Buch
Wer in gut 40 Tötungsfällen vor Gericht verteidigt hat, weiß, was Männer dazu bringt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. In seinem zweiten Buch »Mörder« zeigt Strafverteidiger Veikko Bartel die männliche Seite des Tötens und schildert die sechs spektakulärsten Fälle. Er erzählt mitreißend von den Hintergründen, den seelischen Untiefen und den biografischen Tragödien, die sich hinter den Taten verbergen. Einmal mehr stellt der Autor die Frage nach Gerechtigkeit und beweist mit jeder Geschichte: Kein Krimi ist so spannend wie die Realität.
Autor
Veikko Bartel, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt (DDR), studierte nach der Wiedervereinigung Jura und arbeitete von 1996 bis 2011 als Rechtsanwalt in Potsdam, ab 1998 als Strafverteidiger. Heute ist er Dozent für Steuerrecht. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Veikko Bartel
MÖRDER
Fälle aus der Praxis
eines Strafverteidigers
Vorwort
Der betrogene Finanzbeamte
Der Drücker
Thailand, mon amour
Das Genie
Der Scharfschütze der Fremdenlegion
Der Serienvergewaltiger, der Tod von Frau Meyer und das Gewissen des Verteidigers
Als mich nach ein paar Jahren als Zivilrechtsanwalt die Strafverteidigung einfing, ließ ich mich voll und ganz auf sie ein. Anders geht es auch gar nicht. Strafverteidigung lebt man, oder man lässt es bleiben. Sie ist rücksichtslos, ein Raubtier. Sie verschlingt dich mit Haut und Haaren. Und weil du das, was du tust, liebst, lässt du dich nicht nur bereitwillig, sondern mit Wonne verschlingen, bemerkst nicht, wie sie dich Stück für Stück verdaut.
In dieser außerordentlichen Situation, in welcher Mandanten durch die Mühlen der Strafjustiz gepresst werden, bist du als Verteidiger oftmals der einzige Mensch, der in der Lage ist, dem Staatsanwalt, Richter die Hand vom Schalter zu nehmen, zumindest das Mahlwerk auf eine für den Mandanten noch erträgliche Stufe einzustellen. Du und nur du. Niemand sonst. Du übernimmst Verantwortung für das Lebensschicksal eines Menschen. Du tauchst ein in seine tiefsten Geheimnisse, erweckst schon längst aus gutem Grund vergrabene Erinnerungen zum Leben. Immer auf der Suche nach dem »Warum?«. Immer auf der Suche nach der Wahrheit. Immer bemüht, den Anschein von der Wahrheit zu trennen. Und niemals wirklich wissend, was dich hinter dem Schein erwartet. Es mag hochtrabend klingen, doch Strafverteidigung ist gelebte Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Sie ist die Abfolge, die Aneinanderreihung nie endender Zweifel. Am Fall, am Mandanten, an Zeugen und vor allem an dir selbst.
Sie macht süchtig, ist geprägt von einem hautnah erlebbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Sie verzeiht keinen Fehler. Diese unerbittliche Gnadenlosigkeit lässt dir das Adrenalin im Blut pulsieren. Im Gerichtssaal kann dir niemand helfen. Von einem Augenblick auf den nächsten kann sich die Situation ins Gegenteil umkehren. In Sekundenbruchteilen musst du Entscheidungen treffen, die über Wohl und Wehe deines Mandanten entscheiden, und du musst dabei den Eindruck vermitteln, das und genau das hattest du erwartet, obgleich es deiner Verteidigerstrategie gerade eben den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Strafverteidigung ist Pokern mit dem Schicksal eines Menschen. Und du bist als Verteidiger permanent »All in«.
Strafverteidigung gibt dir unendlich viel zurück. Das Leuchten in den Augen des Mandanten, wenn dieser freigelassen vor die Gefängnismauern tritt, der Anruf eines Kindes oder einer Ehefrau (»Ohne Sie hätte mein Mann – oder mein Vater – das nicht überlebt.«), die Pranke des gerade zu lebenslänglich verurteilten Mandanten auf der Schulter (»Alles gut, machen Sie sich keine Vorwürfe. Auch wenn es nicht geklappt hat. Ich danke Ihnen, in meinem Leben hat noch nie jemand für mich gekämpft.«).
In diesen und vielen anderen Momenten weißt du ein ums andere Mal – genau dafür bist du Strafverteidiger geworden.
Als ich begann, mir in den Gerichtssälen dieses Landes die ersten Sporen zu verdienen, wollte ich nicht nur ein guter Strafverteidiger werden, ich wollte einer DER Strafverteidiger dieses Landes werden. Alle in meiner Familie waren Leistungssportler. Zweiter zu werden, das lag und liegt uns nicht im Blut. »Der Zweite ist der erste Verlierer!« Diesen Satz meines Vaters haben weder ich noch meine Brüder je vergessen. Er hat unser Leben geprägt. Im Positiven wie im Negativen.
Vor ein paar Jahren verschlug es mich als Verteidiger nach Indien. Ich besuchte einen hinduistischen Tempel und traf dort auf einen aus Amerika stammenden Mönch, der mir voller Glück berichtete, hier, in diesem Tempel, habe er endlich zur inneren Ruhe gefunden. Weg von all dem Streben nach beruflichem Erfolg.
Als ich mit diesem Amerikaner durch den Tempel schlenderte und er mir berichtete, wie befreiend es für ihn sei, nicht mehr dem Erfolg hinterherrennen zu müssen, sich einer, seiner inneren Ruhe hingeben zu können, war ich erleichtert, dass mein Englisch nicht ausreichte, um mit ihm über meine Sicht der Dinge sprechen zu können. Nämlich dass das Streben nach Erfolg immer mit Entbehrungen und dem Schließen von mehr oder minder faulen Kompromissen einhergeht und genau das eine wie auch immer geartete innere Ruhe geradezu ausschließt. Der Gedanke an eine innere Ruhe beunruhigt mich indes eher, als dass ich sie als erstrebenswert ansähe. Als Faust die Worte sprach: »Zu diesem Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön«, holte ihn Mephisto. Fausts innere Ruhe bedeutete für ihn den Tod.
Nein, ich will keine innere Ruhe. »… es kann das Werk von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen«, sagt Faust weiter. Er ist frei von Zweifeln über das, was er schuf, frei von Zweifeln darüber, was er noch (hätte) (er)schaffen können. Ich hingegen will die Fähigkeit, zweifeln zu dürfen, zu wollen und zu können, ja zu müssen, nicht irgendeiner »inneren Ruhe« opfern, denn nur die Zweifler, die Spinner, die Fantasten bringen die Welt voran. Gegen die widrigsten Widerstände.
Genau das ist Strafverteidigung.
Die Orte, an denen sich die Dinge ereigneten, die Namen der handelnden Personen sind verfremdet. Die Tatsachen sind es nicht.
Wie ich es schon in den Mörderinnen schrieb: Die grauenhaften Umstände der Taten sind bisweilen nur schwer zu ertragen. Eine dieser Geschichten habe ich dem seinerzeitigen Staatsanwalt geschickt. Sein Kommentar: »Da haben Sie die Geschehnisse aber erheblich entschärft, das Wort ›verniedlicht‹ verwende ich nur des Themas wegen nicht.«