Im Namen des Lebens.
Ein Porträt im Gespräch mit Hans Jürgen Schultz

Erich Fromm
(1974b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk

Zuerst als Gespräch im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart am 5. Januar 1974 ausgestrahlt. Aufnahme des Gesprächs 1973 in Zürich. Erstveröffentlichung in gedruckter Form 1974 als Sonderdruck bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart und 1976 unter dem Titel Im Namen des Lebens. Interview mit Hans Jürgen Schultz, in: G. Rein (Hg.), Dienstagsgespräche mit Zeitgenossen, Stuttgart/Berlin (Kreuz Verlag) 1976, S. 95-124. Übernahme 1983 in E. Fromm, Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), S. 110-142. Mit textlichen Verbesserungen durch Rainer Funk 1999 übernommen in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), Band XI, S. 609-630.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 609-630.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1974 by Erich Fromm und Hans Jürgen Schultz; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Schultz: Herr Fromm, wir haben uns eine Unterhaltung vorgenommen, kein Interview, sondern eine Konversation, ein Gespräch ohne Thema, ohne bestimmten Zweck, ohne Vorbereitung übrigens auch – nur so aus Freude am Dialog.[1]

Wenn ich mich nach der Rolle frage, die ich dabei zu spielen habe, so komme ich mir wie ein Leser vor, der einen Autor besucht, dessen Bücher er studiert hat und der nun gern etwas mehr erfahren möchte, als man schwarz auf weiß nach Hause tragen kann. Meine Aktivität heute Abend soll vornehmlich im Zuhören bestehen. Ich möchte Sie, ohne Sie auszufragen, ein wenig zum Reden bringen. Das alles klingt altmodisch, erinnert fast an Salon, obwohl wir uns in einem Studio befinden. In einem Studio unterhält man sich nicht. Hier wird entweder diskutiert oder man macht Unterhaltung, stellt sie her als eine Ware für die Massen, ohne sich zu bekümmern um das Wahre, das das mehr oder minder bewusste Interesse an der Unterhaltung ist, wie wir sie verstehen wollen.

Unterhaltung ist – wie das Wort besagt – eine Haltung, eine Unterhaltung. Man muss sich klein machen können. Obwohl sie ein Spiel ist, ein Spiel des Geistes, darf man sich in ihr nicht aufspielen wollen.

Nach dieser kleinen Vorbemerkung möchte ich Sie, lieber Herr Fromm, fragen, ob das überhaupt zeitgemäß ist, was wir hier miteinander versuchen. Wer – außer einigen wenigen – wird wieder aufleben lassen wollen, was doch offenbar auszusterben im Begriff ist und nun bestenfalls wie eine Antiquität betrachtet wird? Denken Sie an die Kultur des Briefeschreibens; sie geht stillschweigend unter. Ist die Kultur der Unterhaltung noch zu retten? Ich fürchte nein, und ich finde das – gelinde gesagt – schade.

Fromm: Ich finde es sogar außerordentlich schade, und dies umso mehr, als es ja nur ein Symptom eines Defektes unserer Kultur ist, der nicht nur schade, sondern tödlich sein kann. Vielleicht kann ich es einmal so ausdrücken: Mehr und mehr tun wir nur das, was einen Zweck hat, wobei also etwas herauskommt. Es geht um Geld oder Ruhm oder um unsere Beförderung. Wir tun kaum noch etwas, das gar keinen Zweck hat. Der Mensch hat vergessen, dass das möglich, sogar wünschenswert und vor allen Dingen schön ist. Das Schönste im Leben ist, seine eigenen Kräfte zu äußern, und [XI-610] zwar nicht für einen Zweck, sondern um des Aktes selber willen. Die richtig verstandene Liebe hat auch keinen Zweck. Für viele Leute hat sie natürlich einen Zweck! Sie hat entweder den Zweck, zur sexuellen Befriedigung oder zur Heirat zu führen, Kinder zu haben und ein bürgerlich-normales Leben aufzubauen. Das sind die Zwecke der Liebe. Deshalb ist Liebe heute auch sehr selten – die Liebe ohne Zweck, jene Liebe, in der alles, was wichtig ist, der Akt des Liebens selbst ist, wo also das Sein und nicht das Konsumieren die entscheidende Rolle spielt: der Selbstausdruck des Menschen, die Mitteilung seiner eigenen Fähigkeiten. Aber eine so verstandene Liebe geht mit einer bloß auf äußere Ziele, Erfolge, Produktion und Verbrauch gerichteten Kultur wie der unseren einfach weg. Sie geht so weit weg, dass man schon gar nicht mehr ahnt, dass sie möglich ist.

Die Unterhaltung ist entweder eine Ware, oder Menschen unterhalten sich, um sich zu streiten. Sofern sie das noch einem größeren Publikum zeigen können, ist das dann eine Art des modernen Gladiatorenkampfes. Man geht nur aufeinander los, und jeder versucht, den anderen kleinzukriegen. Oder sie unterhalten sich, um zu zeigen, wie gescheit oder wie überlegen sie sind. Oder sie unterhalten sich, um sich zu bestätigen, dass sie wieder mal recht haben. Auf diese Weise sehen sie also, dass das, was sie denken, richtig ist. Sie unterhalten sich mit dem Wunsch, dass sie nichts Neues denken wollen. Sie haben ihre Meinung, und jeder weiß schon, was der andere sagen wird. Sie beweisen sich nur, dass sie beide nicht von der Stelle zu bewegen sind.

Eine wirkliche Unterhaltung ist weder eine Bekehrung noch ein Streit; sie ist ein Austausch. Es kommt gar nicht darauf an, wer Recht hat; es kommt noch nicht einmal darauf an, ob das, was man sagt, außerordentlich belangvoll ist. Es kommt einzig darauf an, dass es echt ist. Um dies mit einem ganz kleinen Beispiel zu verdeutlichen: Nehmen wir an, zwei Berufskollegen von mir, also zwei Psychoanalytiker, gehen nach Hause, und der eine sagt zum anderen: „Ich bin ziemlich müde.“ Der andere sagt daraufhin: „Ich auch.“ Das klingt recht banal, aber das muss es nicht sein. Denn wenn die zwei dasselbe getan haben, wissen sie auch, welche Müdigkeit jeder hat und meint. So machen sie sich eine echte menschliche Mitteilung: „Wir beide sind müde, und wir wissen voneinander, wie müde wir sind.“ Darin ist viel mehr Unterhaltung, als wenn zwei Intellektuelle anfangen, in großen Worten über die letzten Theorien zu diskutieren. Denn diese halten beide nur Monologe, berühren sich aber in Wirklichkeit gar nicht.

Es geht also um eine Unterhaltung im Sinn des Offenseins, des Miteinanderseins, das zumeist ganz einfach in Worten ausgedrückt wird; im Tanzen wird es in der Bewegung geäußert, es gibt viele Formen der Unterhaltung. Diese Kunst der Unterhaltung oder die Freude an der Unterhaltung wird erst wieder möglich sein, wenn ganz große Änderungen in unserer Kultur vor sich gehen, dann nämlich, wenn die einseitig zweckorientierte Art des Lebens überwunden wird. Wir brauchen eine Einstellung, in der der Ausdruck, das Wachstum des menschlichen Lebens zum einzig anerkennenswerten Zweck wird. Schlicht gesagt, kommt es auf das Sein im Gegensatz zum Haben, zum Nur-Benutzen, Nur-Vorwärtslaufen an.

Schultz: Nun haben wir heute viel mehr freie Zeit als früher, mehr Gelegenheit also auch zur Unterhaltung. Aber die äußeren Chancen scheinen sich umgekehrt proportional [XI-611] zu verhalten zur inneren Disposition. Das Miteinandersein, von dem Sie sprechen, wird gestört durch lauter Zwischeninstanzen, durch Geräte, durch Apparate. Es sieht so aus, als hinderte uns eine ganz bestimmte Einstellung, das zu vollziehen, was wir hier „Unterhaltung“ nennen.

Fromm: