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Varda Hasselmann: Die Seele der Papaya
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Originalausgabe Januar 1999
© 1999 Wilhelm Goldmann Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagmotiv: AKG photo, Carl Bertuch
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Redaktion: Christine Stecher
WL · Herstellung: Stefan Hansen
ISBN 978-3-641-12214-0
V002
www.arkana-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
Danksagung
Copyright

Zum Dank

 

Es ist selten, daß jemand ein umfangreiches Buchmanuskript in die Hand gedrückt bekommt und anschließend den Mut aufbringt, der befreundeten Verfasserin seine aufrichtige Meinung dazu mitzuteilen. Ich habe solche Freunde.

Mein herzlicher Dank gilt Monika, die mich zur Vertiefung der Thematik ermunterte, und Kurt, der mir wertvolle Anregungen schenkte. Die anteilnehmende Begeisterung von Hans und Roswitha, die per Fax und Telefon ihre hilfreichen Kommentare übermittelten, war mir eine große Stütze. Luise entdeckte so manche Ähnlichkeit zwischen der Hauptfigur Doris und sich selbst. Sie überprüfte auch die psychotherapeutische Stimmigkeit von Handlung und Gefühlen. Trude hat mit unermüdlicher Akribie dafür gesorgt, daß ich sachliche Widersprüche ausmerzen und meinen Stil von einigen weniger schönen Blüten befreien konnte. Außerdem haben wir im Winter 1997/98 jene beglückende Indienreise zusammen gemacht, die dem Buch den letzten Schliff gegeben hat. Sie kennt fast alle Schauplätze. Olivia danke ich dafür, daß sie an Varda Hasselmann als Romanautorin glaubte, obgleich das eingereichte Manuskript erst hundert Seiten umfaßte. Wolfgang hat trotz ständiger Arbeitsüberlastung noch Zeit zum Lesen gefunden und mir guten Rat erteilt. Christine mit ihrer großen Erfahrung hat mich auf liebevolle Weise ermuntert und korrigiert. Dem Goldmann Verlag gebührt Dank für die langjährige Unterstützung und Gerhard Riemann, meinem Lektor, sowie Herrn Lord für die persönliche Betreuung.

Frank bin ich ganz besondes dankbar. Nur durch das jahrzehntelange glückliche Zusammenwirken mit ihm und der »Quelle« konnten die in den Roman eingeflossenen spirituellen Konzepte von Seelenfamilie, Entfaltungsaufgabe und Dualseele entwickelt werden. Er freut sich mit mir, daß mit diesem Buch für mich ein alter Lebenstraum Wirklichkeit wird. Denn nach einer Reihe von Sach- und Fachbüchern enthält es meinen ersten erzählenden Text.

Ein indischer Koch mit königlicher Ausstrahlung und eine zierliche dunkle Frau mit Namen Shobha, die diesen Roman leider niemals lesen werden, haben seit vielen Jahren einen Platz in meinem Herzen. Ohne die Begegnung mit ihnen wäre die Geschichte nicht zum Leben erweckt worden.

Nicht zuletzt denke ich mit Liebe und Wehmut an meine Mutter, die das fast abgeschlossene Manuskript trotz ihrer müder Augen noch gelesen hat und sich bis zu ihrem letzten Lebenstag täglich am Telefon erkundigte: »Und wie geht’s der Doris?«

Für die zahlreichen Leser unserer anderen Seelenbücher und besonders von Archetypen der Seele zum Schluß noch ein »geheimnisvoller« Hinweis: Die Matrixchiffre der Hauptfigur ist 14/33411/25/5 Weg 7.

 

München, im Juli 1998

Varda Hasselmann

Autorin

 

Dr. Varda Hasselmann entschied sich gegen eine Universitätskarriere als Mediävistin und für den Ausdruck ihrer außerordentlichen medialen Begabung. Seit 1983 arbeitet sie als Trancemedium und hat sich durch ihre zusammen mit Frank Schmolke veröffentlichten Sachbücher, Seminare und Vorträge einen Namen gemacht. »Die Seele der Papaya« ist ihr erster Roman.

Rührmichnichtan

S eit vielen Stunden starre ich durch das kleine Fenster ins Dunkel. Ich kann nicht schlafen. Meine Mitreisenden dösen unruhig in ihren unbequemen Sitzen. Indien, das Land der wundersamen Begebenheiten, liegt schon sehr weit hinter uns.

Bald werden wir in München sein. Dann nimmt alles wieder seinen gewohnten Gang. Einkaufen, heizen, Rechnungen bezahlen, Bekannte anrufen, mich zurückmelden. Fragen beantworten. Ich werde mich zusammenreißen. So tun, als ob. Das habe ich schließlich früher gut gekonnt. Trotzdem überkommt mich Verzweiflung, wenn ich daran denke.

Was soll ich bloß antworten, wenn Freunde und Nachbarn mich fragen, was ich auf meiner langen Reise erlebt habe? Soll ich sagen, daß ich monatelang verschollen war – gefangen, vergiftet und krank, gemartert von einem Stamm wilder Ureinwohner? Alles nicht falsch, gewiß, und trotzdem nicht die Wahrheit. Ich kann mir vorstellen, wie die Boulevardzeitungen es gern für eine saftige Schlagzeile hätten: »Münchnerin überlebt grausamen Blutkult in Indien«, zum Beispiel. Stimmt, stimmt genau. Aber mit dem, was wirklich geschehen ist, hat das nur indirekt zu tun.

Mir war beschieden, etwas Großes zu erleben – erschrekkend, schwer verständlich und beglückend. An mir, einer ganz gewöhnlichen, nicht besonders vergeistigten Psychoanalytikerin, ist die Prophezeiung eines indischen Wandermönchs in Erfüllung gegangen.

Die Maschinen des großen Flugzeugs dröhnen unerträglich laut. Beunruhigt stelle ich fest, daß ich während der neun Monate meiner Abwesenheit niemals so empfindlich und heillos durcheinander war wie gerade jetzt. Wie bin ich überhaupt in dieses wirre Abenteuer hineingeraten? Die bunten Splitter und glitzernden Spiegelscherben im Kaleidoskop meiner Erinnerung bilden ständig neue Bilder, wenn der Wille, sie zu ordnen, an ihnen rüttelt. Wann kam das erste Steinchen ins Rollen? Welche meiner Entscheidungen hat es gelöst?

Sinn und Zweck kann ich in dem Wirrwarr nicht ausmachen. Ich habe ja noch nicht einmal begriffen, was mit mir geschehen ist, weiß nur, daß ich mich nicht mehr kenne. Mein analytischer Verstand wird in den nächsten Tagen seine Pflicht tun müssen. Ich möchte verstehen. Endlich verstehen.

Wie ich das Ereignis, das mich so verändert hat, bezeichnen soll, weiß ich nicht. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht etwas mit Erleuchtung zu tun hat. Aber darunter habe ich mir etwas völlig anderes vorgestellt – vollkommene Bewußtheit zum Beispiel, unablässige Liebe, Bedingungslosigkeit, Bedürfnislosigkeit, leuchtende Weisheit. Mit solchen Eigenschaften kann ich gewiß nicht aufwarten. Totale Souveränität? Mitnichten. Eher Humanität, im tiefsten Wortsinn. Ja, das ist es wohl. Mutter India hat mich zum Menschen gemacht.

Grelle Angst, dumpfes Entsetzen und auch die vielen körperlichen Schmerzen, die ich erlitten habe, lauern wie hungrige Raubtiere hinter dem dünnen Gitter der verstreichenden Zeit, die – so sagt man – alle Wunden heilt. Im Grunde muß ich mich als schwer traumatisiert betrachten. Und trotzdem fühle ich mich unbeschreiblich glücklich! Merkwürdiges Krankheitsbild.

Bin ich denn froh, daß alles vorbei ist? Nein, das wäre nur die halbe Wahrheit. Mit jeder Faser meines Leibes sehne ich mich in das palmengesäumte Dorf zurück, aus dem ich erst vor zwei Wochen unter Lebensgefahr entkommen bin. Bei der Heimkehr nach München, mit dem Eintauchen in das einst Gewohnte, beginnt die Feuerprobe. Jetzt erst wird sich erweisen, was die Veränderungen, die ich in der Tiefe meines Wesens wahrnehme, wirklich bedeuten.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft klafft der Abgrund meiner noch unverarbeiteten Erlebnisse. Mache ich mir Illusionen über meine Wandlung? Niemand kehrt völlig unverändert von einer so langen Reise zurück. Man möchte ja gern etwas ganz Besonderes sein, weil man seine eigene Bedeutungslosigkeit nur schwer ertragen kann. Bin ich auch so? Zum Teufel, wie soll ich das herausfinden?

Wieder schirme ich meine Augen gegen das Licht in der Kabine ab und blicke aus dem Fenster. Die Sterne verblassen. Durch eiskalte Luft fliegen wir über das menschenleere Arabien. Nichts als Sand und Steine. Hier kann ein Mensch erfahren, was Einsamkeit ist. Ich warte auf das Glutrot des Morgens. Dann blenden mich die ersten Sonnenstrahlen wie Blitze von kosmischer Gewalt, zu stark für meine müden Augen. Ich muß sie schließen.

Was soll ich nur tun? Der Schmerz hinter meiner Stirn wird schärfer. Krampfhaft überlege ich, was ich wirklich brauche, jetzt bei meiner Rückkehr. Es macht mir Mühe. Dann erhellt ein Blitz der Erkenntnis meine Gedanken. Natürlich, das ist es: Ich muß noch eine Weile allein sein!

Erleichterung läßt mich aufatmen. Zum Alleinsein brauche ich keine Wüste. Mein Zuhause soll meine Einsiedelei sein. Isolation von der Welt wird mir Klarheit schenken.

Rückkehr braucht Zeit. Niemand drängt mich, Gott sei Dank. Ich bin sehr empfindlich, fühle mich fast hautlos. Deshalb werde ich mich erst einmal verkriechen. Ich möchte nur für mich dasein. Daß ich zurück in Deutschland bin, geht schließlich keinen etwas an.

Der Kopfschmerz ist plötzlich verflogen. Man reicht mir ein heißes, feuchtes Tuch. Damit reibe ich die letzten Verspannungen von Stirn und Nacken. Ich fühle mich befreit von der quälenden Sorge; ich weiß jetzt, was der nächste Schritt sein wird.

Duft von Semmeln und frischem Filterkaffee zieht durch die Kabine, deutsches Frühstück, heimatlicher Gruß. Und während ich Erdbeerkonfitüre auf Vollkornbrot streiche, stelle ich mir die kommenden zehn, zwölf Tage und Nächte vor wie das Leben unter einer Inkubationshaube. Ja, ich brauche Schutz, einen Ort der Sammlung. Dort muß ich bleiben, bis ich weiß, wer ich bin.

In der Halle bedrängen mich nervöse Leute von allen Seiten. Ich rieche Ungewaschenes und Kölnisch Wasser, höre aufgekratztes Schnattern. Sie tauschen noch Adressen aus, trotz ihrer von Schlaflosigkeit kleinen Augen. Drogenhunde umkreisen uns. Kleinkinder quengeln. Die Reisenacht ist lang gewesen. Raucher zünden sich ihre Zigarette an, während wir vor der Paßkontrolle Schlange stehen.

Der Morgenhimmel, aus dem ich soeben herabgestiegen bin, wölbt sich in einem ungewohnt sanften, lichtzarten Oktoberblau über mir. Diese Herbstluft macht mich glücklich. Ich atme tief ein und rüste mich für den nächsten Schritt.

Es riecht feucht und erdig. Der Duft erinnert mich an frühmorgendliche Schulwege, an den ersten Tag nach den Herbstferien. Die deutsche Welt wirkt sauber gewaschen, ordentlich gekämmt, grau und angespannt. Das Taxi fährt mich nach Alt-Solln, vorbei am Einkaufszentrum mit Müller-Brot, Wurst vom Vinzenz Murr, Reinigung, Haltestelle und Apotheke. Die Gegend ist mir in allen Einzelheiten bekannt wie aus einem Déjà-vu. Hier ist mein Zuhause. Ich weiß es, aber es will mir nicht in den Kopf.

Beim Öffnen der Wagentür rutschen Paß und Flugschein von meinem Schoß. Wie ungeschickt! Erst das Geld geben, auf den Rest warten, und dann mußt du den Schlüssel aus der Tasche holen. Du weißt doch noch, wie das alles geht, stell dich nicht an, konzentriere dich. Sei nicht albern, Doris, schließlich warst du ja nicht zwanzig Jahre lang fort, sondern kaum zehn Monate. Oh, die alte vertraute Stimme, die immer so ungeduldig mit mir redet, da ist sie wieder!

Laß nur! kontert eine andere, die verständnisvoller klingt. So, wie du dich fühlst, kommst du von einem anderen Stern. Du hast dich nicht unter Kontrolle. Wozu auch? Du bist hilflos. Aber das macht nichts.

Die zweite Stimme ist neu und tröstet mich. Interessiert höre ich ihr zu. Ein halbes Jahrhundert lang bin ich effizient gewesen, hatte immer alles im Griff. Darauf war ich sehr stolz. Eine fähige Person. Nicht gerade ein Superweib, nein, keine perfekten Kinder, atemberaubenden Karrieresprünge und berauschenden Liebhaber. Auf meine bescheidene Art war ich funktionstüchtig und durchaus mit mir zufrieden. Die Traumfrau war ich nie. Aber in meinem Leben herrschten einst Ruhe und Ordnung.

Damit ist es wohl vorbei. Als mir das klar wird, mischt sich ein wenig Besorgnis in meine Zuversicht. Neugierig, ohne besondere Beteiligung, betrachte ich diese Gemütsbewegung, als sei sie eine Ameise, die über den Fußboden läuft. Das ist auch neu.

Umständlich sammle ich die Dokumente, mit denen ich nachweisen könnte, wer ich einmal war, wieder auf, wische den Paß an meinem Rock sauber. Dann packe ich entschlossen die Griffe meines Beutels und stehe vor dem niedrigen Gartentor, wie tausendmal zuvor.

 

 

H offentlich sieht mich keiner. Feuchte Blätter wehen mir entgegen, ein Windstoß unterstützt mich beim Niederdrücken der Klinke. Eingraviert in das ungeputzte Messingschild liest man die Aufschrift: Dr. med. D. Guthknecht, Psychotherapie, Psychoanalyse, alle Kassen, Sprechstunde nur nach tel. Vereinbarung.

Nun ja, das bin ich. Das war ich.

Das Gartentor hängt ein wenig schief. Auf diesem morschen Holz habe ich als Kind gehangen, um zu schaukeln. Und ich höre Mutter zetern, was es kosten wird, die Pfosten zu erneuern, wenn ich die rostigen Türangeln endgültig aus ihrer Verankerung gerissen habe. Meine Füße frieren in den Sandalen, die nackten Zehen berühren das feuchtglänzende Weinlaub, das die ganze Hausfassade überwuchert und den Weg bedeckt mit seinem abgeworfenen bunten Schuppenkleid.

Das Häuschen wurde noch vor dem Krieg erbaut, bescheiden und schmalbrüstig. Inzwischen gilt die Gegend wegen der Villen und Gärten als nobel. »Da wohnt der Unhold!« sagten die Nachbarn und zeigten anklagend auf unsere Tür. Nach Vaters Tod, als Mutter und ich endlich allein, ohne den bedrohlichen Mann, im Haus lebten, haben wir eine Panzertür einsetzen lassen. So fühlten wir uns sicher. Nichts konnte hinausdringen. Niemand konnte hinein.

Meine brave Bürgerlichkeit, meine leicht spießige Fassade, die sich nicht nur an Haus, Kleidern, Schuhen und Brille zeigte, sondern im Laufe der Jahrzehnte wie ein Pilzmyzel mein innerstes Wesen zu befallen drohte, ist mir selbst manches Mal auf die Nerven gegangen. Aber das war nicht zu ändern, ich wollte es so. Die Leute sollten mich, die Tochter des Unholds, für hausbacken und rechtschaffen halten. Ich brauchte das dringend, nach allem, was ich in meiner unseligen Jungmädchenzeit durchgemacht hatte. Üble Nachrede, Getuschel und Gespött sollten bei Doris Guthknecht keinen, aber auch gar keinen Ansatzpunkt finden. Niemals! Lieber soweit als möglich unsichtbar bleiben, lieber bieder als kokett wirken.

Ich wollte wirtschaftlich unabhängig sein, selbstbestimmt leben, hatte meine Arbeit, meine Bücher, die Reisen. Anfangs gab es auch nette Freundinnen, doch unsere Lebensschicksale trennten uns. Die meisten Frauen in meinem Umfeld waren verheiratet oder hatten das, was man eine Beziehung nennt. Sie konnten nie begreifen, warum ich keinen Freund hatte. Ich mochte es ihnen nicht erklären, weil ich selbst keine überzeugende Antwort wußte. Sex mit Männern interessierte mich wenig, mit Frauen schon gar nicht. »Prüde ist sie eben, unsere Doris!« tuschelten sie. Nun ja. Nicht prinzipiell, nicht geistig. Nicht, wenn es die Patienten und ihre erotischen Geheimnisse betraf. Aber persönlich eben doch. Über eine altjüngferliche Verklemmtheit, ein bißchen ungewöhnlich angesichts der neunziger Jahre, konnte ich mich nicht hinwegtäuschen – Unsicherheit, Schamgefühle und altmodische Einstellungen. Ich bin eine anständige Frau, sagten Blick und Bluse. Und dabei war es dann auch meistens geblieben.

Bis zu dieser Indienreise. Meine Güte! Das Schicksal hielt für mich noch ungeahnte Abenteuer bereit. »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.« Das steht in den Wahlverwandtschaften, obgleich die Heldin niemals einen Fuß aus Deutschland hinausgesetzt hat. Ich hingegen habe es am eigenen Leib erlebt. Dabei wollte ich nur Urlaub machen. Ist das Los der Menschen nun vorbestimmt, oder nicht? Wer, zum Donnerwetter, befindet über mein Leben? Wer außer mir? Ich bin verwirrt.

Das Sicherheitsschloß dreimal rechtsherum und dann den Knauf etwas vorziehen. Es ist vielleicht das größte aller Wunder, daß ich diesen Schlüsselbund auf all meinen Irrwegen durch inneres und äußeres Niemandsland nicht verloren habe.

Verstört bin ich und dankbar zugleich, daß niemand mir freudestrahlend mit Schürze und Kuchenduft in den Haaren entgegenkommt. Da bist du ja, liebes Kind! Wie geht es dir? Wie war es denn, erzähl mal! Und warum hast du denn gar nicht mehr geschrieben? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Aber nun bist du ja heil wieder da, wo du hingehörst.

Dankbar für die Stille, aber auch enttäuscht von der Leere. Ich könnte jetzt unmöglich erzählen und erklären, vermisse trotzdem den mütterlichen Jubel, ihre Wiedersehensfreude und die besorgten Fragen, weil ich nie wieder ihre Stimme hören werde und heute, bei meiner Heimkehr, keinen zärtlichen Kuß auf meiner Wange spüre. Ihre Arme umfangen mich nicht. Das verschmitzte Lächeln der weit vorstehenden Zähne, der Geruch ihrer alten Haut – vorbei, für immer. Ihre Strickjacke hängt an der Garderobe, daneben der Hut, den sie zum Einkaufen aufsetzte. Meine Hände streicheln sehnsüchtig über weiche Mohairwolle. Ich habe ja selbst beschlossen, vorerst niemandem zu sagen, daß ich wieder da bin. Aber daß sie nicht da ist, daß mich kein Mensch empfängt, das schmerzt auch.

Alles ist genau wie immer, und alles ist ganz anders. Die Welt ist mir neu, als sei ich soeben geboren, ein Säugling mit alten Erinnerungen. Was ich hier sehe, rieche und höre ist wie das Echo einer vergangenen Existenz, deren Bilder mit visionärer Kraft in mein Bewußtsein von heute drängen.

Als sei ich zu Besuch, gehe ich zögernd durch das Haus. Dabei habe ich das seltsame Gefühl, ein sanft strahlender Leuchtkörper zu sein. Eine Wunderlampe.

Im Arbeitszimmer steht gut verschlossen der metallene Aktenschrank mit der Patientenkartei. Ringsumher Bücher, die mich geprägt haben. Der alte Ledersessel trägt den Abdruck meines Körpers. Wie viele Jahre habe ich hier gesessen! Meine Augen schauen sich um. Ich erinnere jeden einzelnen Gegenstand, aber es ist ein Wiedererkennen wie im Traum oder wie auf alten Fotografien. Diese unendlich vertrauten Dinge erzeugen ein Echo, das mein Herz berührt und wärmt. Und auch eine vollkommen gleichgültige Distanz. Mein Kopf fühlt sich an, als trüge ich ihn sorgfältig abgetrennt unter dem Arm.

Im Wohnzimmer knarzt an der altgewohnten Stelle der Holzfußboden. Mit kalten Füßen gehe ich durch die unbewohnten Räume, spüre die Grabesruhe dieses Hauses. Die Fenster sind ungeputzt, die Luft riecht abgestanden. Ich werde heizen müssen. Das wird keiner merken. Und die Lampen? Ihr Licht könnte mich verraten. Lieber im Dunkeln hocken. In Indien hatten wir nachts auch kein Licht.

Nein, ich will in den nächsten Tagen niemanden sehen, sprechen oder hören. Nichts erzählen müssen, bevor ich selbst verstanden habe, was mit mir geschehen ist.

Mein Mund ist trocken, der Speichel schmeckt zäh und salzig. Ich drehe den Hahn im Badezimmer auf. Wasser spritzt leicht bräunlich in das Becken, und in dem Rohr hinter den Fliesen ächzt es, daß ich zusammenfahre. Gesicht und Hände werden gewaschen. Ich trinke lange. Ein Handtuch ist nicht da; es muß erst aus dem Wäscheschrank geholt werden.

Im Spiegel erblicke ich mein Gesicht. Das also ist die Person, die hier wohnt. Sie gefällt mir, auch wenn sie mir noch ein wenig fremd vorkommt, als sei sie eine Cousine, die mir ähnlich sieht. Eine weiche, unter der Bräune blasse Nase, der Mund ungeschminkt. Die grünblauen Augen blicken mir suchend entgegen. Das Gesicht ist geschmückt mit ein paar Sommersprossen, schmal und fest in den Konturen. Wassertropfen glitzern auf meiner Haut, bahnen sich über die winzigen Fältchen hinweg ihren Weg.

Mit beiden Händen löse ich den Knoten, bis mein starkes, gewelltes Haar in voller, prächtiger Schwere nach unten schwingt. Es reicht mir lang den Rücken herab, weil ich es mein Leben lang nicht habe schneiden lassen. Ich kann mich damit zudecken wie Maria Magdalena, die herrliche Sünderin auf Tizians Bild.

Heute gefalle ich mir und freue mich an meinem Anblick. Am liebsten möchte ich singen. Diese rotblonde Mähne, leicht gelockt an den Schläfen und ungewöhnlich dicht, ist schon immer mein heimlicher Stolz gewesen. Heimlich, weil ich sie fast niemals offen trug, sondern immer brav geflochten oder hochgesteckt. Einer Frau Doktor angemessen.

Ich habe mich immer für einen Menschen gehalten, dem man nichts vormachen kann, der in allen Lebenslagen allein zurechtkommt. Willenskraft war mein höchstes Gut, meine stärkste Eigenschaft. Jedenfalls war ich vor meiner Abreise noch klar definiert: Psychotherapeutin, alleinstehend, 49 Jahre, 183 cm, 95 kg, Autorin mehrerer Zeitschriftenbeiträge, Hausbesitzerin. Und wer ist die Frau, die mir heute aus dem Spiegel entgegensieht?

Das ganze Ausmaß der Wandlung erahne ich erst jetzt. Meine Augen mustern mich eher neugierig als analytischstreng. Trotz aller Mattigkeit zeigen sie einen munteren und milden Ausdruck, unvertraut. Dabei sehen sie uralt aus, müde von vielen Leben, wissend und voll tief menschlichen Mitgefühls. Meine Nasenspitze berührt die kühle Spiegelfläche, als sich mein Gesicht dieser anderen, jünger scheinenden Frau nähert, wie um sie zu küssen. Ihr Blick weicht dem meinen nicht aus. Sie strahlt mich an, ohne zu lächeln.

Ein Handtuch, Strickjacke und dicke Socken brauche ich jetzt. Das Haus ist ausgekühlt. Als ich die Tür zu Mutters Schlafzimmer öffne, muß ich schlucken, und mein Herz beginnt zu flattern. Hier hat sie ihr Leben verbracht, hier ist sie hinübergegangen. Hier habe ich ihr in den Monaten der Bettlägerigkeit beigestanden, in diesem Raum sind wir uns endlich wirklich nahegekommen. Ob du mich jetzt sehen kannst? Mutter und Kind erkennen sich am Geruch und am Herzschlag. Seit sie begraben wurde, habe ich keine Familie mehr. Beide Eltern sind Einzelkinder gewesen.

Ihr großes Bett ist frisch überzogen, als käme sie wieder, um darin zu schlafen. Hier wurde ich gezeugt und geboren. Wie viele Stunden habe ich als Kind unter ihrem Federbett verbracht, wenn sie mir Geschichten und Märchen erzählte, vom bösen Wolf, der die sieben Geißlein und das Rotkäppchen frißt und am Ende mit aufgeschlitztem Bauch daliegt. Hier saßen wir auf der Bettkante, als die Nachricht von Vaters Selbstmord kam. Hier wusch ich sie, fütterte sie, hielt ihre Hand und flüsterte in ihr Ohr, bis sie den letzten Atemzug tun konnte.

Es hat gar keinen Zweck, daß ich mich zusammennehme. Ich kann das nicht mehr so wie früher. Meine Augen sind schon ganz heiß und trocken, das Kinn bebt, der Atem geht schneller. Es ist nicht die Trauer, die mich überwältigt, sondern eine dankbare Freude. Mama, du hast mir eine zweite Geburt geschenkt! Wärst du nicht gestorben, hätte ich mich von den Flügeln meiner Seele nicht forttragen lassen und vielleicht niemals erfahren, daß ich fliegen kann.

Dann hast du mich mutterseelenallein und gut versorgt zurückgelassen, frei von allen Bindungen. In dem Umschlag mit dem Testament fand ich nach deiner Beerdigung einen rührenden Zettel, schon mit zittriger Hand geschrieben.

 

Doris, meine große Kleine,

Du hast von mir ja noch nie einen Brief gekriegt, und wenn Du den hier liest, bin ich schon tot. Jetzt ist bald Abschied. Gar nicht so einfach. Schau mal in das Sparbuch! Freust Du Dich über das Geld? Hundertachtzigtausend! Das habe ich alles nur für Dich gespart. Die Erbschaft von der Oma und den Lotto-Fünfer. Und viel vom Haushaltsgeld. Erst sollte es ja für Deine Aussteuer sein, aber nun hast Du Dich so lieb um mich gekümmert, statt für Mann und Kinder zu sorgen. Haben doch noch gute Zeiten zusammen gehabt. Obwohl Enkelkinderle auch herrlich gewesen wären. Vielen Dank für alles, das war so schön für mich auf meine alten Tage, wie es dann gekommen ist. Wenn Du das Sparbuch findest, schau ich vielleicht von oben runter und freu mich über Dein Gesicht.

Aber nicht weitersparen! Sei nicht albern, genieß das Geld! Schließ die Praxis zu, und erhol Dich von der langen Pflege. Sonst wirst Du noch krank! Du könntest doch mal ein Jahr freinehmen und verreisen. Meine Doris. Bist auch bald fünfzig! Ich wünsch Dir noch ein gutes Leben. Daß ich Dich auf die Welt gebracht habe, war mein größtes Glück.

Deine alte Mama

 

Kurze Zeit später beschloß ich, die damit verbundene zärtliche Aufforderung wie einen »letzten Willen« zu betrachten. Zunächst fiel es mir schwer, mich innerlich zum Nichtstun bereit zu finden. Ich hatte immer mehr geleistet, als eigentlich nötig war. Das war mir völlig klar, ohne daß ich es deshalb zu ändern vermochte. Schon seit längerer Zeit hatte ich allerdings mit meiner Lebensenergie auf Kredit gelebt, hatte mit energischer Willenskraft das Letzte aus mir herausgeholt. Doch immer häufiger ertappte ich mich dabei, wie ich morgens um sieben wünschte, die Patienten würden absagen oder ich hätte eine fiebrige Grippe, die mir eine Rechtfertigung bieten würde, liegenzubleiben. Nur mein eiserner Wille hielt mich noch aufrecht. Ich war müde, sehr müde.

Meinen Beruf mit der Möglichkeit, einem Menschen durch aufmerksames Lauschen und einfühlsames Fragen zu helfen, daß er wieder heil werden kann, habe ich immer geliebt. Ich hatte Freude am Entdecken verborgener Zusammenhänge, am Deuten der Träume und am Diskutieren neuer Lebensstrategien. Doch als Mutter mich mehr brauchte als alle anderen Menschen, habe ich keine neuen Patienten mehr angenommen. Nachdem dann mein Entschluß, nach Indien zu reisen, feststand, konnte ich die wenigen, die ich noch betreute, bei einem Kollegen in gute Hände geben.

Seinerzeit mochte ich mir nicht eingestehen, daß ich nicht nur körperlich erschöpft war. Ich verbarg meine beginnende Depression unter Aktivismus, schlief schlecht, litt unter den Beschwerden der Menopause. Vor allem aber plagte mich – bei aller Rechtfertigung meines Lebens als erfolgreich Helfende – ein mir völlig unerklärliches Sinnlosigkeitsgefühl. Ich stand vor einer dicken Wand aus milchigem Glas, für Blicke gänzlich undurchdringlich. Mein Alltag war erfüllt. Und trotzdem bewegte mich immer häufiger die Frage: Wozu arbeite und helfe ich, wozu lebe ich überhaupt? Aus dem Nebel jener Tage kam keine Antwort.

Ohne es mir eingestehen zu wollen, war ich dort angelangt, wo jede Suche beginnt: am Ende. Ich fühlte mich trocken, leer und kühl, trotz der heftigen Hitzewallungen. Meine Theorien über Welt, Menschheit und Geschichte, über Gott und den Tod und die Liebe konnten mich weder satt machen noch wärmen.

Mama hat offenbar mit der erhöhten Sensibilität der Sterbenden gespürt, daß ihre Tochter, die immer für andere dasein wollte, selbst nicht mehr heil war.

Während jetzt warme Tränenströme der Dankbarkeit über mein Gesicht fließen und auf meine Hände tropfen, wird meine Brust ganz weit, und ich bin mir sicher, daß sie weiß, was ich empfinde. Ich habe das Geschenk gewürdigt und mit meinem Pfunde gewuchert. Die Zinsen der Liebe und der Erkenntnis, die mir in Indien zugewiesen wurden, werde ich bald großzügig verteilen, das verspreche ich.

Wieder fällt mein Blick auf das große, weiche Bett. »Darf ich heute bei dir schlafen?« bettelte ich als kleines Mädchen, wenn Vater nicht da war. »Bei dir ist es viel schöner!« Und wie damals flüchte ich mich heute, am Tag meiner Rückkehr aus dem mystischen Indien, in die Geborgenheit und Wärme der mütterlichen Federn. Selig krieche ich unter das dicke Plumeau und fühle mich endlich einmal wieder vollkommen sicher.