Inhaltsverzeichnis
Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds,
der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung
für die Unterstützung bei Arbeit und Reisen
zu diesem Buch.
»Abwurf des Nasenkegels. Ich sehe die Erde! Wie herrlich! Befinden gut, Überbelastung nimmt zu. Sehe Wälder, Wolken.«
Juri Gagarin
I KLEINER FINGER
DIE STRASSE war gerade. Ihre Bewegung lag allein im Auf und Ab, mit dem sie dem hügeligen Verlauf des Landes folgte. Die Straße, Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch eine Brigade von fünfzig Männern und einer von Pferden gezogenen Walze gebaut, hatte an keiner Stelle die natürliche Ordnung der Landschaft verändert. Mit ihren zwei Fahrbahnen zu beiden Seiten eines grasbewachsenen Mittelstreifens folgte sie den flachen Höhen und Senken wie die Spur eines langen, staubgrauen Trecks, die nach dessen Verschwinden für eine Weile unübersehbar bleibt, um allmählich doch zu verwehen und am Ende spurlos aufgehoben zu werden von der Übermacht der Zeit. Die Brigade hatte sich fünf Sommer lang durch die Steppe gearbeitet, hier und dort lagen noch immer wie Seitmoränen die kaum verrotteten Überreste ihres Wirkens, einzelne mannshohe Reifen, pastellfarben verblichene Ölfässer, altes Gerät. Die wenigen Gräber konnten ebensogut jünger sein, sie mochten Reisende bergen, die von der Gleichförmigkeit des Straßenverlaufs übermannt die Fahrbahn verlassen hatten, um unglücklich auf einen der wenigen kümmerlichen Bäume zu treffen. Dort wo, einige Autostunden zurück, die Straßenarbeiten geendet hatten, lag in einem Winkel der Kreuzung noch immer die zurückgelassene Walze, ein staubrotes Relikt von erschreckend geringem Ausmaß, als hätte ein einzelner Gegenstand auf keinen Fall gewichtig genug sein können, um den schon zur Eröffnung als historisch gefeierten Fahrweg zu planieren. Oder als sei selbst eine aus mehreren Tonnen Stahl geschmiedete Walze von der Härte dieser Aufgabe abgenutzt und verbraucht.
Es waren niedrige Erhebungen, über die der Weg führte, in schnellem Wechsel folgte auf jede Senke eine Steigung und ließ nur eine Ahnung von Ausblick zu. Aber die Flanken waren ausreichend steil, um gleich darauf, wenn die Fahrbahn längst wieder hinab zum Grund zu führen begann, den Wagen weiter in die Höhe empor zu beschleunigen und ihn für Momente, für die Dauer eines Herzschlags, zwischen Himmel und Erde zu belassen. Herausgenommen und frei, ohne Anziehung, ohne Gewicht.
Hella konnte nicht aufhören damit. Seit Stunden, seit sie abgebogen war auf diese menschenleere, hingegossene Doppelpiste, drückte sie an jeder Steigung das Gaspedal bis zum Blech des Autobodens durch, bis endlich die Automatik hinunterschaltete, den Motor aufheulen ließ und sie mit einem Schwung über den Scheitelpunkt der Anhöhen sprang, der sie schwindelig machte, eine kontrollierte Übelkeit, daß es in ihrem Bauch hüpfte, als gäbe es da keinen Gurt, keinen Bund und keine Enge. Sie sprach kein Wort, sie sang nicht, sie dachte nicht einmal nach, seit Stunden begnügte sie sich in der allmählich einsetzenden Dunkelheit damit, einen mit nichts als Proviant, etwas Kleidung und einigen Erinnerungsstücken beladenen Kleinwagen an den Rand der Schwerelosigkeit zu jagen.
ÜBER DIE MORGENDÄMMERUNG war sie in einer Weise erleichtert, daß es sie ängstigte. Erneut war sie die ganze Nacht über gefahren, müde und mit dem unablässig wiederholten Gedanken im Kopf, jederzeit anhalten und ein wenig ausruhen zu können. Aber jedesmal hatte sie diese Stimme mißachtet, war wie zur Antwort schneller gefahren, vorgebeugt, mit weit geöffneten Augen, als könne sie der Sehnsucht entkommen, auf panische Art wach, während das Bedürfnis nach Schlaf womöglich irgendwann selbst einnicken würde. Sie hatte es sich nicht eingestanden, aber sie ahnte in diesen Stunden völliger Dunkelheit, daß sie, hätte sie dem Wunsch nach Erholung nachgegeben, nicht hätte sagen können, in welche Richtung sie beim Erwachen in dieser leeren, richtungslosen Weite aufgebrochen wäre. Es wurde ihr viel zu leicht gemacht zu wenden.
Nun kam das Licht zurück, zunächst als blauer Glanz, als Ahnung eines neuen Tages, die mit dem Voranschreiten der Dämmerung immer bestimmter wurde. Als die Büsche auf ihrer Höhe sich noch in letzte Dunkelheit duckten, hatte die Bergkette im Norden allmählich zu leuchten begonnen wie eine rotorange strahlende Warnung vor etwas, das sich in dem Zwielicht um sie herum noch nicht zeigte. Dann war es hell geworden wie ein erster Tag, und in dem Moment, da der oberste Streifen Sonne grell über den Rand der Welt rückte, schloß sie die Augen, geblendet und benommen vor Erleichterung, und fuhr für einige Atemzüge blind weiter in die seit Tagen immergleiche Richtung.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand auf dem Mittelstreifen der Straße eine Kuh. Sie graste. Hella sah es von weitem, fuhr langsamer, erst aus Verwunderung, dann aus Vorsicht, und entschied dann, anzuhalten. Nun war sie froh über eine Unterbrechung. Auf dem Standstreifen rollte sie aus und hielt am Rande der Straße, wo flache, trockene Buschgruppen wuchsen. Ihre Hände brannten vor Kälte oder Erstarrung. Im Rückspiegel sah sie das Tier, das aufschaute. Ein Mann saß dabei. Sie stieg aus, und dort neben dem Wagen war es still und fest, als sei sie an Land zurückgekehrt. Beide sahen zu ihr hin, das Tier und der Mensch, und am Ende war es die Kuh, die als erste den Blick senkte.
Der Mann saß auf dem Boden, auf einem roten, ausgeblichenen Tuch. Das Seil der Kuh hatte er sich um ein Bein geschlungen, neben den beiden lagen ein Stock und mehrere Töpfe, der kleinste denkbare Bauernhof. Der Mann winkte sie heran. Bevor sie sich zu ihm hockte, riß sie einige Halme aus und hielt sie der Kuh auf der flachen Hand hin. Das Tier war mager, unter seinem farblosen Fell standen die Knochen hervor. Mit ruhigem Schnauben hob die Kuh den Kopf zu Hella auf, verharrte für einen Moment vor den Gräsern, um sie dann mit einer gelassenen, feuchten Bewegung ihrer Zunge zu sich zu nehmen. Hella hätte sie gern umarmt. Sie ließ sich nieder und nickte dem Hirten zu. Er hatte ein ockerfarbenes Stück Stoff um den Kopf gebunden, der Rest des Körpers war bis zu den Knien unter einem dunklen, filzigen Umhang verborgen. Die Augen des Mannes standen weit auseinander. Er schaute sie an, und vielleicht lag es am Abstand zwischen seinen Augen, daß Hella der Blick durchdringender erschien, doppelt, aus mehr als einer Richtung. Der Hirte nahm den Deckel von einem der Töpfe, schöpfte mit einem Plastikbecher etwas Milch und hielt ihn ihr hin.
Hella nahm einen Schluck. Die Milch war warm, auch wenn der Eindruck aus der Empfindung ihrer eigenen Kälte täuschen mochte. Sie erschrak über die Stärke des Geschmacks, es kam ihr vor, als sei dagegen jede andere Milch, die sie zuvor getrunken hatte, leblos gewesen, und diese hier auf einmal lebendig. Obwohl wahrscheinlich erst vor Minuten gemolken, hatte sie bereits einen Stich, ein erstes Anzeichen von Gärung. Sie schmeckte nicht einfach säuerlich, hinter dem Sauren verbarg sich ein bitterer Geschmack, der sogleich Bilder aufsteigen ließ von Dingen, die man im Mund zerbiß, obwohl sie nicht dorthin gehörten, von Baumrinde, Blütenblättern oder Moos. Sie merkte, daß dieses Getränk eine schwindelerregend deutlichere Vorstellung von einem Tier auslöste als die große Kuh neben ihr. Und mehr noch: In diesem Geschmack entdeckte sie eine Idee von Erde, die greifbarer war als der Boden, auf dem sie saß. Sie wußte, daß sie, wenn sie den Becher einmal abgesetzt hätte, sich nicht würde überwinden können, einen weiteren Schluck zu nehmen, und stürzte den Rest mit zusammengekniffenen Augen hinunter.
Der Mann sah ihr zu. Er selbst trank nicht, wahrscheinlich hatte er sein Frühstück bereits gehabt. Er winkte in die Richtung, aus der sie kam, ruhig und gleichmäßig, bis Hella verstand und den Namen ihres Landes sagte, wie es ihr einfiel, englisch, spanisch, schwedisch, tschechisch. Sie hätte auch gerne gewinkt. Er ließ die Hand sinken und lächelte sie an, um sich gleich darauf mit einer kleinen Bewegung umzuwenden und nun in die andere Richtung zu deuten, dorthin, wohin sie unterwegs war. Hella lächelte nicht. Station, sagte sie, jetzt auf deutsch, und winkte nun selbst nach vorne, dann sagte sie, Kosmonaut, und klopfte sich an die Brust. Der Mann überlegte einen Moment, dann hob er einen Zweig vom Boden auf, nahm ihn zwischen zwei Finger und stellte ihn aufrecht vor sich auf die Erde. Er sah sie an und löste auch nicht den Blick von ihr, als er den Zweig jetzt langsam aufsteigen ließ, er hob ihn in einer ruhigen Bewegung zwischen ihnen in die Höhe. Hella schaute seiner Hand hinterher, es war ein sehr kleiner, dürrer Zweig. Als er die Höhe seines ausgestreckten Armes erreicht hatte, ließ ihn der Mann für einige Augenblicke dort stehen vor dem leeren, dunkelblauen Himmel, bevor er die Hand wieder auf seinen Schoß legte. Ja, sagte sie in den Himmel hinein und ließ ihren Blick noch da in der Weite, bis sie auf einmal sah, daß er dort ja stand, sie konnte auf ihr Reiseziel ja zeigen. Breit, der Sonne zugewandt, hing er über dem Horizont, ein blasses, unbewegliches Auge, leicht schräg gestellt, das Lid ein wenig geschlossen. Sie wies hinauf. Der Mann sah sie an. Es war nicht zu entscheiden, was er dachte. Dann nickte er. Sie hatten, soweit das möglich war, einander verstanden.
Er gab ihr nichts mit, und sie ließ ihm nichts da, sondern brach auf, wie sie gekommen war. Er fehlte ihr schon beim Abschied. Sie streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie, als habe er noch nie eine Hand genommen, faßte sie mit beiden Händen und drückte sie sich für einen Moment an die Brust, mehr war es nicht. Seit Monaten hatte sie geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, und glaubte es nun nicht mehr.
Beim Losfahren machte sie zum ersten Mal während dieser Reise das Autoradio an und fand auf Kurzwelle einen Sender, der Schubertlieder spielte, zwischen den Stücken redeten ein Mann und eine Frau, wohl über die Musik, es war kaum etwas zu verstehen.
IN KLOV verließ sie die Autobahn, zum ersten Mal seit sie sich auf den Weg gemacht hatte. Sie war zu Hause aufgebrochen wie immer, hatte gezögert, ob sie den Weg durch die Stadt nehmen solle, war dann über die Dörfer gefahren, auf den letzten Kilometern führte die Nebenstraße parallel zur Autobahn durch leuchtend gelbe Rapsfelder, hinter denen hier und da schon die Schilder auftauchten, für Momente die schnelle Folge der Fahrzeuge, zu denen sie noch nicht gehörte, wie auf einem langen, viel zu langsamen Beschleunigungsstreifen, dann hatte sie die kurze Auffahrt erreicht, eigentlich eine Behelfszufahrt für die Autobahnmeisterei, sie hatte sich eingereiht.
Am ersten Tag jagte ihr jede Unterbrechung eine unerklärliche Angst ein. Sie war an Raststätten nur abgefahren, wenn es sich nicht vermeiden ließ, mal zur Ölkontrolle, einmal hatte sich der Auspuff seltsam angehört, meist einfach zum Tanken. Sie war dann sitzen geblieben, von fern hatte sie das Hantieren des Tankwarts vernommen, durch die Karosserie weitergetragen und dumpf verstärkt, eher mit dem ganzen Körper wahrgenommen als nur gehört, wie die durchdringenden Geräusche beim Zahnarzt. Das Schlagen der Klappe, das Knirschen, wenn der Deckel aufgedreht wurde, das harte Rütteln des Stutzens in einzelnen Schlägen, es erinnerte sie ans Ausklappen des Fahrwerks bei einem landenden Flugzeug, ein Geräusch, das hätte beruhigen können und doch erschreckte. Erst am Morgen des zweiten Tages hatte sie auf einmal grundlos die Ausfahrt zu einem Rastplatz genommen. Sie war im Wagen sitzen geblieben, die Hände am Lenkrad, das nun ganz stillstand, auch wenn sie seine Bewegung eine Weile lang noch zu spüren glaubte. Sie hatte die Augen geschlossen. So hatte sie es dann einige Male gemacht, auf Parkplätzen, einmal auch direkt auf dem Seitenstreifen. Mit jedem Halt hatte sie sich weiter von dem entfernt, woher sie kam. All die Stunden, in denen sie einfach fuhr, führten sie nicht so weit fort wie diese Bewegungslosigkeit. Jeder dieser Momente schloß etwas hinter ihr, einen Zugang, bis es am Ende immer unvorstellbarer wurde, umzukehren, immer weitere Türflügel schlugen hinter ihr zu, um nichts in der Welt hätte sie entscheiden können, ob der gedachte Korridor, den all diese Türen offensichtlich bildeten, aus etwas hinaus führte oder in etwas hinein. Am Ende hatte sie jedesmal, noch immer blind, nach dem Zündschlüssel getastet, hatte den Motor gestartet, geblinzelt und war losgefahren, nun wieder wach und sehend, man konnte, so sehr sie es bedauerte, mit geschlossenen Augen nicht Auto fahren.
Natürlich hatte es Freunde gegeben. Zum Abschied war sie bei Karola gewesen, in der Hoffnung auf Verständnis, soweit, das wußte sie selbst, Verständnis möglich war. Und Karola hatte, als alles erzählt war, im Kochen innegehalten und sich zu ihr umgedreht. So war es immer gewesen, bei jeder Entscheidung in ihrem Leben, daß die Freundin als erstes ihre Schürze vom Haken hinter der Tür nahm und begann, jede Zutat, derer sie habhaft werden konnte, zu bearbeiten. Sie legte sie alle vor sich auf die Arbeitsplatte zu einem wilden Mosaik und begann, nachdem alles geputzt und gewaschen, geschält, entbeint, blanchiert, entkernt, gehäutet war, mit dem Schneiden. Das war ein lange währendes, über die Maßen feines Zerkleinern, bis alle Zutaten allmählich ununterscheidbar geworden waren. Wie sie sich tief über ihre Arbeit beugte, schien es, als reiche ihre Aufmerksamkeit nicht über die kleine Fläche des Schneidbrettes hinaus. Aber am Ende, wenn Hella auf dem Stuhl beim Fenster, auf dessen hölzerner Lehne ihre Hände bewegungslos ruhten, damit fertig war, der Küche, sich selbst oder dem Fensterausschnitt des Himmels ihre Geschichte zu erzählen, drehte Karola sich um.
»Also«, hatte sie gesagt, »dann fahr, Tobi hätte es gefallen«, als sei das alles eine Frage gewesen und als lasse sie sich auf diese Weise beantworten. Sie müsse halt vorher ihre Dinge ordnen. Hella war verblüfft gewesen. Was sollte sie ordnen und warum gerade jetzt – erst jetzt oder schon jetzt?
Früher habe jeder, der weiter als bis ins nächste Dorf fahren wolle, sein Testament gemacht, sagte Karola. Und ihre Reise scheine recht weit zu führen.
Das wußte sie selbst. Aber was nützte ein Vermächtnis, wenn es niemanden gab, das Erbe anzutreten? Sie konnte nicht ausgerechnet in dem Moment ihr Testament machen, da keiner mehr bei ihr war. »Das ist es ja«, warf Karola ein. »Man macht sein Testament nicht, um etwas zu hinterlassen.«
»Sondern?«
»Es ist ein Zeichen, daß man bereit ist, fortzubleiben.«
Hella hatte sich in ihrem Stuhl ganz zum Fenster gedreht, sie sah all das, was er nicht mehr sah, die Dächer der gegenüberliegenden Häuser und dahinter alles, was darüber hinausragte, eine Pappelreihe, Kirchtürme, Sendemasten, weiter hinten den Schornstein des Heizkraftwerkes, an dem bei dieser Kälte eine feste, unbewegliche Wolke aus hellem Weiß stand. Und darüber den Himmel, natürlich, der sich schon färbte, auch wenn sie es nicht sehen wollte. Immerzu wies alles nach oben.
ES WURDE FLACHER. Die Bergzüge links und rechts liefen aus, sie fuhr in eine Ebene, die sich in die Ferne zog, so weit man sehen konnte. Kleinste Erhebungen bildeten einen Horizont. Eine zerfallene Hütte im Gelände, eine Fernwärmeleitung, die niedrigen Büsche zu beiden Seiten der Fahrbahn, von denen Hella jetzt merkte, daß es Felder mit Heckenrosen waren, deren kleine, weiße Blüten sich kaum geöffnet hatten. Ihr fiel nicht ein, zu welchem Zweck die Plantagen hätten angelegt sein können. Sie fuhr. Wenn es nicht mehr ging, schaltete sie das Radio ein, versuchte die Lieder mitzusingen oder wiederholte einzelne Wörter und Sätze, die gesagt wurden, in welcher Sprache auch immer. Mittags machte sie halt, es war ein Ort von wenigen hundert Häusern, er hatte sich seit langem angekündigt. Im Näherkommen war eine Nervosität zu spüren gewesen, mehr Vögel, mehr Bremsspuren auf dem Asphalt. Die Zahl der Tüten am Straßenrand hatte sich erhöht, neben denen jetzt manchmal Hunde standen, in ihrer Suche unterbrochen schauten sie zu ihr auf. Später Fahrradfahrer, mit ihren Frauen auf dem Gepäckträger, in farbigen Windjacken, die Stiele der Werkzeuge standen ab, über der Lenkstange hingen Eimer. Hella fuhr über riesige, mit weißer Farbe auf die Fahrbahn gepinselte Buchstaben, Parolen vielleicht oder ein Gruß. Eine andere Färbung der Luft, hier und da Ziegen an einem Pflock. Baumreihen begannen die Straße zu säumen, an den Stämmen hingen Plakate, offenbar Kandidaten für eine Wahl. Von weitem ein glockenförmiger Wasserturm, dann erste Häuser, auf dem Ortsschild ein Name in zwei Sprachen, die sie beide nicht kannte, und als sie im Ort an einem kleinen Brunnen anhielt und nachschaute, konnte sie ihn auf der Karte nicht entdecken.
Sie stieg aus, es war menschenleer. Die meisten der Häuser waren niedrig, manche noch aus Holz gebaut und geschmückt mit wild geschwungenen Schnitzereien, die lange schon verwitterten. Dem Brunnen gegenüber stand ein flaches, graues Steingebäude mit breiter Eingangstreppe, ein Rathaus oder eine Schule, die Fahnenhalter neben der Eingangstür waren leer. Über dem Portal öffnete sich ein rundes Loch, wo früher einmal die Uhr gewesen war. Aus der Mitte ragten zwei Kabel zu den Seiten heraus, ein langes und ein kurzes, sie wiesen auf halb acht, was ungefähr zutreffen mochte.
Zwischen den eng gesetzten Holzhäusern standen vereinzelt Steinbauten, am Ende der Zeile erhob sich ein Hochhaus, die Fassadenplatten strahlten rostrot, überall trocknete Wäsche. Eine der Platten hatte sich gelöst und hing schräg und gefährlich in der Wand, sie fand Halt auf dem darunterliegenden Balkon, dessen Bewohner den Wäscheständer zur Seite hatten rücken müssen. Jedes der Fenster war mit Vorhängen geschmückt. Auf der Wiese neben der Haustür graste ein Esel.
Hella ging zu dem kleinen Spielplatz vor dem Gebäude und setzte sich aufs Ende einer gelben Rutsche. Von weitem meinte sie Musik zu hören. Sie legte sich zurück in die Rutschbahn, bis sie ganz eingefaßt war von den Rändern und nur noch den Himmel sah. Ihn erkannte sie wieder. Er war leer bis auf einen Wolkenstreifen, der sich quer über Hella hinweg spannte, von einem Horizont zum anderen, sie hätte nicht einmal entscheiden können, ob es die Spur eines Flugzeugs war oder ob er ohnehin dort gewesen wäre, von selbst, auch ohne sie alle. Sie legte die Hände auf dem Bauch zusammen und schlief ein.
Eine Stimme weckte sie, und auch als Hella nach einer Weile wieder wußte, wo sie war und was es zu bedeuten hatte, daß sie zwischen lauter bunten Spielgeräten saß, von denen jedes mit einem aufgemalten Mickey-Maus-Gesicht zu ihr herüber lachte, blieb die Herkunft der Stimme ungeklärt. Man hörte, daß sie aus einem Lautsprecher kam, ein beständiger Singsang, den die Übertragung ein wenig verzerrte, immerzu umspielte sie einen einzigen eindringlichen Ton, fordernd oder verlockend. Sie klang wie losgelöst von den Bedingungen eines menschlichen Körpers, der die Spannung doch für Momente verlieren würde, der zumindest einmal hätte Luft holen müssen. Hella mußte sich selbst einen Stoß geben, um wieder einzuatmen. Für einen Moment glaubte sie, es sei ein Muezzin mit seinem Ruf zum Gebet, aber dazu war die Stimme zu süß, zu werbend. Wer immer da sprach, er meinte es nicht wirklich ernst.
Sie rieb sich die Augen und fuhr sich durchs Haar. Dann stand sie auf und ging in die Richtung, aus der die Stimme am ehesten zu kommen schien.
Es begann bereits zu dämmern. Die niedrigen Häuser verbargen sich mit geschlossenen Türen in ihren Schatten, noch flacher jetzt, als hätten sie ihre Dächer verloren. Der Himmel aber war klar, er färbte sich gelb und grün an den Rändern, wie aus Übermut. An den Straßenecken standen Laternen und beleuchteten sich selbst oder die Girlanden ihrer Kabelstränge. Aus einem Hauseingang ergoß sich ein dunkler Schwall Waschwasser, schlug in der Mitte des staubigen Gehsteigs auf und floß auseinander. Vornweg auf seiner Bugwelle schwamm leuchtend hell und weiß der Kranz einer Schaumkrone, dahinter blieb ein Rund aus nassem, stumpfem Schwarz zurück.
Hella kamen Gruppen von Kindern entgegen, die einander müde an den Händen hielten. Sie trugen Ledertäschchen um den Hals, aus denen Plastikrosen, Federn und Zuckerspieße ragten, manche hatten nicht einmal mehr die Deckelschnallen schließen können und hielten ihre Schätze mit der freien Hand zusammen. An Hydranten lehnten Paare, sie rauchten und sahen in den Himmel. Der Gesang wurde lauter.
Das Fest selbst fand am Ortsrand statt, auf einer freien Fläche, die aussah wie ein Parkplatz, aber wahrscheinlich den Markt bildete. Väter hielten ihre geschmückten Kleinkinder auf den Schultern, in den Bögen der Kandelaber, die den Platz umstanden, klammerten sich Jugendliche fest und winkten nach allen Seiten. Frauen beugten sich über ihre Kinderwagen, einige Jungen hatten Getränkeflaschen zum Verkauf vor sich aufgereiht, zwischen den Ständen mit gebratenen Maiskolben, Süßigkeiten und Schmuck fuhren im Schrittempo einzelne Motorroller mit eingeschaltetem Licht.
Es war ein Rosenfest, ein Erntedank der Rosenbauern, deren Felder die Straße gesäumt hatten. Durch die Beine der Menge sah man den von Blütenblättern übersäten Boden, hier und da lagen die dickeren Büschel noch zusammen, in denen die Blüten angeliefert worden waren, als dichte, von Bindfäden umschnürte Packen. Die Blüten bildeten einen weißrosa Grund, der wie eine zähe Flüssigkeit die Strömungen der Menschen nachzeichnete, an den Stellen größerer Bewegung löchrig wurde und sich in den Winkeln der Durchgänge zu mächtigen Polstern verwirbelte. Hella wunderte sich, wie schwach ihr der Geruch erschien, womöglich steckte sie schon zu tief in dem Parfum, um es noch wahrzunehmen, war ihre Nase längst betäubt von der Gegenwart eines Eindrucks, den sie sich nur als eine den Ort überwölbende rosafarbene Wolke vorstellen konnte.
An einem Ende des Platzes stand auf der freien Ladefläche eines Lastwagens ein einzelner Mann und sang. Er war ganz in Weiß gekleidet, in einem weit geschnittenen Anzug, der ihn aussehen ließ wie einen ersten Schlagersänger. Um seinen Hals hing eine Kette aus blassen Rosen, die langen Haare trug er zusammengebunden, er bewegte sich nicht. Seine Stimme drang von den Lautsprechertürmen an den Rändern des Platzes herüber, während aus seiner Richtung kein Laut kam, so daß er unüberhörbar war und gleichzeitig aussah wie stumm. Die Menschen schauten zu ihm hin, viele wiegten sich im Rhythmus seines einförmigen Gesangs, immer wieder kletterte jemand zu ihm hinauf, ein junger Mann, der sich mit absichtsvoller Leichtigkeit über die Kante schwang, Gruppen von Frauen, die einander auf die Bühne halfen, ein Vater hob seine Kinder der Größe nach empor, wo sie von der Mutter in Empfang genommen wurden. Oben stellten sie sich neben den Sänger, manche umarmten ihn, jemand steckte ihm ein paar Münzen zu, sie strahlten einen Punkt in der Menge an, wo Augenblicke später das Blitzlicht eines Fotoapparats anzeigte, daß sie gesehen worden waren und der Abstieg beginnen konnte. Der Mann selbst nahm von alldem keine Notiz.
Er erinnerte Hella an den Kuhhirten, was daran liegen mochte, daß auch er im Vergleich zu den anderen Menschen auf dem Platz ein runderes, helleres Gesicht hatte. Vielleicht wünschte sie sich einfach, daß die beiden einander ähnelten. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie unter dem Turban des Hirten keine Haare hatte ausmachen können.
Auf den Bänken am Rande des Platzes saßen alte Frauen und hatten vor sich auf dem Boden Badezimmerwaagen liegen, und weil niemand das Angebot zu nutzen schien, ließ Hella sich nacheinander bei dreien von ihnen wiegen, mit dreimal unterschiedlichem Ergebnis. Sie wurde mit jedem Mal leichter.
Ein Junge bot an, sie zu fotografieren. Er trug eine Schlange in den Händen, die sich grün und weiß glänzend seine Arme entlang wand, und noch ehe sich Hella seiner erwehren konnte, hatte er sie ihr um den Hals gelegt. Das Tier war glatt und nicht einmal kalt, Hella schüttelte den Kopf, aber der Junge lachte sie an und trat einen Schritt nach hinten wie ein Maler, der sein Werk betrachtet, also hob sie selbst den schweren Leib von ihren Schultern und legte ihn vor sich ab. Erst als sie den Boden berührte, fand die Schlange zum Leben zurück, erzitterte einmal und glitt dann am Rand der Stände zwischen einigen Gerüsten davon. Hella sah im Weitergehen, wie der Junge dem Tier hinterherkroch.
An einem Stand holte sie sich einen Maiskolben, setzte sich auf die Stufen eines Denkmals an der Stirnseite des Platzes und schälte die schwarz verbrannten Blätter mit der Freude eines Kindes ab, das ein Geschenk auspackt. Sie war die erste, die zu Gesicht bekam, was darin steckte, und auch wenn sie geahnt hatte, was es war, machte es sie glücklich, auf die Reihen heller Körner zu stoßen.
Von ihrem Platz aus hatte sie keine Sicht auf das Geschehen auf der Bühne, aber sie sah die hinteren Reihen und die Kinder, die um sie herum tobten, und sie hörte den Gesang. Zwei Frauen lehnten am Fahrerhaus eines Pick-ups, ihre weiß und braun gemusterten Röcke bauschten sich weit, sie trugen dunkelbraune Westen und hatten Stoffkrönchen im Haar. Die eine schien deutlich älter zu sein als die andere, vielleicht waren es Mutter und Tochter. Sie sahen aus wie Mitglieder einer von weither angereisten Tanzgruppe, aber warum sollten sie von anderswoher kommen, und sie tanzten ja nicht. Erst jetzt fiel Hella auf, daß auch einige der Männer eine Art Tracht trugen, die aus einem beigefarbenen Anzug bestand, zu dem eine schmalgefaltete Kappe in der gleichen Farbe gehörte. Auch manche der Jungen waren so gekleidet.
Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie sich hier hätte wohlfühlen können. Es kam ja nicht in Betracht. Noch immer war über die Köpfe der Menge hinweg der Gesang des Mannes zu hören. Hella hatte den abgenagten Maiskolben neben sich gelegt, in seine Blätter gewickelt. Sie hätte noch etwas kaufen können, als Vorwand, um den Aufbruch hinauszuzögern. Hunger hatte sie keinen mehr, aber ein paar Schritte von ihr entfernt stand ein Mann im Schatten einer dichten Traube Ballons, unter der er fast verschwand. Sie waren alle weiß, ein Dach aus stumpfen, weißen Bällen, das den blütenübersäten Boden des Platzes widerzuspiegeln schien. Hella trat zu ihm und zeigte hinauf. Er sah ihrem Finger hinterher in die helle Wolke, griff nach einem der Fäden, löste ihn aus dem Strang der anderen, den er sich um das Handgelenk geschlungen hatte, und reichte ihr den Ballon. Hella hielt, als sie in ihrem Portemonnaie nach einer Münze suchte, den Faden fest umklammert.