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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Widmung
PRÄLUDIUM
 
ERSTER TEIL – BRUDERZWIST
WAS IM BLUTE LIEGT
GEBURTSRECHT
GEFÄHRLICHES WISSEN
DER SÜNDENFALL
AUF DER JAGD
FESTMAHL
LICHTERLOH ENTFLAMMT
EISWÄNDE
ABSCHIEDSSCHMERZ
BLUTEN LERNEN
DER NÄCHSTE SCHRITT
AUF GOTTES WEGEN
INTERLUDIUM: GESCHÜTZTES WISSEN
 
ZWEITER TEIL – ERSTE WÜRDEN
DER RITTERSCHLAG
NEID UND MISSGUNST
LEBEN UND TOD
INTERLUDIUM: ALTE BEKANNTE
 
DRITTER TEIL – GLAUBENSHATZ
FREIHEIT
AUF DER FLUCHT
ALTE BEKANNTE
DIE HAUPTSTADT
IN NOMINE SATANIS
PFLICHT UND SCHMERZ
BLEIBENDE ERINNERUNG
LEID OHNE KLAGE
DAS GRAB IM BERG
INTERLUDIUM: DU SOLLST DIR KEIN BILDNIS MACHEN
 
VIERTER TEIL – LIEBESDIENSTE
ABSCHIED
ALTE KNOCHEN
WIEDER VEREINT
MINNE UND BLUT
EINE UNGUTE PARTIE
SCHRECKLICHER FREUDENTAG
DIE BRAUT IM ROTEN KLEID
WUT!
AUFERSTEHUNG
FRIEDENSREICHES HEIM
VERSÄUMNISSE
INTERLUDIUM: DIE FALSCHHEIT DER SCHLANGE
 
FÜNFTER TEIL – BUSSE
SÜHNE UND HOFFNUNG
NECKEN UND NASCHEN
ZUKÜNFTIGE FRAUEN
AUFBRUCH
NEUER HERREN KNECHT
VORURTEIL UND SÜHNE
VIEL FEIND …
ZURÜCK INS GLIED
DER ALTEN TOD UND NEUES LEBEN
KOMMENDE GRÄUEL
FALSCHE FREUNDE
INTERLUDIUM: JE SPÄTER DER ABEND...
 
SECHSTER TEIL – DER TOD HÄLT REICHE ERNTE
FAHRENDES VOLK
TÖDLICHES GEPÄCK
EIN WIEDERSEHEN
FALSCHER WOLF IM BUNTEN KLEID
VOM JÄGER ZUM GEJAGTEN
EIN VERGANGENES LEBEN
IN DER LIEBSTEN ARME
DAS EIGEN FLEISCH UND BLUT
BLETZER!
 
EPILOG
GLOSSAR
Danksagung
Copyright

HEYNE <

Das Buch
Böhmen zu Beginn des 15. Jahrhunderts: Das Land ist zerrissen. Gleich mehrere Kandidaten kämpfen um die Königswürde, und die einigende Kirche ist gespalten durch drei Päpste, die das Erbe Petrus’ für sich beanspruchen. Hinzu kommen aufrührerische Ketzer, das Wirken der Inquisition und die ersten Vorboten einer weiteren Pestepidemie. In dieser bewegten Zeit wächst Hagen von Stein zum Ritter heran und versucht, seinen Platz in der spätmittelalterlichen Welt zu finden. Sein Weg, der von Hexen und Inquisitoren gekreuzt wird, ist doppelt schwer, weil niemand etwas von seinen außergewöhnlichen Gaben, dem Segen oder Fluch seines besonderen Erbes erfahren darf. Große Aufgaben von historischer Bedeutung liegen vor ihm – und er ist nicht der Einzige, der das Mittelalter durch finstere Gaben verdunkelt.
Doch diese düsteren Geheimnisse finden, sorgsam verborgen vor den Unwissenden, ihren Weg bis in unsere Zeit. Denn der Schrecken ist niemals Geschichte – und er hat unendlich viel Geduld...
 
»Hexenmacher« ist der atemberaubende Auftakt zu André Wieslers großer Mystery-Serie Die Chroniken des Hagen von Stein.

Der Autor
André Wiesler, geboren 1974, machte sich nach seinem literaturwissenschaftlichen Studium einen Namen als Autor von Shadowrun – und DSA-Romanen. Nach einer Karriere als Comedy-Autor für TV-Produktionen wie »RTL-Samstag Nacht« arbeitet er inzwischen als Übersetzer und leitet als Chefredakteur das Rollenspiel »LodlanD« sowie das Magazin Envoyer. André Wiesler lebt zusammen mit seiner Frau Janina und dem Labrador-Mischling Lucky in Wuppertal.
 
Mehr zu Autor und Werk unter: www.andrewiesler.de

Für Janina,
ohne dich wäre mein Himmel ohne Boden.

PRÄLUDIUM
Georg von Vitzthum legte den Kopf in den Nacken und sah zum zweigehörnten schwarzen Schatten auf, den der Kölner Dom vor dem nur wenig helleren Abendhimmel bildete. Filigrane Ornamente an den Türmen und der Fassade verschwammen im feinen Regen zu einer unförmigen grauen Masse. Die mit Planen bespannten Renovierungsgerüste schienen wie stachelige Schnecken bei jedem seiner Besuche in der Stadt ein bisschen weiter um das Gebäude herumzukriechen und wurden doch nie fertig mit ihrer Sisyphusarbeit.
Er erwartete fast, dass zur dramaturgischen Untermalung seiner Stimmung ein Blitz das ehrwürdige Gebäude erhellte, aber Gott ließ sich nicht dazu herab, seinen Befindlichkeiten zu huldigen.
Georg wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zog den farblich auf seinen dunklen Anzug abgestimmten Mantel enger um sich, während er die Stufen zur Domplatte hinaufstieg. Wie erwartet herrschte hier oben, auf der erhöhten Betonfläche, ein stärkerer Wind. Er fegte den feinen Nieselregen mit nachhaltiger Gleichgültigkeit für das Wohlbefinden der zahlreichen Späteinkäufer und Touristen über die graue Fläche.
Die feinen Tropfen suchten sich den Weg an seinem teuren Kaschmirschal vorbei in den Kragen, über die dunklen Schuhe und Socken hinweg ans Bein, unter den nach New Yorker Mode geschnittenen Hut ins Gesicht – gab man dem Regen genug Zeit, benetzte er den ganzen Körper.
So wie das Böse, dachte er und lächelte grimmig, als einige Japaner kichernd, touristische Faltpläne Kölns zum Schutz vor dem Regen über sich haltend, an ihm vorbei in die Trockenheit des Doms flüchteten.
Georg wäre selbst gerne hineingegangen, hätte am Grabmal des Erzbischofs Gero ein kurzes Gebet gesprochen, für Karl, aber dafür war keine Zeit. Tut mir leid, alter Knabe, sandte er dem Verstorbenen freundliche Gedanken, aber du weißt ja, wie das ist.
Er hob den Arm und schob Mantel und Hemd beiseite, um auf die silberne Breitling zu blicken – kurz vor acht. Er lag gut in der Zeit. Da klingelte sein Handy, als wolle es ihn darauf aufmerksam machen, dass es neben unzähligen anderen Funktionen ebenfalls die Stunde anzeigte und man nicht ein paar Tausend Euro für eine Uhr ausgeben musste. Doch die Armbanduhr hatte einen immensen Vorteil: Sie funktionierte auch ohne Netz und ohne Strom, besaß ein automatisches Uhrwerk, das sich durch die Körperbewegung aufzog, und hatte auch in jenen Fällen treuen Dienst verrichtet, in denen das Handy aufgegeben hatte – sogar im Angesicht des Todes.
Die Grätsche gemacht, fiel ihm in diesem Zusammenhang Karls Lieblingsformulierung ein, und er ließ den Arm wieder sinken. Die Anzeige der Mondphasen war ein nützliches Detail der Uhr und hätte seinem Freund und Leidensgenossen vielleicht das Leben gerettet.
Er zog das silberne Gerät aus der Mantelinnentasche und meldete sich.
»Wir haben ein Problem«, sagte eine heisere Männerstimme am anderen Ende der Leitung ohne Begrüßung. »Er hat Unterstützung – eine Hecetisse.«
Georg schloss enttäuscht die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien ihm der Tag noch grauer geworden.
»Kennen wir sie?«, fragte er und ärgerte sich, dass seine Stimme so matt klang.
»Erkennungsdienstlich noch nicht erfasst.«
Georg nickte. Vermutlich eine der Ostblock-Hexen, mit denen sich Edgard Carteaumois in letzter Zeit des Häufigeren traf. »Abbruch«, befahl er.
»Wir können Pater Liegnitz bekommen«, wandte die heisere Stimme des Mannes ein, und kurz war Georg versucht, es darauf ankommen zu lassen. Wenn sie Carteaumois in die Finger bekämen, würden sich ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Und Liegnitz war ein äußerst erfahrener Exorzist …
Aber dann wiederholte er entschlossen: »Abbruch! Sie wissen, wie es läuft. Wir spielen unsere Karten …«
»… niemals blind«, vollendete die Stimme am anderen Ende und unterbrach die Verbindung.
Georg unterdrückte einen Fluch, musterte einen Augenblick die Tropfen, die wie winzige Meteoriten in die Oberfläche des dünnen Wasserfilms am Boden einschlugen. Dann straffte er die Schultern und seufzte leise. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, versprach er Carteaumois in Gedanken, schon bald zappelst du an meinem Haken, elender Bletzer!
Dann sah er sich um. Er musste aufmerksam bleiben. Die Kontaktleute, die dieses anonyme Treffen arrangiert hatten, waren zwar im Allgemeinen verlässlich, aber auch sie konnten hinters Licht geführt werden. Eine interessante Redewendung. Beizeiten musste er einmal herausfinden, woher sie stammte. Er hatte oft das Gefühl, als befände er sich dort, hinterm Licht, in den dunklen Abgründen des Unerklärlichen.
Der Regen wurde stärker und trieb die in riesigen Bussen herangekarrten Touristen noch schneller über die Platte und durch die Schiebetür ins Innere der prächtigen Kathedrale.
Noch eine Viertelstunde. Ob er vielleicht doch schnell einen Blick in den Dom warf? Oder sollte er besser hier draußen warten, um sich zu vergewissern, dass sein »Date« – er schmunzelte bei diesem unpassenden, neudeutschen Wort – keine Begleitung mitbrachte?
Einige Tauben, die dem Wetter trotzten, wurden von einer weiteren Horde Asiaten aufgescheucht und segelten mit der ihnen eigenen überheblichen Gelassenheit über die Platte. Doch dann wich der kleine Schwarm aus, als hätte eine Windböe ihn zur Seite getrieben. Instinktiv suchte Georg den Grund für diese Scheu vor der Kirche, vor der die fliegenden Ratten doch sonst keine Ehrfurcht zeigten.
Sein Blick fiel auf eine kleine, in bunte Röcke gekleidete Frau, die mit einem bestickten Tuch über Kopf und Schultern an der Dommauer saß und weitgehend unbeeindruckt von der Witterung kleine glasierte Dom- und Marienfiguren anbot. Das Betteln und Feilbieten war am Dom streng verboten, aber das scherte die Frau offenbar wenig. In aller Seelenruhe hob sie nun den Kopf, um einem Japaner in enger, heller Kleidung eine der Domfiguren zu reichen. So erhaschte Georg einen Blick auf ihr Gesicht – es war alt und faltig, dunkelhäutig, mit tiefen, fast schwarzen Augen. Insgesamt südländisch, aber nicht spanisch oder italienisch – eher eine Roma.
Seltsam, dass ausgerechnet eine Roma hier christliche Symbole verkaufte. Und seltsam auch, dass der Japaner einen Hunderter in die kleine Schatulle legte, in der sonst nur kleinere Scheine und Münzen lagen, und sich dann abwandte, ohne auf Wechselgeld zu warten.
Georg musterte die Frau aufmerksam. Ihre Decke und die Statuetten vor ihr waren von einem feuchten Film überzogen, ihre Kleidung hingegen war trocken.
Ihm lief ein wohlbekanntes Kribbeln über den Rücken, als er erkannte, was er da vor sich hatte. Die Frage war nun: Hagr oder Hecetisse? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er steckte die rechte Hand in die Tasche seines Mantels, in der gegen jede Vorschrift die kleine Makarov ruhte. Sein Finger fand erst die Sicherung und dann den Abzug, als sich die Pistole in seine Hand schmiegte. Klaus hatte sie geringschätzig eine »Weiberwumme« genannt, aber dessen Glock hatte ihm gegen seinen Mörder auch nichts genutzt. Manche Dinge waren eben mit Kugeln allein nicht zu bezwingen.
Als er den Rand der Decke erreicht hatte, füllte der Herzschlag seine Ohren mit einem dumpfen Grundrhythmus, der sich über das feine Rauschen des Regens legte. Er ging in die Hocke, nahm eine der Marienfiguren in die Hand und gab vor, sie zu betrachten. Sie war unbemalt, aus einfachem, weißem Gips, mit unsauber gearbeiteten Gesichtszügen – vermutlich in Heimarbeit gegossen. Nur der nachlässig aufgebrachte Klarlack, dessen Nasen beinahe wie Tränen im Gesicht und am Körper der heiligen Jungfrau klebten, verhinderte, dass die Figur im Regen zerfloss.
Das vom bunten Tuch eingerahmte Gesicht der alten Roma trug denselben sanftmütig gleichgültigen Ausdruck wie das der Mutter Gottes, aber der breite goldene Ring, der wie bei einer afrikanischen Stammesfrau durch die Unterlippe gezogen war, ruinierte die Ähnlichkeit.
»Was kostet die hier?«, fragte Georg und bemühte sich, nonchalant zu klingen.
»Was Sie zu geben bereit sind«, antwortete die Alte mit brüchiger, tiefer Stimme, aber ohne jeden Akzent.
Nicht auf das Klischee der alten Zigeunerin hereinfallen, ermahnte sich Georg und nickte. Er stellte die Figur wieder ab und drehte die Hüfte ein wenig, um an die Geldscheine in seiner Hosentasche heranzukommen. Er zog wahllos einen heraus, sah, dass es ein Fünfziger war, und legte ihn in die kleine Geldschatulle. Für einen Augenblick traf der Blick der Alten auf seinen, und mit einem Mal erschienen Georg fünfzig Euro als guter Preis für eine solche Marienfigur. Der Moment verging schnell, perlte an seiner Ausbildung ab und hinterließ ein leeres Gefühl der Verwunderung. Dann erkannte er, was die Roma da mit ihm versucht hatte. Verdammte Verführerin!
Genau auf ihre Reaktionen achtend, griff er nach zwei Zwanzigern in der Schatulle und sagte: »Zehn Euro sollten reichen.«
Ihre Hand schnellte vor und umklammerte sein Handgelenk wie ein Schraubstock. Die dünnen Finger pressten schmerzhaft goldene Ringe in seine Haut, und obwohl er sicher das Dreifache dieser kleinen, dünnen Frau wog, konnte er seine Hand nicht zurückziehen. Stattdessen holte er mit der anderen die Pistole hervor.
Die Roma beugte sich vor und flüsterte rau: »Ganz oder gar nicht, Petrusknecht!«
Georg ließ die Waffe wieder in der Manteltasche verschwinden. »Du hast auf mich gewartet«, stellte er fest, und die Roma nickte ernst.
»Seit hundert Jahren!«, sagte sie und ließ ihn los.
Georg lief es kalt den Rücken herunter, denn er wusste, dass dies keine Übertreibung war.
Seine Beine fingen an zu schmerzen, sie waren von der Verfolgungsjagd der letzten Nacht noch angestrengt. War es wirklich noch nicht mal einen Tag her? Egal! Hier spielte die Musik, und wenn er nicht aufmerksam war, könnte sie zum verregneten Totentanz aufspielen.
»Die Zeit ist gekommen«, fuhr die Frau fort – wohl doch eine Hagr, wenn sie bereit war, mit ihm zu verhandeln, aber der Teufel kannte viele Masken.
»Heute Nacht sterbe ich«, verkündete sie mit einem stoischen Gleichmut, als spräche sie vom Wetter. »Doch das Geheimnis darf nicht mit mir sterben, Kirchenscherge. Ihr sollt das Schauspiel vollenden, dem meine Sippe seit Urzeiten die Bühne bereitet.«
Georg bemerkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als er sagte: »Geht es um Ha…«
»Pscht!«, zischte ihn die Hagr an, und als er mit fragendem Blick verstummte, wies ihr knochiger Finger nach oben. Georg folgte ihrer Geste mit den Augen.
Über ihnen ragte ein länglicher Wasserspeier aus der Fassade des Doms. Es war eine der im neunzehnten Jahrhundert erneuerten Figuren, die einen Wolf mit Flügeln darstellte, dem der Grünspan bereits ordentlich zusetzte.
Georg stutzte, irgendetwas war seltsam an der Figur. Er kniff die Augen gegen den Regen zusammen, und da erkannte er es: Im Gegensatz zu jedem anderen Wasserspeier am Kölner Dom hielt die Figur den Kopf gesenkt, beobachtete sie mit steinernen Augen. Georg musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig weiterzuatmen. Nur mühsam gelang es ihm, die aufwallende Panik zu unterdrücken. Er versuchte gar nicht erst, sich das Ganze als architektonische Besonderheit zu erklären. Solche verzweifelten Versuche, sich das Unvorstellbare schönzureden, hatte er schon lang aufgegeben.
Er senkte den Blick wieder und wich erschrocken zurück, denn nun war das Gesicht der Alten direkt vor ihm. Sie hockte auf ihrer Decke und grinste ihn bösartig an, die dunklen Brauen zusammengezogen. Unter einem ihrer klobigen Stiefel knirschte eine zermalmte Marienstatue. »Ich habe etwas für dich!«
Bevor sich Georg wieder gefangen hatte, drehte sich die Frau in der Hocke herum, hob dabei ihre Füße wie ein unförmiger, tanzender Zwerg und hielt, als sie die Drehung vollendete, ein in schmutzige, aber ebenfalls trockene Tücher geschlagenes Bündel in der Hand.
»Nimm!«, forderte sie barsch, und es wirkte, als schaffe es der Regen, an ihrem dürren Unterarm vorbeizufallen.
Georg erschauderte, aber er gehorchte, und kaum zog er das überraschend schwere Paket an sich, hörte er das leise Klatschen der mittlerweile dicken Tropfen darauf. Er spürte, dass sein Mantel an Schultern und Rücken bereits durchnässt war, aber das war im Moment unwichtig.
»Nicht hier!«, mahnte sie, als er das Tuch aufdecken wollte. Sie wies auf den Eingang des Doms. »Dort, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Georg nickte und leckte sich nervös über die Lippen. Er hatte schon ganz andere Dinge erlebt, warum brachte ihn dies so aus der Fassung? »Was ist der Preis?«, fragte er. Wenn er schon mit dem Teufel handelte, wollte er die Währung kennen.
Die Alte hob eine Augenbraue und musterte ihn eindringlich. Dann sagte sie mit brüchiger Stimme: »Die letzten Nächte ohne Albtraum; die Ruhe in Momenten, in denen du dich sicher fühlst; das Vertrauen einer Freundschaft – das alles wird es dich kosten. Aber es schenkt dir so viel mehr!«
Georg musterte das Bündel und ließ beide Hände darübergleiten. Seine Oberschenkel brannten nun wie Feuer, aber noch immer wagte er nicht, sich zu erheben. War das ein Foliant, unter diesem fleckigen Stoff?
Er hob den Blick, um der Hagr weitere Fragen zu stellen, aber sie war verschwunden. Nur die trockene Wand des Doms, nun ohne Schutz dem Regen ausgesetzt, blieb als dürftige Antwort auf seine stummen Fragen.
Georg erhob sich. Er blickte sich nicht um, denn er wusste, dass er die Alte nicht weggehen sehen würde. Stattdessen öffnete er den Mantel, presste das Bündel schützend darunter an die Brust und eilte auf den Eingang des Doms zu.
Drinnen war es beinahe so kalt wie draußen, und doch spendete der Anblick des hohen Schiffs und der prächtigen, bunten Fenster Georg eine beruhigende innere Wärme. Der Anblick im Schein unzähliger Kerzen betender Christen tat das Seine dazu.
Er eilte an den tonnenbäuchigen Aufpassern vorbei, die mit umgehängter Spendendose durch die Gänge patrouillierten und für Georgs Geschmack etwas zu streng darauf achteten, dass sich hier niemand amüsierte. Die grimmige Andacht Gottes war in ihre feisten Gesichter gemeißelt, und es schien Pflicht, mindestens einen Zentner Übergewicht aufzuweisen, um hier Wächter zu werden.
Doch das interessierte ihn heute ebenso wenig wie die Touristen, die mit Audiotourgeräten durch die Gänge torkelten, den Kopf in den Nacken gelegt, als hätten sie Nasenbluten. Er erreichte die im Nebenschiff untergebrachte Sakramentskapelle, kniete vor dem marmornen Barockaltar nieder, schlug ein Kreuz und glitt dann in eine der hinteren Bänke.
Mit zitternden Fingern wickelte er aus, was die Hagr ihm überlassen hatte. Es war tatsächlich ein Foliant, und er war sehr alt, musste noch aus der Zeit vor dem Buchdruck stammen. Der Einband war abgeschabt, die Schließe hing nutzlos und ausgeleiert herunter. Georg drehte das Buch in den Händen, betrachtete es von allen Seiten. Die Pergamentbögen hatten unterschiedliche Farben, als seien mit der Zeit Seiten herausgenommen und durch neue ersetzt worden. Nein, jetzt erkannte er es: Der Einband war aufgeschnitten, und weitere Bögen waren eingelegt worden. Jemand hatte es für nötig befunden, mehr in dieses Buch zu schreiben, als die ursprünglichen Seiten erlaubt hatten.
Georg legte den schweren Folianten auf seinen Schoß, zögerte einen Moment und schlug dann doch die erste Seite auf. Wie bei mittelalterlichen Büchern üblich trug der Einband keine Titelprägung, und es gab auch kein Inhaltsverzeichnis oder Impressum. Es begann sofort mit formschönen, aber engen Buchstaben, als hätte der Scriptor geahnt, dass Platz in diesem Buch kostbar wäre.
Doch auf der Innenseite des Einbandes, in das dunkle Leder eingebrannt, schimmerten unheilvoll die drei Kreise, die Georg zu fürchten gelernt hatte. Sie waren zur Außenseite hin unterbrochen und wanden sich wie eiserne Klammern um einen kleineren, geschlossenen Kreis in der Mitte. Er wollte nicht daran denken, wofür die Kreise standen, nicht jetzt!
Nachdenklich blätterte Georg das Buch einmal durch und bemerkte schnell, dass darin Texte in unterschiedlichsten Handschriften aus den verschiedensten Zeiten verewigt waren. Begierig, mehr zu erfahren, schlug er wieder die erste Seite auf und begann zu lesen: »Wir wellen diu maere von de tapferen degen Hagen von Stein und sin schickunge begunde mite einem kampf.«
Mühsam übersetzte er, leise vor sich hin murmelnd. Sein Mittelhochdeutsch war seit dem Studium etwas eingerostet: »Wir wollen unsere Rede von dem tapferen Krieger Hagen von Stein und dessen Schicksal mit einem Kampf beginnen.«
Hagen von Stein! Endlich! Hielt er den Schlüssel zum Leben dieses Mannes in Händen?
Eilig las er weiter, und die Schatten der Kirche umschlangen ihn, als wollten sie über seine Schultern mitlesen …

ERSTER TEIL
BRUDERZWIST
Anno Domini 1409, in dem König Sigmund von Luxemburg durch Barbara von Cilli eine Tochter mit dem Namen Elisabeth geboren wird; das Konzil von Pisa Papst Gregor XII. und Gegenpapst Benedikt XIII. abwählt, jene jedoch ihr Amt nicht niederlegen, weshalb man nunmehr drei Päpste hat; der neue Papst Alexander V. die Errichtung der Universität zu Leipzig genehmigt und Berlin vom Raubritter Dietrich von Quitzow erobert wird.

WAS IM BLUTE LIEGT
Hagen von Steins Muskeln spannten sich in Erwartung des Angriffs, und seine Hände schlossen sich fester um den Schwertgriff. Sein schwerer Atem stieg in grauen Schwaden in die eisige Luft und trübte für einen Augenblick die Sicht auf seinen Gegner, der noch immer zögerte. Hagen lauerte wie ein ausgehungerter Hund auf eine Bewegung, die ihm die Attacke seines Ziehbruders Albrecht ankündigen würde.
Endlich riss sein Gegenüber das Schwert in die Höhe und stürmte los. Die blonden, schweißgetränkten Haare flogen, und für Hagen verlangsamte sich die Zeit. Einen Moment lang schien es, als hielte auch der eisige Wind, der unablässig durch die Fenster des Burgsaals pfiff, vor Spannung den Atem an.
Dann ließ Albrecht das Schwert im Bogen auf Hagen heruntersausen. Doch die zum Schutz der Streiter mit Lederstreifen umwickelte Klinge war schwer und der schmächtige, blasse Albrecht nicht stark genug, um sie schnell zu führen. Mit einem raschen Schritt wich Hagen zur Seite aus, wobei seine Lederstiefel vom Frost versteift knarrten. Gleichzeitig schlug er parallel zum Boden nach dem Gegner und landete einen wuchtigen Treffer gegen den Bauch des Älteren. Im letzten Moment, bevor das Schwert auf Albrechts Wams prallte, lockerte Hagen seinen Griff etwas, um Wucht herauszunehmen. Trotzdem klang der Schlag laut und dumpf im leeren Rittersaal nach und ließ Albrecht wie einen Grashalm an der Sense stöhnend einknicken.
Albrechts Schwert fiel klirrend zu Boden, bevor seine Hände ihm nachfolgten, und Hagen roch die bittere Galle bereits, als sie sich noch den Weg zu den feinen Lippen des Getroffenen bahnte. Auf allen vieren, mit röchelnden Luftzügen, die seine knochige Gestalt erschaudern ließen, versuchte der Sohn der Gräfin Anna von Aichelberg und des Hans Thumb von Neuburg das Erbrechen zurückzukämpfen. Vergebens, schaumige gelbe Flüssigkeit tropfte auf den Boden und bildete dunkle stinkende Stellen im Stroh.
Hagen trat besorgt einen Schritt vor – so hart hatte er nicht treffen wollen -, wurde aber vom wütenden Schnauben des Schwertlehrers Kajetan von Gemen aufgehalten. Der stämmige Mann, der Hagen immer schon an einen kräftigen Eber erinnert hatte, trat zu Albrecht, packte ihn grob unter den Achseln und stellte ihn ohne sichtliche Mühe auf. Für einen Moment glaubte Hagen, Albrecht würde wieder auf die Knie sinken, aber dann straffte dieser sich und stand sicher. Der Mann, den er einmal für seinen leiblichen Bruder gehalten hatte, mochte ein Intrigant, ein Feigling und ein Schwächling sein, aber sein Wille war fest wie eine hundertjährige Eiche.
»Mir ist auch nach Kotzen zumute, wenn ich das sehe! Wer glaubt Ihr zu sein, Albrecht? Hat Euch ein Engel die Kraft Samsons eingeflößt, als ich wegsah?«, grollte der erfahrene Ritter.
Albrecht atmete tief ein und aus, unfähig etwas zu erwidern, aber Hagen sah den Hass in den hellblauen Augen, die Kajetan nun folgten, als dieser das Schwert auflas.
Hagen war froh, dass nicht er Ziel von Kajetans Schelte war, und trat einen Schritt zurück, das Schwert auf dem Unterarm abgelegt, fast wie man ein Kind halten würde. Er hatte dem Lehrer allerdings auch schon lange keinen Grund mehr für eine Zurechtweisung gegeben.
Mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung schwang ihr Mentor die Klinge über den Kopf und ließ sie zischend niedersausen. »So hat ein Schlag zum Kopf zu erfolgen. Aber dazu seid Ihr nicht stark und schwer genug, Albrecht. Wie oft soll ich es noch sagen?«
Albrecht spuckte im hohen Bogen aus und traf in den Schnee, der durch die offenen Fenster hereinwehte, davor weiße Flächen bildete und auf dem kalten Steinboden nur langsam schmolz. Das Gesinde würde sicher darüber murren, dass Kajetan wieder einmal die Rahmen mit den aufgespannten Tierblasen abgenommen hatte, die gegen die Kälte vor die Fenster gehängt wurden. Aber der Schwertlehrer hatte mehr Licht in den düsteren Saal bringen wollen, und bei allem, was er tat, kannte er keine Gnade – nicht einmal für sich selbst.
»Führt seitliche Schläge, Stiche – Angriffe, die wenig Kraft kosten und bei denen Ihr das Schwert schnell wieder vor dem Körper habt, um abzuwehren!« Kajetans Schmuckketten, gesammelt in unzähligen Ländern und Schlachten, klirrten, als er Albrecht nun das Schwert zuwarf, der es mit beiden Händen an der umwickelten Klinge fing. »Nutzt Eure Möglichkeiten! Vom Schlachtfeld geht nur einer zurück zu Frau und Kindern.«
Hagen bewunderte Kajetan. Der alte Haudegen hatte mit seinen vierzig Jahren mehr Schlachten gesehen als mancher Feldherr und hatte in jeder einzelnen seinen Blutzoll gezahlt. Die zahlreichen Schneisen in seinem wilden braunroten Bart und das fehlende linke Ohr waren nur die sichtbarsten Zeichen dafür. Und dennoch, trotz seines fortgeschrittenen Alters und all der Schmerzen, die er erlitten haben musste, führte er das Schwert so mühelos und schnell, wie ein Falke seine Beute packte.
»Ihr werdet erlauben, dass ich erst einen Schluck trinke, bevor ich mich wieder dem Erhalt meiner zukünftigen Familie widme«, sagte Albrecht mit rauer Stimme und ging zur innen gelegenen Seite des Raumes, an der die Tische und Bänke aufgereiht standen. Bei aller körperlichen Schwäche bewegte er sich mit einer gewissen Geschmeidigkeit, die von Arroganz unterfüttert wurde.
Hagen unterdrückte eine Grimasse. Diese selbstverständliche Wichtigkeit ging ihm selbst völlig ab. Er war stark und geschickt, aber seit seinem letzten Wachstumsschub hatten seine Bewegungen etwas von einem schlaftrunkenen Bären.
»Wo wir dabei sind – wie geht es Eurer Gattin?«, murmelte Albrecht, während er sich gewürzten Wein eingoss, so leise, dass nur Hagen es hörte.
Hagen unterdrückte ein wütendes Knurren und schüttelte missbilligend den Kopf. Natürlich wusste Albrecht so gut wie jeder andere auf Burg Aichelberg, dass Kajetans Frau auf dem Kindbett verstorben war. Das war Albrechts Art. Er nutzte das Leid der anderen, um seine eigenen Schwächen zu verhehlen.
Hagen blickte zu Kajetan, um zu sehen, ob der Lehrer Albrechts Worte gehört hatte, aber der schenkte ihm nun ein breites, löchriges Lächeln – die Hälfte aller Zähne fehlte oder war gesplittert.
»Gute Riposte«, lobte er, und Hagen spürte Stolz in sich aufwallen. Einen Moment genoss er das Gefühl, dann versuchte er, wieder zur gottgefälligen Demut zurückzufinden, aber es wollte ihm nicht recht gelingen.
Albrecht setzte unterdessen den Kelch ab, aus dem er große Schlucke genommen hatte, und trat wieder vor.
»Seid Ihr bereit?«, fragte Kajetan, und Albrecht nickte grimmig. Er wollte sich nun beweisen, doch Hagen würde ihm keine Gelegenheit dazu geben. Er war größer, schneller und stärker als sein zwei Jahre älterer Ziehbruder, und er verbrachte einen Großteil seiner Zeit damit, das Reiten und Streiten zu üben.
Albrecht hingegen hockte ständig in seiner Kammer, die Nase dicht über irgendeinem Buch, oder er übte sich im Disput mit Vater Ignazius. Von den artes septem liberales, den sieben freien Künsten, hatte es ihm vor allem das Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik angetan. Die Künste, denen hingegen Hagen zugetan war, waren die Kriegskünste und die Lieder der Spielleute.
»Worauf wartet Ihr? Strengt Euch an! Ich möchte Eurem Vater bei seinem nächsten Besuch gern mitteilen, dass sein Sohn auch einmal einen Treffer gelandet hat. Oder sollte ich sagen: seine Tochter?«
Albrecht schnaubte wütend und griff das Schwert fester. Ein heftiger Windstoß fuhr schneetragend zwischen ihnen hindurch, als wolle er die unsichtbare Mauer aufzeigen, die sich in den letzten Jahren zwischen Hagen und Albrecht gebildet hatte. Wie Kalkstein war sie gewachsen, mit jeder Gemeinheit und jeder Nachlässigkeit nur ein winziges Stück, dafür aber stetig.
In diesem Moment hörte Hagen Schritte, die sich der Tür näherten. Albrecht hob das Schwert und senkte den Kopf, starrte Hagen herausfordernd an.
Da wurde die Tür leise von außen aufgeschoben, und Hagen wandte den Blick. Der Spalt offenbarte erst ein grobschlächtiges, rundes Gesicht mit wulstigen Lippen, aber dann war die Zofe Dorothye hindurch, und ihr folgte, mit kleinen Schritten, die Hand kichernd vor den Mund gehalten, Freya von Bassewitz. Sie war eine Cousine dritten Grades der Gräfin in der zweiten Generation und das schönste Mädchen, das Hagen je gesehen hatte.
Als sie den Saal betrat, wogte ihr schwarzes lockiges Haar, nur gebändigt von einem bunten Seidenkranz, bei jedem Schritt wie die nächtliche See um ihr hübsches Gesicht. Ihre rosigen Lippen und die sanften, braunen Augen zogen den Blick stärker an als ihr kunstvoll besticktes Kleid.
Auch Kajetan wandte sich nun um, als die Zofe ein grunzendes Lachen nicht länger unterdrücken konnte. Es war allgemein bekannt, dass sich die Mädchen mit Vorliebe vor ihren Stickarbeiten drückten, um die Burg unsicher zu machen und sich an Orten herumzutreiben, an denen sie eigentlich nichts zu suchen hatten. Aber wie so viele hatte auch Kajetan dem süßen Augenaufschlag und dem flehenden Blick Freyas nichts entgegenzusetzen, weshalb die jungen Damen sich das ein oder andere Mal zu den Übungsstunden gesellten.
Hagen war das nur allzu recht. Er ließ das Schwert sinken und wollte sich eben den beiden Mädchen zuwenden, da keuchte Albrecht auf. Hagen wandte den Blick und wich dann erschrocken zur Seite, als er seinen Ziehbruder mit wutverzerrtem Gesicht und vorgestrecktem Schwert auf sich zuspringen sah. Hagens Fuß glitt auf dem feuchten Stroh aus, und so traf ihn Albrechts Stoß in die Seite, knapp über der Hüfte. Das Leder glitt von der Spitze der Klinge, und der eiserne Keil drang, vorangetrieben vom ganzen Gewicht des Angreifers, in Hagens Körper ein. Wie glühendes Eisen fraß er sich durch seinen Leib, kratzte über Knochen und trat im Rücken wieder aus.
Eines der Mädchen stieß ein schrilles Kreischen aus, das jedoch im stürmenden Rauschen in Hagens Ohren unterging.
Albrecht stand nur wenige Handbreit vor ihm, das Schwert noch immer umklammert, über das nun dünne Fäden heißen Blutes strömten, und Hagen konnte den Triumph in den Augen des Knappen aufblitzen sehen. Wütend stieß Hagen ihn von sich. Albrecht taumelte zurück und riss dabei das Schwert aus Hagens Seite. Der Schmerz ließ schwarze Punkte vor Hagens Augen erscheinen, und seine Beine gaben nach. Er fiel auf die Knie und drückte die Hände auf die Wunde, aus der nun Ströme seines Blutes über die Finger schossen.
»Verdammt!«, brüllte Kajetan und sprang zu Hagen. Der hätte gern gesehen, wie Freya auf seine Verletzung reagierte, ob sie sich Sorgen machte, doch der Schmerz trieb Tränen in seine Augen und ließ ihn zu Boden stürzen. Er blinzelte den Tränenschleier weg und blickte zu dem neben ihm knienden Lehrmeister auf. Vor seinen Augen baumelte das Gürtelende des Kriegers, und erst jetzt fiel Hagen auf, dass die silbernen Stickereien darauf Ritter bei der Tjoste darstellten, die behelmten Gesichter hohl wie die Fratzen Toter.
Mit einem Blick über die Schulter stellte der Lehrmeister sicher, dass er die Wunde vor den Blicken der beiden Mädchen verdeckte, die einander ängstlich umklammernd vor der offenen Tür standen. Kajetan hob Hagens Hemd an und sagte laut: »Zum Glück! Nur ein flacher Schnitt.«
Hagen hätte beinahe aufgelacht – ein flacher Schnitt! Ein solcher Treffer beendete normalerweise das Leben so sicher wie das Amen in der Kirche. Er spürte, dass sein Wams und seine Hose sich mit Blut vollgesogen hatten. Es blieb zu hoffen, dass Freya und ihre Zofe nur wenig von allem gesehen hatten und Kajetans Worten Glauben schenkten. Von der Tür aus hatten sie die Klinge nicht aus seinem Rücken ragen sehen können, und so Gott wollte, hatte Albrechts Körper ihnen den Blick darauf verwehrt, dass sie bis zum Heft in seinen Bauch getrieben worden war.
Hagen spürte, wie sein Herz langsamer schlug, wie der Körper sich darauf vorbereitete, den Dienst zu verweigern. Da endlich setzte der stechende Schmerz ein, der ihm das Leben retten würde. Hagen bäumte sich auf, als die Wunde begann, sich von innen zu schließen, und dabei stach, als würde sie mit kochendem Pech ausgegossen.
»Bleib liegen«, zischte der Ritter ihm nun zu und stand auf, um sich den Mädchen zuzuwenden. Selbst wenn er gewollt hätte, die Pein der Heilung machte es unmöglich, sich aufzurichten. Die langen Augenblicke, in denen die Wundränder unter unsäglichen Qualen zuckend und krampfend aufeinander zuwanderten, waren schlimmer als die Schmerzen der Verletzung.
Hagen atmete tief, versuchte die sich schließende Wunde zu vergessen und richtete den Blick an Kajetan vorbei auf die Mädchen.
Freya hatte ihr bleiches, tränenüberströmtes Gesicht an den ausladenden Oberkörper ihrer Zofe gepresst, die tröstend über ihr schimmerndes Haar strich.
»Keine Sorge, edle Damen, nur eine flache Wunde, nichts, was Eure Besorgnis erregen sollte. Wir werden uns darum kümmern, aber ich muss euch bitten, den Saal zu verlassen. Die Schicklichkeit gebietet es.« Kajetan machte eine auffordernde Geste zur Tür hinaus, und die Zofe Dorothye nickte. Langsam zog sie Freya aus dem Raum, doch bevor der Ritter die Tür hinter ihnen schloss, trafen sich Freyas und Hagens Blicke. Nur einen Moment lang, aber es war ein Augenblick solcher Wonne, dass Hagen unwillkürlich lächeln musste, denn er sah Sorge und Mitleid in ihren Augen.
»Was gibt es da zu grinsen?«, wollte Kajetan leise, aber scharf wissen. »Du bist verletzt, also benimm dich auch so. Oder soll die ganze Burg wissen, was mit dir los ist?«
Das Lächeln verschwand aus Hagens Gesicht, auch weil sein Körper in diesem Moment sein Werk mit einem letzten Stechen vollendete. Der Blutstrom verebbte gänzlich, und als Hagen sein Hemd hob, war unter dem Blutschimmer wieder makellose, narbenfreie Haut zu sehen.
Er ließ sich von Kajetan auf die Beine ziehen, die in Erinnerung an den Schmerz noch etwas wackelig waren.
»Und Ihr?«, fragte Kajetan dann Albrecht scharf, der abwartend, fast gelangweilt, mit ausdruckslosem Gesicht dastand, die blutverschmierten Arme verschränkt – besudelt mit seinem, Hagens, Blut, als hätte er heidnischen Göttern ein Opfer dargebracht! »Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«
Albrecht blickte den wütenden Lehrer an, und ein schmales, selbstgefälliges Lächeln bahnte sich den Weg auf seine blassblauen Lippen. »Ich habe meine Möglichkeit genutzt, wie Ihr es fordertet – mit einem Stich.«
Hagen spürte Wut in sich aufsteigen, hatte den Eindruck, als wollte all das neu erschaffene Blut in seinen Kopf schießen. Es war kein Versehen gewesen, kein Angriff, der nicht mehr zu stoppen gewesen war. Albrecht hatte mit Bedacht zugestoßen, während Hagen abgelenkt gewesen war.
»Wisst Ihr nicht mehr zwischen Spiel und Ernst zu unterscheiden? Zwischen Freund und Feind?«, wollte Kajetan wissen und packte den jungen Mann an der Schulter.
Albrecht befreite sich mit einem Ruck und fragte: »Freund?« Einen Moment wirkte es, als wolle der Grafensohn dazu etwas anmerken, aber dann fuhr er fort: »Stellt Euch nicht so an. Es ist nicht so, als würde er daran verenden – er nicht! Und sagt Ihr nicht immer, dass nur der Schmerz einen Ritter lehrt, Fehler zu vermeiden? Ich habe mehr als einen blauen Fleck, der Eure Weisheit zitiert!«
»Deinetwegen kann ich jetzt in der Kammer hocken!«, fauchte Hagen und trat drohend einen Schritt auf Albrecht zu. Er sah auf den kleineren Gräfinnensohn herab, trotz der Jahre, die sie trennten.
»Das wird dir eine Lehre sein, dich nach Weibern umzuwenden, während ein Mann dir ans Leder will!«, spie Albrecht aus, wich dabei aber zurück.
»Ruhe! Beide!«, rief Kajetan und trat zwischen sie. »Hagen, du ziehst diese Sachen aus, wischst mit ihnen das Blut weg und wickelst sie dann in deinen Mantel. Wenn jemand sieht, wie viel Blut du verloren hast, glaubt uns den einfachen Schnitt niemand. Albrecht, Ihr holt Leinen, damit wir einen Verband vortäuschen können.«
Albrecht schnaubte und verließ wortlos den Raum. Er wusste es besser, als sich offen Kajetans Befehl zu verweigern. Zum einen hatte sein Vater höchstselbst den Ritter aus seinem langjährigen Gefolge abgestellt, zum anderen würde Kajetan Albrecht grün und blau prügeln, wenn er das wagen würde.
Hagen war nicht eben erpicht darauf, sich im eisigen Rittersaal auszuziehen, aber was blieb ihm übrig? Niemand im Schloss durfte erfahren, was Sache war. Wären die beiden Mädchen nicht aufgetaucht, hätte es keine Schwierigkeiten gegeben. Albrecht, Kajetan und einige andere auf der Burg waren längst eingeweiht.
Aber der Rest der Herrschaften und des Gesindes wusste nicht um seine besonderen Fähigkeiten und durfte auch nicht davon erfahren – so wollte es die Tradition.
Also zog Hagen seufzend das blutnasse Hemd vom Oberkörper und ließ es in die rote Lache fallen, die sich mittlerweile bis zum Fenster ausgebreitet hatte und sich dort wie ein hungriger Wolf in den Schnee fraß. Dann zog er die Stiefel aus und überlegte kurz, ob er sich darauf stellen sollte, um nicht mit den nackten Füßen auf den eisigen Boden zu kommen. Aber unter den Augen Kajetans wollte er sich solch eine Schwäche nicht leisten, also biss er die Zähne zusammen und stellte sich auf den frostigen Stein. Dann zog er auch seine Hose aus und warf sie ebenfalls ins Blut. Zuletzt schlüpfte er doch wieder in seine Stiefel – Heldenmut war das eine, Dummheit das andere – und wischte seinen eigenen, dampfenden Lebenssaft mit den Kleidern auf. Strohhalme und Schmutz verunreinigten das Blut, und der metallische, urtümliche Geruch stieg Hagen zu Kopf wie stärkster Branntwein. Sein Herz schlug schneller, und er atmete immer wieder durch die Nase ein … witterte.
»Warum hat er das getan?«, fragte er keuchend, um sich abzulenken.
»Albrecht?«, wollte Kajetan wissen, der mittlerweile auf einer der Bänke saß und am erkalteten gewürzten Wein nippte. »Ich weiß es nicht. Neid?« Er verzog das Gesicht und rührte Honig aus einem Tonkrug in die dunkle Flüssigkeit, die Hagens Blut erschreckend ähnelte.
»Auf mich?«, fragte Hagen, doch er war nicht so überrascht, wie er Kajetan glauben machen wollte. Zwar war Albrecht als einziger Sohn der Erbe und zukünftige Herrscher über Burg Aichelberg, aber trotzdem bevorzugten seine Eltern ihn, Hagen. Er hatte es sich bereits mit sieben Jahren abgewöhnt, die Gräfin Mutter zu nennen – unmittelbar nachdem er erfahren hatte, dass sie ihm nicht das Leben geschenkt hatte. Er war nicht vom Blute der von Neuburg und wollte nicht den Eindruck erwecken, es sich anzumaßen. Gott hatte einem jeden seinen Platz gegeben, und es war nicht am Menschen, diese Ordnung infrage zu stellen.
Und doch hatte selbst Hagen bemerkt, dass Albrecht mit den Dingen, in denen er hervorstach, weder seine Mutter noch seinen selten anwesenden Vater beeindrucken konnte.
Kajetan zuckte nur mit den Schultern und reichte Hagen einen Becher Wein, als er endlich den Großteil des Blutes aufgewischt hatte. Sauber war der Boden nicht, aber zumindest konnte nun niemand mehr abschätzen, wie viel Blut er wirklich verloren hatte. Nachdem er einen großen Schluck genommen hatte, stellte er den Becher wieder auf den Tisch und wickelte die Kleidung in den Mantel. Dann wartete er, mittlerweile schlotternd vor Kälte, auf Albrecht.
Kajetan erhob sich seufzend, musterte ihn kurz und gab Hagen dann seinen eigenen Mantel. »Sonst stirbst du mir noch vor Kälte. Dagegen ist deinesgleichen doch auch nicht gewappnet, oder?«
Hagen schüttelte den Kopf und nahm dankbar den dicken Wollmantel entgegen, um sich darin einzuwickeln. Es tat gut, Leute um sich zu haben, vor denen er sein Erbe nicht verbergen musste. Doch andererseits ist das Wissen darum manchmal auch gefährlich, dachte er, als sich die Tür öffnete und Albrecht mit einigen Streifen sauberen Leinenstoffs in den Händen hereinkam und spöttisch auflachte, weil er Hagen nackt bis auf einen Mantel dort stehen sah.

GEBURTSRECHT
Albrecht stieß, sobald sie in dessen Kammer angekommen waren, Hagens Arm angeekelt von sich, als wäre er ein Pestkranker. Der kleine Raum bot gerade einmal Platz für eine einfache Bettstatt, eine schmucklose Truhe für die Sachen des jüngeren Knappen und einen kleinen Tisch, auf dem sich eine Waschschüssel und Schreibsachen befanden. Erstere nutzte der klobige Haudrauf Albrechts Ansicht nach zu selten, Letztere wohl freiwillig nie.
Seine Kammer passte zu Hagen – eine Kerkerzelle für das Monstrum, das sich die Gräfin hielt.
»Wasch dich«, forderte Kajetan den Jungen auf, der bereits größer war als die meisten ausgewachsenen Männer auf der Burg. Hagen nickte und warf den Mantel ab, wobei seine dunklen Augen hündisch ergeben zu Boden blickten und von seinem wilden schwarzen Haar beinahe verdeckt wurden.
Albrecht wandte sich ab, wollte gehen und frische Kleidung anlegen. Hagens Blut klebte an seinem Arm und hatte das Wams auch an Bauch und Brust befleckt.
»Wo wollt Ihr hin?«, hielt ihn die dröhnende Stimme des Schwertlehrers auf, und die Schärfe darin mahnte Albrecht, dass weiterer Ärger anstand. Also wandte er sich dem Lehrer wieder zu und sah, wie Hagen hinter diesem die Eisschicht auf dem Wasser in der Schüssel mit seinem Dolchknauf aufbrach und dann einen Lappen in das kühle Wasser eintauchte. Als er ihn auf seine Brust drückte, zuckte Hagen zusammen. Wie konnte ein junger Mann, mit fünfzehn Jahren beinahe noch ein Knabe, einen so männlich wirkenden Körper besitzen? Albrecht war zwei Jahre älter, aber sein Körper schien es noch nicht bemerkt zu haben. Die Muskeln ließen auf sich warten, und auch sein Bart würde den Wettstreit mit den dunklen Borsten verlieren, die sich mittlerweile in Hagens Gesicht zeigten.
»Ich gedachte, mich ebenfalls zu reinigen«, antwortete Albrecht ruhig.
»Vorher werdet Ihr Euch für Euren Angriff entschuldigen!«, forderte Kajetan.
Noch einmal durchlebte Albrecht im Geiste diesen triumphalen Moment, in dem er die Unbedachtheit seines Ziehbruders, dessen aufkeimende Lust, genutzt hatte, um ihn zu treffen. Dass der Stoß ihn durchbohrt hatte, war pures Glück gewesen. Eigentlich hätte ihn das Leder abfangen müssen. Der klarere Geist hatte gesiegt, und er sah nicht ein, warum er sich dafür entschuldigen sollte.
»Wird’s bald?«, fuhr Kajetan ihn an, und über die breiten Schultern des Ritters hinweg starrte Hagen auffordernd zu Albrecht hinüber.
»Pflegt Ihr Euch bei denen zu entschuldigen, die Ihr im Kampf erschlagt?«, fragte Albrecht und verfluchte sich dafür, dass seine Stimme trotzig klang.
»Das ist etwas anderes – das geschah im Krieg!«, behauptete Kajetan und setzte hinzu, bevor Albrecht etwas sagen konnte: »Und jetzt entschuldigt Euch, wie es sich für einen angehenden Ritter gehört, oder bei Gott …«
»Kajetan von Gemen«, unterbrach ihn Albrecht, dessen Gesicht trotz der Kälte zu glühen schien. »Gebt mir kein Schwert in die Hand, wenn Ihr nicht ertragen könnt, dass ich es benutze! Es ist nicht meine Schande, dass der Stich saß, es ist seine, dass er ihn nicht parierte!«
»Wie soll man einen solch heimtückischen Angriff abwehren?«, fragte Hagen wütend, aber Albrecht überging den Einwurf, wandte sich ruhig, aber entschieden ab und trat auf den Gang hinaus.
»Euer Vater wird davon erfahren«, drohte Kajetan.
»Soll er!«, rief Albrecht, ohne sich umzudrehen. Vielleicht wusste ja sein Erzeuger zwischen Hinterlist und taktischem Geschick zu unterscheiden! Vorausgesetzt, er geruhte sein geliebtes Graubünden mal wieder zu verlassen und sich hier sehen zu lassen.
Albrecht stieß die Tür hinter sich zu und hörte den einfachen Holzriegel zuschnappen, der dafür sorgte, dass sie im Zugwind der Burg nicht wieder aufschwang.
Die Bewegung war zu hastig gewesen. Sein schmerzender Bauch, der sich gerade erst leidlich vom Schwerttreffer erholt hatte, verkrampfte sich erneut, und Albrecht musste sich stöhnend vornübergebeugt an der Wand abstützen. Wo blieb die göttliche Gerechtigkeit, wenn sein Ziehbruder einen tödlichen Treffer binnen Augenblicken abstreifte wie einen schmutzigen Mantel, er aber noch Tage unter dem stumpfen Hieb leiden musste?
Er kam gerade wieder zu Atem, da hörte er vom abknickenden Gang her schnelle Schritte, raschelnde Gewänder und das leise Klirren einer Kette. Seine Mutter, die Gräfin, näherte sich.
Erst wollte Albrecht sich aufrichten, sie stolz und erhaben grüßen, aber dann beugte er sich wieder vor und stöhnte lauter. Sollte sie einmal sehen, welche Torturen er durchzustehen hatte.
Mit kleinen Schritten trat sie um die Ecke, wie immer züchtig nach Art der deutschen Edeldamen gekleidet mit Haube und langem Rock. Obwohl manch einer sie schön nannte, widerstand sie der Versuchung, ihre Brüste französisch hochzuschnüren und zur Schau zu tragen, wie es so manche ihrer Standesgenossinnen taten. Aber die Sünde der Prunksucht war ihr trotzdem nicht fremd, wie die kostbar verzierten Schmuckkettchen um die schlanke Hüfte und den trotz ihres Alters faltenfreien Hals zeigten.
Als sie Albrecht sah, wurden die Schritte noch schneller, und sie raffte mit einer Hand den Saum des blassgrünen Kleides, um nicht darauf zu treten.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie sofort, ohne Begrüßung, und die aufrichtige Sorge in ihrer Stimme traf Albrecht härter, als es Hagens Schlag getan hatte. Hier stand er, gekrümmt vor Schmerzen, blutbesudelt, und ihre erste Frage galt nicht ihrem Fleisch und Blut, nicht ihm, sondern seinem verdammten Ziehbruder, den sie an Kindes statt aufgenommen hatte. Kindes statt, ja – sie hatten Hagen anstelle Albrechts als Kind angenommen!
Stöhnend richtete er sich auf, stellte sicher, dass sie das Blut auch gut zu Gesicht bekam, und endlich fragte sie, eher verwundert als besorgt: »Du bist auch verletzt, Thumb?«
Thumb … nach seinem Vater, Hans Thumb von Neuburg. Wie er diesen Namen hasste. Er klang nach Dummheit, nach gemeinen, eingebildeten Bauern. Alle auf der Burg nannten ihn Albrecht, nur seine Mutter bestand darauf, ihn Thumb zu rufen.
»Nein, Frau Mutter, es ist nichts«, sagte er. Für einen kurzen, schwachen Moment hatte er sich nach der tröstenden Berührung einer Mutter gesehnt, aber dieser Moment war von ihrer aufrichtigen Sorge um Hagen weggeschwemmt worden. Er würde ihm nicht in trüben Gedanken nachschwimmen.
Ihre schillernd grünen Augen, die schon so manchen durchreisenden Minnesänger zu hochgreifenden Vergleichen getrieben hatten, suchten sein Gesicht ab. Aber die Tage, in denen seine Züge die Gedanken dahinter verraten hatten, lagen weit zurück. Sie waren wie Pergament, konnten mit dem beschrieben werden, was er den Betrachter lesen lassen wollte. Jetzt aber ließ er sie glatt und blank, nicht einmal das Wasserzeichen ihres gemeinsamen Blutes mochte sie darin entdecken, kam er doch so deutlich nach seinem Vater.
Schließlich, als das Schweigen sich dehnte, legte Albrecht ein höfisches, sanftes Lächeln auf und sagte: »Frau Mutter, sorgt Euch nicht um mich.«
Ein erleichtertes Lächeln brach sich in ihrem reifen Gesicht Bahn, nur um gleich wieder zu ersterben, als er fortfuhr: »Warum solltet Ihr ausgerechnet heute damit beginnen?«
Bevor sich seine Mutter wieder gefasst hatte, verneigte er sich kurz und sagte im Abwenden: »Entschuldigt mich, dieser Aufzug ziemt sich nicht, um mit Vater Ignazius Bibelexegese zu betreiben.«
»Albrecht!«, rief ihm die Gräfin streng nach. Albrecht wandte sich ihr wieder zu und fragte, als wisse er nicht, was noch zu klären sei: »Ja, Frau Mutter?«
Stumm sahen sie sich an, Mutter und Sohn, und einmal mehr wurde sich Albrecht bewusst, dass es schon lange nicht mehr das Tadeln einer Mutter war. Diese langen Blicke waren nichts anderes als ein Kräftemessen, das von Tag zu Tag näher an einen versteckten Krieg heranreichte – und es erfreute ihn, dass er immer öfter gewann. So auch heute.
»Du darfst gehen.«
»Danke, Frau Mutter«, sagte er mit dem immer gleichen Lächeln, das jedoch sofort erstarb, als er sich erneut abgewandt hatte. Er bog um die Ecke und hob die Hand, um sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht zu wischen. Doch dann hielt er inne und betrachtete Hagens Blut auf seinem Arm.
»Es sieht aus wie meines«, sagte er nachdenklich. »Und doch …«
Wütend senkte er den Arm und stapfte weiter in Richtung des herrschaftlichen Trakts im Palas. Bald, spätestens mit seinem Ritterschlag, würde er das Sagen auf Burg Aichelberg übernehmen, und dann wäre es vorbei mit der Bevorzugung des Wechselbalgs Hagen von Stein!
Als Albrecht in seine Kammer kam, lag der Geruch verbrannter Kräuter in der Luft. Wenke, seine Vertraute und ehemalige Amme, lag auf der Bettstatt und blickte ihn aus Augen an, die unnatürlich dunkel und tief waren. Die Wärme des kleinen Kohlebeckens, das sie im Winter stetig befüllte, hatte den Raum angenehm aufgeheizt. Im Winter gab es nur drei beheizte Räume. Das Frauenzimmer, zum Abendessen den Rittersaal, in dem es aber heute dank Kajetan auch nicht wirklich warm werden würde, und Albrechts Zimmer. Sicher würde man öfter heizen, wenn nicht der beschwerliche Weg den Hügel hinab und bis zum Wald seit dem Ausbau der Burg vor einigen Jahren noch länger geworden wäre. Kurzsichtig hatte man damals für die Gerüste und die Schmiede Baum um Baum geschlagen und den Wald so immer weiter von der Burg weggetrieben.