen übersetzbar ist. Daher hat sich auch bei uns der englische Begriff eingebürgert.3 GCED sieht sich dabei einem weiten Begriff politischer Bildung verpflichtet, wie ihn die amerikanische Philosophin Amy Gutmann vertritt: »[…] ›political education‹ – the cultivation of the virtues, knowledge, and skills necessary for political participation – has moral primacy over other purposes of public education […]« (Gutmann 1999, S. 287).
GCED ist nicht nur ein spezifisches Bildungsprogramm, sondern zunächst eine Grundorientierung von Bildung, die auf die eingangs skizzierte planetare Heraus-forderung eingeht, soweit dies ins Feld der Erziehung und Bildung fällt. In einer schwachen Lesart ist GCED einfach ein moralischer Anspruch an das Individuum, sich nicht nur als Bürger*in eines bestimmten Landes zu verstehen, sondern auch die Folgen nationalpolitischen Handelns bzw. des eigenen Verhaltens als Individuum im weltweiten Maßstab mit zu berücksichtigen. Dabei werden meist die großen globalen Fragen wie Armut und Hunger, Rüstung und Krieg, Klimawandel und Artensterben genannt. Die Werthaltung, die damit propagiert wird, bzw. das Handlungsfeld, auf das die Lernenden dabei verwiesen werden, ist im Allgemeinen das des kritischen Konsumenten, der kritischen Konsumentin. Das kommt, wenn dies als die einzige Option hingestellt wird, allerdings einer Entpolitisierung gleich.
In einer starken oder »kritischen« (Andreotti 2006) Lesart, die hier vertreten wird, steht GCED aber für viel mehr: Sie ist ein neues Paradigma von politischer Bildung bzw. von Bildung überhaupt.4 Ihre normative Orientierung ist die Befähigung der Lernenden, als Weltbürger*innen mit lokaler Verortung anstehende Herausforderungen verantwortungsvoll und mit weltbürgerlicher Perspektive anzugehen, präziser gesprochen: einen glokalen Blickwinkel einzunehmen. Das bedeutet auch die Überwindung dessen, was Ulrich Beck »methodologischen Nationalismus« (Beck 1997, S. 115) genannt hat – die systematische Betrachtung aller Phänomene von einem nationalen Standpunkt aus. Dies bezieht sich nicht nur auf die nationale Sichtweise einzelner Staaten, sondern ist auch eine Kritik am Eurozentrismus und fordert ein Einbeziehen von Stimmen aus dem Globalen Süden, die ein völlig anderes Weltbild vertreten (z. B. Quijano 2000; Mignolo 2011). Statt ausschließlich an eine individuelle Moral zu appellieren, weist kritische GCED auf den Widerspruch zwischen den kodifizierten Menschenrechten und der Realität hin. Daraus wird ein Rechtsanspruch abgeleitet, eine ungerechte Weltordnung zu transformieren. Und diese Transformation oder Metamorphose (vgl. Morin 2014, S. 122) bedarf eben zunächst eines sehr elementaren und vielgestaltigen Perspektivenwechsels – eine ureigene Aufgabe von Erziehung und Bildung (vgl. dazu Benner 2020, v. a. Kapitel 1). GCED versteht sich so gesehen nicht so sehr als ein Themenbereich von Bildung, sondern als eine Art Meta-Konzept, das viele bislang selbstverständliche Grundannahmen unseres Bildungskanons infrage stellt. Was das konkret meint, wird in den weiteren Beiträgen dieses Themenhefts entfaltet.
GCED kann als Unterrichtsprinzip verstanden werden, das in allen Fächern handlungsleitend sein sollte. Damit kann GCED auch als pädagogisch-didaktische Umsetzung einer Entwicklung verstanden werden, die in den Sozialwissenschaften und der allgemeinen Pädagogik längst eingesetzt hat: ein langer und langsamer Prozess der »Dekolonialisierung« des Wissens und der Grundlagen des Wissens und damit von Bildung mit dem Ziel einer »dialogischen Verständigung« zwischen Nord und Süd, um die großen Menschheitsfragen gemeinsam lösbar zu machen. Ein gemeinsames Lernen also – eben das, was »leben lernen« heute bedeutet.
Das sind große Worte, zweifellos ungewohnt, aber wohl nicht unpassend in einer Zeit, in der kaum mehr über Ziele von Bildung diskutiert wird, sondern nur mehr über Methoden zum »Kompetenzerwerb« und zur optimalen »Evaluierung«.
Gerade weil der Deutschunterricht eine so wichtige Rolle bei der Entwicklung des Selbst- und Weltbilds der Lernenden hat, ist eine kosmopolitisch-kritische (Neu-) Ausrichtung des Faches auch elementar für die individuellen Bildungsprozesse ebenso wie für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft insgesamt. Es ist eben nicht gleichgültig, mit welchem Selbstverständnis, welchem geistigen Horizont und welcher Werthaltung junge Menschen an die Bewältigung der Aufgaben der Gegenwart und Zukunft herangehen. GCED, so die These, ist ein unabdingbarer »Bildungsstandard«, um das Wort einmal in einem anderen Sinne zu gebrauchen, der in seinen Konsequenzen für den Deutschunterricht sorgfältig geprüft werden sollte.
GCED, Deutschdidaktik und die Erkenntnisse der postkolonialen Studien
Kritische Global Citizenship Education ist stark von den postkolonialen Studien seit den 1980er Jahren geprägt. Diese, oft als zweite Welle des Postkolonialismus5 bezeichnete Strömung (vgl. Go 2016) ist großteils von Literaturwissenschaftler*innen getragen. Somit besteht auch eine direkte Verbindung zu Germanistik und Deutschdidaktik, die bislang allerdings viel zu wenig fruchtbar gemacht wurde.
Die Grundintention postkolonialer literarischer Kritik ist es, die selbstverständliche Gültigkeit westlicher ästhetischer Kategorien und Werturteile sowie die Allgemeingültigkeit westlicher literarhistorischer Periodisierungen infrage zu stellen. Sie bemüht sich den Nachweis zu erbringen, dass sich gerade auch in der »schönen Literatur« ungleiche Machtverhältnisse, Kolonialismus und imperiale Unterdrückung manifestieren und oft gerechtfertigt werden. Ihr Horizont ist global, doch ihre Perspektive ist die der kolonisierten und dominierten Völker. Sie untersucht den historischen und aktuellen Zusammenhang von Kultur, Globalisierung und Macht (Said 1981; Jameson/Miyoshi 1998; García Canclini 2001), kritisiert Rassismus und Eurozentrismus im Kulturbetrieb wie in den einzelnen Werken, sie geht auf die Vermischung und Hybridisierungen ein, die dabei – allerdings bei ungleichen Machtverhältnissen – entstanden sind, und entwirft Utopien einer neuen, herrschaftsfreien ästhetischen Kommunikation (Bhabha 2000; Glissant 1990, 1996). Sie nimmt den alten Diskurs über Weltliteratur unter postkolonialen und herrschaftskritischen Vorzeichen wieder auf (Damrosch 2003; Ezli/Kimmich/ Werberger 2009; Goßens 2011; Cheah 2016). Die europäisch-außereuropäischen Literaturbeziehungen (Gutberlet/Helff 2011) werden neu interpretiert, der globale Kontext der deutschsprachigen Literatur wird ausgeleuchtet (Lützeler 1998, 2005, 2009). Auch die europäische Literatur, so die These, ist nur im weltliterarischen Kontext verständlich, und umso weniger ist eine rein nationalliterarisch ausgerichtete Forschung zielführend (Ette 2009).
Damit einher geht eine Neubewertung historischer Entwicklungen. Die Moderne wird nicht mehr als alleinige europäische Errungenschaft, sondern als Ko-Konstruktion mit den kulturellen Kapazitäten anderer Kontinente gesehen. Und heute sei Europa erst recht »nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt« (Mbembe 2014, S. 11). Mit Slogans wie »Europa provinzialisieren« (Chakrabarty 2010; Mbembe 2014) oder »die Moderne provinzialisieren« soll eine neue Deutung der (Kultur-) Geschichte vorgenommen werden.6 Das sind elementare Herausforderungen für das Selbstverständnis der europäischen Literatur(wissenschaft) und für die Germanistik im Besonderen. Allerdings stellten einige Beobachter*innen (Uerlings 2011; Febel 2012) noch vor wenigen Jahren fest, dass die deutschsprachige Germanistik im Vergleich zu den englischen und französischen Philologien einen gewaltigen Rückstand in Bezug auf die Rezeption postkolonialen Denkens habe.
In den letzten zehn Jahren ist allerdings ein deutlicher Aufholprozess zu bemerken. Diese Entwicklung kann hier nicht nachgezeichnet werden, erwähnt seien nur als einige Highlights die Publikation der einschlägigen Sektionen der Warschauer Tagung des Internationalen Germanistikverbands (Grucza u. a. 2012), die neue Buchreihe Postkoloniale Studien in der Germanistik im Aisthesis-Verlag (seit 2011) oder der Sammelband Postkoloniale Germanistik von Dürbeck und Dunker (2013). Für die Deutschdidaktik wohl am relevantesten ist, wieweit sich diese neue paradigmatische Orientierung in der Literaturgeschichtsschreibung bzw. der Neuinterpretation kanonischer Werke niederschlägt. Denn Literaturdidaktik und Literaturunterricht sind darauf angewiesen, dass die Germanistik gerade auch die kanonische deutschsprachige Literatur unter postkolonialer Perspektive neu aufarbeitet. Dazu Herbert Uerlings:
Die Aufnahme interkultureller und postkolonialer Perspektiven könnte sich hier in dreierlei Hinsicht niederschlagen: erstens in einer Erweiterung des Kanons der Autoren und Werke, ihrer Deutungen und des Literaturbegriffs, zweitens in einer Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Geschichte sowie, in Verbindung damit, einer Überprüfung der Prämissen, Ziele und Konzepte von Literaturgeschichtsschreibung und drittens in einer Reflexion des Verhältnisses unterschiedlicher Literaturen zueinander, namentlich der Entwicklung neuer Konzepte für die Berücksichtigung von Minderheitenliteraturen. (Uerlings 2011, S. 31)
In vielerlei Hinsicht hat dieser Prozess der Neuorientierung schon vor längerer Zeit begonnen. Die Anerkennung der Veränderung der Gesellschaften durch Migration und globalen Austausch war der entscheidende Schritt, der seit den späten 1980er Jahren zunächst Konzepte von Interkulturalität und Transkulturalität in der Germanistik (Interkulturelle Germanistik) wie auch in der Sprach- und Literaturdidaktik hervorbrachte, darunter etwa das Konzept des Fremdverstehens (vgl. Spinner 1989 bzw. Der Deutschunterricht 4/1989; Franz/Pointner 1994). Das war eine wichtige Öffnung über den Horizont des als homogen imaginierten Nationalstaats hinaus. Sie hat zu einer sich zunächst als »interkulturell« verstehenden Literatur- bzw. Deutschdidaktik geführt. Heidi Rösch hat meines Wissens dazu das erste systematische Konzept vorgelegt (Rösch 2000). Deutsch als Zweitsprache konnte sich als Fachdisziplin etablieren. Mehrsprachigkeit wurde als Hintergrund, Horizont und Thema des Deutschunterrichts erschlossen und ist inzwischen – auf akademischer, nicht auf schulpraktischer Ebene – ein Standard geworden. Dass es hier aber auch durchaus große Differenzen im Verständnis der neuen Situation bzw. neuer Zielbestimmungen gab (und gibt), zeigt wohl ein Blick auf das Streitgespräch zwischen der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin, die den einsprachigen Habitus der Schule kritisierte, und dem damaligen Doyen der Deutschdidaktik, Hubert Ivo (vgl. Griesmayer/Wintersteiner 2000). Langsam etablierte sich jedoch ein Diskurs über Transnationalität und Transkulturalität in der Literatur wie auch über eine Kanonöffnung in Richtung Weltliteratur (Honnef-Becker 2006; Wintersteiner 2006a und 2006b; Uerlings 2012; Rösch 2017). Themen wie Rassismus, Kolonialismus, aber auch Globalisierung in der Literatur wurden zuerst und am umfassendsten in der KJL-Forschung und -Didaktik aufgegriffen (von Renschler 1981 bis zu Beiträge Jugendliteratur und Medien 2005 oder Knobloch 2011), schließlich aber auch in Germanistik und Deutschdidaktik generell (Dunker 2008; Kißling 2020). In den letzten zehn Jahren hat sich diese Entwicklung verstärkt fortgesetzt, wobei vor allem der bundesdeutsche Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung (Appelt/Siege 2007 bzw. Schreiber/Siege 2016) zumindest beginnt, einen wichtigen Einfluss auf den praktischen Deutschunterricht zu entfalten (vgl. den Beitrag von Heidi Rösch in diesem Heft). Insgesamt fällt aber auf, dass es zwar eine wachsende Anzahl an praktisch-didaktischen Publikationen bezüglich einer kritischen, global orientierten Deutschdidaktik gibt, dass aber innerhalb der Zunft kaum Grundsatzdebatten zu dieser Thematik stattfinden. Ein Blick in die Zeitschrift Didaktik Deutsch zeigt, dass es hier zumindest in den letzten sieben, acht Jahren keinen einzigen diesbezüglichen Forschungsbericht oder Diskussionsbeitrag gab. Umso glücklicher kann man sein, dass es inzwischen einschlägige Tagungen speziell zur Deutschdidaktik gibt.7
Zusammengefasst: Deutschdidaktik und Deutschunterricht haben in vielerlei Beziehung auf die Globalisierung und Migration reagiert und sie haben dabei teilweise auch die ethnischen und sprachlichen Minderheiten im eigenen Land und in Grenzgebieten stärker einbezogen. So manche Didaktiker*innen haben sich neue Aufgaben gestellt, Umgang mit Mehrsprachigkeit zu einem anerkannten Prinzip gemacht und auch den literarischen Horizont erweitert. Doch die epistemische Basis des Denkens in Kategorien von Nationalliteratur und der einen und einzigen Staatssprache wurde und wird nur selten grundsätzlich hinterfragt. Die politische Dimension all dieser Fragen wird noch seltener thematisiert. Sollte die Ausrichtung nicht vielmehr ›globale Bildung‹ sein, die den Respekt vor der Verschiedenheit, das heißt vor der ›Andersheit‹ des/der Anderen, zum zentralen Programm macht?
Bis zu einer Global Citizenship-Orientierung ist also noch ein Stück Weges zurückzulegen. Es ist nun wohl Zeit, einen weiteren, größeren Schritt in diese Richtung zu setzen.
Critical Whiteness sieht anders aus.