Else Ury: Professors Zwillinge. Alle fünf Bände in einem Buch
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
John Singer Sargent, Conrad und Reine Ormand, 1906
ISBN 978-3-8430-9319-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-3086-1 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-3122-6 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Professors Zwillinge: Bubi und Mädi
Erstdruck: 1923.
Professors Zwillinge in der Waldschule
Erstdruck: 1925/26
Professors Zwillinge in Italien
Erstdruck: 1927
Professors Zwillinge im Sternenhaus
Erstdruck: 1928
Professors Zwillinge: Von der Schulbank ins Leben
Erstdruck: 1929
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Bubi und Mädi sind Zwillinge. Wißt ihr was das ist? Bubi und Mädi wissen es ganz genau, trotzdem sie noch nicht fünf Jahre alt sind. Fragt eine fremde Tante im Park sie, wie alt sie seien, dann sagt Mädi: »An unsern Geburschtag werden wir fünf.« Und Bubi verbessert jedesmal wie ein kleiner Lehrer, trotzdem er auch noch nicht ganz richtig sprechen kann: »Geburtstag heißt es.«
»Ja, Kinder, wann habt ihr denn Geburtstag?« fragt die fremde Tante dann.
»An unserm erschten Devember«, ruft Mädi. Aber Bubi überschreit sie: »An unserm ersten Dovember.«
»Am ersten November, ja, habt ihr denn beide an einem Tage Geburtstag?« fragt dann wohl die fremde Dame verwundert.
Nun sind es Bubi und Mädi, die sich verwundert anschauen, daß eine große Dame noch so dumm sein kann, das nicht zu wissen.
»Aber wir sind doch Schwillinge«, erklärt Mädi stolz, daß sie etwas besser weiß, als eine große Tante.
»Zwillinge heißt es, Mädi«, verbessert Bubi wieder. »Wir haben an einem Tag Geburtstag.«
»Mutti sagt, wir sind gansch gleich alt, darum sind wir Schwillinge«, wiederholt Mädi noch einmal, damit die fremde Tante es auch begreift.
»Zwillinge is ich und mein sein Mädi – aber ich bin viel mehr alt.« Bubi erklärt dies mit ungeheurem Stolz.
Nun lacht die fremde Tante.
»Ja, wenn ihr Zwillinge seid und beide ganz gleich alt, dann kann doch keines von euch älter sein.«
»Is die dumm!« Bubi sagt es mit tiefer Verachtung zu Mädi. »Wenn ich doch aber zwei Stunden eher da gewesen bin und ßon so groß war, wie Mädi noch so klein war, dann muß ich doch viel mehr alt sein, sagt Vati.«
»Ja freilich, wenn du zwei ganze Stunden früher geboren bist als dein Schwesterchen, dann bist du viel älter«, scherzt die fremde Tante. »Nun müßt ihr mir aber auch noch verraten, wie ihr heißt.«
»Das is mein sein Mädi« – »das is mein sein Bubi« – die beiden Kleinen schreien es durcheinander.
Die fremde Dame blickt belustigt auf die reizenden Kinder, die sich mit ihren braunen kurzgeschorenen Köpfchen so ähnlich sehen, wie ein Ei dem andern.
»Bubi und Mädi heißt ihr? Habt ihr denn nicht noch einen anderen Namen?«
»Doch«, sie nicken eifrig. »Mutti sagt mein Seelchen oder auch du Slingel. Und Vati sagt mein Hundetiersen und du Ruppsack.«
Ein anderer Name ist aus den beiden nicht herauszubekommen. Sehr schwer ist es auch, zu behalten, wer eigentlich Mädi und wer Bubi ist. Denn die zwei sehen ganz gleich aus. Ihre dicken braunen Beinchen sind nackt. Sie tragen keine Strümpfe, nur Sandalen. Alle beide stecken sie in grauen Leinenspielhöschen. Die Haare sind bei beiden gleich kurz geschnitten. Freilich, wenn sie von Haus fortgehen, hat Mädi meistens ein rosa oder ein blaues Schleifchen im Haar, das wie ein winziger Pinsel mitten auf dem Köpfchen emporsteht. Aber schon nach wenigen Minuten hat es Reißaus genommen. Meistens steckt das Schleifchen dann in der Tasche von Frau Annchen. Das ist die gute alte Kinderfrau der beiden Kleinen. Oder aber Bubi quält solange, bis Frau Annchen ihm das Schleifchen ins Haar bindet. Denn sein größter Wunsch ist es, auch solch ein Pinselzöpfchen zu haben wie seine Mädi. Ja, dann ist es noch viel schwerer, die beiden kleinen Zwillinge nicht zu verwechseln. Aber wenn man ganz genau hinsieht, dann merkt man, daß eins blaue Augen hat und eins braune. Die lustigen durchtriebenen Blauaugen gehören dem Bubi. Und die ebenso lustigen, aber doch ein wenig schüchterner blickenden Braunaugen der Mädi. So erklärt Frau Annchen den fremden Damen oder Herren, die sich im Park mit den kleinen Zwillingen freuen.
»Ei freilich, haben sie auch noch andere Namen, unsere Kinder.« Frau Annchen ist ordentlich beleidigt. »Der Bubi heißt eigentlich Herbert, und die Mädi heißt Suse. Aber wir rufen sie nur Bubi und Mädi, weil nämlich die Mama von den beiden aus Süddeutschland her ist. Und da sagt man so.«
Frau Annchen ist ungeheuer stolz auf ihre Kinder. Sie strahlt, wenn die Leute Bubi und Mädi »allerliebst« finden. Und sie strahlt noch mehr, wenn man sie für die Großmama der Kinder hält.
Bubi und Mädi können sich dann gar nicht beruhigen vor Lachen: »Aber das is doch keine Omama, das is doch unser Frau Annßen.«
»Unser Frau Annchen is das!« bestätigt Mädi. »Aber Omamas haben wir auch. Schwei Stücks. 'Ne grosche und 'ne kleine.«
»Und die große gehört Bubi seine und die kleine is Mädi seine«, berichtet Bubi zutraulich weiter. »Aber Opapas haben wir man einen. Den müssen ich und mein sein Mädi uns teilen.«
Die großen Leute, die auf der Bank sitzen, lachen alle. Bubi weiß gar nicht, warum sie lachen. Er hat doch gar nichts Lustiges gesagt. Große Leute sind manchmal schrecklich albern und lachen über Dinge, die Kindern ganz ernst sind, findet Bubi.
Bubi will nicht ausgelacht werden. Er hat seinen Stolz, wenn er auch noch solch kleiner Mann ist. Darum zeigt er, daß er noch mehr weiß. »Mein seine große Omama wohnt mit unserm Opapa in Freiburg, das is ganz doll weit weg.«
»Und Mädis kleine Omama is in Berlin, das is gar nich doll weit. Da können Mädi und ihr Bubi immer mit der Puffpuffbahn hinfahren und schwei grosche Stück Kuchen kriegen.« Mädi will nun auch zeigen, daß sie nicht dümmer ist als Bubi.
»Zwei große Stück Kuchen heißt es, Mädi.« Bubi muß in den zwei Stunden, die er früher auf der Welt gewesen ist als sein Zwillingsschwesterchen, entschieden besser sprechen gelernt haben. Er verbessert sie andauernd.
Frau Annchen unterbricht die Auseinandersetzung. »Nun ist genug klug geschnackt. Jetzt nehmt ihr eure Eimerchen und buddelt Sand.«
Bubi und Mädi ziehen mit Eimerchen und ihrer »Schippe« zu dem großen Sandberg in der Mitte des Spielplatzes, auf dem es von Kindern kribbelt wie auf einem Ameisenhaufen.
Frau Annchen erzählt indessen den fremden Leuten, während sie die Nadeln an ihrem Strickzeug klappern läßt, daß sie schon über dreißig Jahre in der Winterschen Familie sei. Daß sie bereits den Vater von Bubi und Mädi, den Herrn Professor Winter, als er noch kleiner gewesen wäre als die beiden Kinder, auf ihren Armen getragen hätte. Ja, ja, das waren noch andere Zeiten, damals in Westpreußen. Aber jetzt sind die Polen da drin, und darum sei die alte Frau Winter, Bubis und Mädis kleine Omama, wie die Kinder sie immer nennen, weil sie kleiner ist als die andere Omama, mit ihr nach Berlin gezogen. Und sie, Frau Annchen, sei nun beim jungen Herrn Professor Kinderfrau geworden, und die lieben Kinderchen seien ja auch so artig. Hier muß Frau Annchen sich unterbrechen, denn sie bemerkt plötzlich zu ihrem Erstaunen, daß ihre lieben Kinderchen durchaus nicht artig sind.
»Bubi, wirst du wohl nicht mit der Sandschippe hauen – aber Mädi, wer wirft denn andere Kinder mit Sand – pfui, wie unartig!« Frau Annchen setzt sich in Trab, um wieder Frieden zu stiften.
»Na, wenn die ollen Kinder immer los mein sein ßönes Fernrohr, das ich und mein sein Mädi bauen, tot trampeln, denn muß ich sie doch doll verkloppen«, ruft Bubi mit blitzenden Augen und schwingt kriegerisch seine Schippe gegen die ängstlich zurückweichenden anderen Kinder.
»Mädi schmeißt ihn die Augen voll Sand, daß sie behaupt nich mehr schukucken können, wenn Bubi und Mädi ihr grosches Fernrohr bauen.« Mädi läßt wiederum einen Sandregen über die kleinen Spielgefährten herniederprasseln.
Da fühlt sie einen derben Klaps auf ihrer Hand.
»Du bist ganz ungezogen, Mädi, Frau Annchen hat dich gar nicht mehr lieb.«
Die braunen Kinderaugen füllen sich mit Tränen. Mädi wirft ihre Sandschippe fort und macht dafür mit der Unterlippe ein weinerliches »Schippchen«.
Bubi schmiegt den braunen Kopf an Frau Annchens weiße Schürze. »Aber mich hat Frau Annchen doll lieb, weil ich gar nich gesmeißt, bloß gehauen habe«, sagte er eifrig.
»Wenn du gehauen hast, ist das genau ebenso häßlich – schämt euch nur alle beide.« Frau Annchen geht wieder zu ihrem Strickzeug zurück.
Bubi und Mädi sehen sich an und schämen sich. Aber weil das auf die Dauer ziemlich langweilig ist, schlingt Bubi tröstend den Arm um Mädi: »Laß man, Mädi, wein man nich, Bubi hat sein Mädi doch doll lieb, wenn sie auch mit Sand smeist.«
Da ist Mädi wieder getröstet. Aber als Frau Annchen nach einem Weilchen zum Frühstück ruft, traut sich Mädi doch noch nicht wie Bubi, der seine Unart längst vergessen hat, auf sie loszustürzen und das weißblau gestreifte Leinenkleid von Frau Annchen, das so schön wie Seide knistert, zärtlich zu zerdrücken. Sie steht mit schuldbewußten Augen abseits und sieht zu, wie Frau Annchen zwei Lätzchen, die Butterbrote, die Milchflasche mit den niedlichen Trinkbechern und zuletzt noch eine Tüte Kirschen aus der gelben Strohtasche auspackt. Die Kirschen veranlassen Mädi, sich ein paar Schritt näher heranzuwagen.
»Bischte noch böse, Frau Annchen?« Ihr kleines Händchen streichelt schüchtern die braunrunzelige Hand der alten Kinderfrau.
»Wenn Mädi wieder artig sein und nie mehr mit Sand schmeißen will, ist Frau Annchen nicht mehr böse.«
»Nie mehr schmeißen«, beteuert Mädi, den Kopf an Frau Annchens Brust versteckend. »Bloß manchmal, wenn mein sein Bubi verhaut wird.« Denn das kann Mädi nicht mit ansehen, daß man ihrem Zwillingsbrüderchen etwas tut. Dann wird das kleine Ding fuchswild, so brav es auch sonst ist.
Und dann lassen sie sich beide die schönen Kirschen schmecken.
»Die Steine in das Papier spucken«, sagt Frau Annchen.
»Um Himmels willen keine hinunterschlucken, denn dann wächst ein Kirschbaum aus dem kleinen Bauch heraus.«
Davor haben Mädi und selbst Bubi große Angst. Jedes Steinchen wird sorgsam in das Papier getan. Wenn aber zwei Kirschen an einem Stengel zusammengewachsen sind, dann ruft Bubi jubelnd: »Das sind Zwillinge wie ich und mein sein Mädi.«
»Kirschenschwillinge sind das.« – Mädi hängt die roten Früchte ihrem Bubi als Ohrringe an jedes Ohr. Bubi tut dasselbe mit Mädis kleinen Ohren. Wenn sie ihr Frühstück aufgegessen haben und das Lätzchen abgebunden, gehen sie wieder zum Sandspielplatz. Und alle Kinder bewundern ihre schönen Kirschenohrringe.
Nun wird weiter an dem großen Fernrohr aus Sand gebaut. Die Kinder, die vorher Bubis und Mädis Fernrohr kaputt getrampelt haben, helfen jetzt. Da ist es kein Wunder, daß es schnell wächst.
»Bis in'n Himmel muß es reichen«, ruft Bubi, »sonst kann man die Sternßen behaupt nich sehen.«
Ein alter Herr, der seinen Spaziergang macht, bleibt stehen und schaut zu.
»Das wird aber ein großer Turm!« sagt er.
»Das is behaupt kein Turm!« Bubi muß sich sehr wundern, daß solch ein alter Herr nicht mal ein Fernrohr von einem Turm unterscheiden kann.
»Na, was soll denn das werden? Eine Puffbahn?« fragt der alte Herr wieder.
»Och, das is behaupt keine Puffbahn, das is doch'n Fernrohr«, kommt jetzt Mädi ihrem Bubi zu Hilfe.
»Was ist das?« Der alte Herr versteht sie nicht.
»Ein Fernrohr – ein ganz großes, bis in'n Himmel.« Bubi schreit, daß die Bäume wackeln vor Schreck. Denn er denkt, der alte Herr hört schwer, weil er schon so alt ist.
»Ein Fernrohr?« Jetzt lacht der Herr. »Ja, Kleiner, weißt du denn überhaupt schon, was ein Fernrohr ist?« Der alte Herr schüttelt verwundert den Kopf.
»Natürliß. Vati hat doch eins.« Bubi ist geradezu in seiner vierjährigen Ehre gekränkt. »So 'ne lange Tute, die reicht bis in'n Himmel. Da kann man, wenn man doll artig ist, durchgucken, und alle Sternßen und alle Engelßen und'n lieben Gott sehen.«
»Auf unsrer Galerie steht das Fernrohr, aber nich anfaschen, sonst beischt's, sagt Vati«, erzählt nun auch Mädi.
Frau Annchen kommt schnell herbei. Das tut sie immer, wenn ein Fremder mit ihren Kindern spricht.
»Seit fünfzig Jahren gehe ich hier in dem Treptower Park spazieren«, sagt der alte Herr zu Frau Annchen, »viele Kinder habe ich beim Sandspiel beobachtet. Sie haben Kuchen gebacken, hohe Berge mit Brücken gebaut, Häuser, Bahnen und Tunnel. Aber daß ein Kind ein Fernrohr baut, das habe ich in den ganzen fünfzig Jahren noch nicht gesehen.«
»Das macht bloß, weil wir so ein großes Ding auf unserer Galerie stehen haben«, erklärt Frau Annchen, »Was nämlich der Vater von unseren Kindern ist, der ist Professor hier an der Treptower Sternwarte, und da studiert er immer die Sterne durch sein langes Rohr. So, Bubi, mach'n Diener, Mädi, mach'n Knicks. Packt eure Sachen zusammen. Wir müssen jetzt nach Haus.«
Frau Annchen wischt ihnen die sandigen Händchen ab. Bubi macht einen Knicks und Mädi einen Diener. Das tun sie immer aus Ulk, weil es ihnen Spaß macht. Aber der alte Herr merkt es gar nicht. Denn sie sehen ja ganz gleich aus.
Dann nimmt Frau Annchen die beiden kleinen Zwillinge an die Hand, und sie gehen durch den Park nach Haus, noch ehe das große Sandfernrohr bis in den Himmel reicht.
»Mutti schu Hause?« Das ist stets die erste Frage, wenn Mädi und Bubi vom Spielplatz heimkommen.
Köchin Minna, welche auf das stürmische Klingeln Bubis schleunigst die Tür öffnet, schüttelt lachend den Kopf. »Nee, ausgeflogen. Aber erst sagt man doch schön guten Tag, Mädi.«
»Guten Tag, Minnachen. Aber nu sag bloß schnell, wo is Mutti hingeflogen. In'n Himmel?« Das kleine Mädchen hängt sich zärtlich an Minnas dicken roten Arm. Denn weiter reicht es nicht.
»Schon möglich«, lacht Minna.
»Mit'n Fernrohr?« Jetzt ist auch Bubi ganz Erwartung.
»Kann schon sein.« Minna lacht noch viel mehr.
»Aber Minna, reden Sie doch den Kindern nicht solche Märchen vor«, sagt Frau Annchen ärgerlich. »Mutti ist in die Stadt gefahren und kauft dort ein.«
Bubi ist eigentlich mit Frau Annchens Erklärung gar nicht einverstanden. Er hätte es entschieden viel schöner gefunden, wenn Mutti mit dem langen Fernrohr in den Himmel geflogen wäre. Vielleicht irrt sich Frau Annchen, und Minna hat doch recht.
Bubi preßt das Näschen gegen die verschlossene Glastür. Die Tür ist stets fest zugeschlossen. Erstens, weil Vatis großes Fernrohr dort steht, an das Kinder nicht herandürfen. Und zweitens, weil Bubi und Mädi von der Galerie herunterfallen können. Besonders der wilde Bubi, der stets klettert.
»Mädi, glaubste, daß Mutti in das Fernrohr eingestiegen is und mit in'n Himmel geflogen?« Er stellt sich das etwa wie eine Fahrt mit der Puffbahn vor.
»Nee«, sagt Mädi, die gerade dem Schaukelpferd guten Tag sagt. »Nee, da geht sie behaupt nich rein.«
»Is doch aber so mächtig lang, bis in'n Himmel.« Bubi ist anderer Meinung.
Mädi ist das Schaukelpferd Bubis bedeutend wichtiger als das Fernrohr. Sie liebt es mehr als ihre Puppen. Es heißt Braunchen und hat einen roten Sattel. Aus dem Park hat sie ihm in ihrem Eimerchen Grasfutter mitgebracht.
»Da, Braunchen, schönes Mittagbrot. Haschte Hunger, Braunchen?« Braunchen nickt mit dem Kopf und läßt sich das Grünfutter schmecken.
»Pferde fressen Heu, Mädi, das ist getrocknetes Gras«, meint Frau Annchen.
»Wart' mal, Braunchen, wir müssen das Gras erscht trocknen.« Mädi holt dem Pferd das Mittagbrot wieder aus dem Maul. »Du – beisch nich!« Sie hängt das Gras auf die Puppenleine zwischen zwei Stühlen, an der bereits ein Paar Puppenhöschen baumeln. Da es herunterfällt, wird es mit kleinen Puppenklammern festgemacht. Nun kann es trocknen und Heu werden.
Frau Annchen lacht, weil man Gras nur in der Sonne trocknen kann, damit es Heu wird und nicht auf der Leine.
Aber Braunchen ist wütend, daß man ihm sein Mittagbrot wieder fortgenommen hat. Es schaukelt vor Ärger hin und her.
»Bischte traurig, Braunchen?« Mitleidig umfängt das kleine Mädchen es mit seinen Armen.
Braunchen nickt.
»Sieh mal, Frau Annchen, wie'sch aussieht! Gansch traurig sieht das arme Braunchen aus! Es weint!«
»Hottepferdchen können nicht weinen.« Bubi fühlt sich wieder als der ältere. Er hat endlich genug überlegt, ob Mutti wohl in das Fernrohr reingegangen ist.
Da Mädi sich mit seinem Schaukelpferd beschäftigt, läuft Bubi zu ihrem Puppenwagen in der anderen Ecke. Dort sind die Puppen noch viel wütender auf Mädi als Braunchen. Wirklich, Mädi kümmert sich nicht viel um ihre Puppenkinder. Sie spielt viel lieber mit Bubis Spielsachen. Sie denkt nicht daran, daß Puppen genau solchen Hunger haben wie Schaukelpferde. Neidisch sehen die Puppen zu, wie Mädi Braunchen jetzt füttert. Denn Mädi findet, daß das Heu schon genug getrocknet sei. Und das Gras gäbe doch solchen guten Puppenspinat. Wenigstens werden die armen Puppen jetzt aus ihrer Ecke hervorgezogen. Bubi ladet sie alle in den Puppenwagen auf. Da liegt Elschen mit der verbeulten Nase, die einarmige Lilli, der lahme Hampelmann, Nauke mit der Pauke, der Filzdackel Fifi und Schnuteken, das weiße Karnickel. Alles durcheinander.
»So, nun kommen wir doch auch ein bißchen ins Freie, Fräulein Lilli«, meint Nauke mit der Pauke frohlockend.
»Ja, wenn Bubi nicht wäre, Mädi ließe uns hungern, dursten und ohne Luft und Licht ersticken.« Lilli ist furchtbar böse auf ihre Puppenmutter. Kein Wunder! Seit zwei Tagen hat sie sich den Arm zerschlagen. Mädi denkt nicht daran, daß sie sich verbluten kann. Wenn Bubi ihr nicht einen Verband aus Zeitungspapier gemacht hätte, wer weiß, ob sie überhaupt noch am Leben wäre.
»Also jetzt fahren wir spazieren, und du kannst in deinem Stall bleiben«, ruft Elschen höhnisch im Vorbeifahren dem Schaukelpferd zu. Braunchen können die Puppen alle nicht leiden. Weil es Mädis Liebling ist und ihnen vorgezogen wird.
Ach, es ist keine große Annehmlichkeit, mit Bubi spazierenzufahren. Über Stock und Stein geht es. Über Fußbänke, Türschwellen, Bausteine und Eisenbahnschienen. Rrrrr – durch die Wohnung.
Rrrrrr – Elschen und Lilli kreischen vor Entsetzen über die wilde Fahrt. Nauke mit der Pauke stöhnt; ihm ist ganz schwindlig. Denn er ist ein alter Hampelmann, schon von Weihnachten her. Fifi blafft wie besessen. Nur Schnuteken quiekt vor Vergnügen. Je wilder, desto schöner!
Rrrrrr – da ist Bubi im Wohnzimmer an das Tischchen gefahren, auf dem die schöne Vase mit Blumen steht.
Klirr – ergießt sich ein Glas-, Wasser- und Blumenregen über die entsetzten Insassen des Puppenwagens. Elschen wird die verbeulte Nase noch mehr verschrammt.
Bubi, der Kutscher, blickt ebenso entsetzt drein wie seine Fahrgäste.
»Paputt!« sagt es hinter ihm. Mädi schaut erschreckt auf das Unheil, das ihr Bubi angerichtet hat.
»Kaputt heißt es«, muß Bubi Mädi noch belehren, trotzdem er sich augenblicklich am liebsten in ein Mausloch verkriechen möchte. Denn schon naht Frau Annchen, Unheil ahnend.
»Na, das ist ja eine nette Bescherung! Laß du man Mutti nach Hause kommen. Die schöne Vase ganz kaputt! Das kommt bloß von dem Toben!« Die gute Kinderfrau ist ernstlich böse. Denn sie hat Bubi schon soundso oft verboten, mit dem Puppenwagen durch sämtliche Zimmer zu rasen.
Bubi meint, das kommt nicht bloß von dem Toben, sondern daher, daß soviel Möbel in den Zimmern herumstehen, an die man leicht gegenfahren kann. Aber er traut es sich nicht zu sagen, weil Frau Annchen böse ist.
Da klingelt es auch noch obendrein. Sicher Mutti! Nein, daß sie auch jetzt gerade kommen muß, wo Frau Annchen noch nicht einmal die Scherben beiseite gebracht und die Überschwemmung aufgewischt hat. Bubi wünscht augenblicklich, daß Mutti wirklich mit dem großen Fernrohr in den Himmel gereist wäre. Da könnte sie doch nicht so schnell zurück.
Nein – es ist nicht Mutti. Bubi und Mädi atmen erleichtert auf. Denn Mädi fühlt sich genau so schuldbewußt wie Bubi. Trotzdem sie doch eigentlich nichts dafür kann. Aber sie ist doch sein Zwilling.
Es ist bloß die Mathilde von der alten, nervösen Dame aus der Parterrewohnung unten. Frau Lehmann – so heißt die alte Dame – ließe um Ruhe bitten. Das sei ja gerade, als ob ein Eisenbahnzug einem über den Kopf fahre. Bei dem Radau könne sie ihr Nachmittagsschläfchen nicht halten. Frau Winter möchte doch dafür sorgen, daß ihre Kinder nicht so lärmen.
Mathilde geht wieder, nachdem sie ihre Botschaft ausgerichtet hat. Dieselbe macht keinen besonderen Eindruck auf Bubi und Mädi. Denn Frau Lehmann schickt mindestens einmal am Tage herauf und läßt um Ruhe bitten. Im Winter, wo Bubi und Mädi mehr zu Hause sind, sogar zweimal. Dafür ist sie eben nervös und alt, meint Bubi, und kann keinen Kinderradau mehr vertragen.
Frau Annchen beseitigt die Scherben. Bubi wird in einen anderen Kittel gesteckt, denn er ist pitschenaß. Die armen Fahrgäste im Puppenwagen umzukleiden, daran denkt weder Mädi noch Bubi. Die können in der Nässe liegen und sich einen Schnupfen holen. Auch Mädi bekommt statt der Spielhöschen ein Kleidchen an. Nun sieht sie wie ein kleines Mädchen aus. Kein Mensch kann sie mehr mit Bubi verwechseln.
Es klingelt zweimal. Bubis Herz macht poch – poch. Sonst pflegen die beiden Kleinen der Mutter jubelnd entgegenzustürzen. Heute bleiben sie in ihrer Kinderstube.
»Komm, Mädi, wir wollen Versteck spielen.« Bubi ist plötzlich verschwunden. Er hält es nicht unbedingt für notwendig, daß man gleich da sein muß, wenn man eine Vase zerschlagen hat.
Schon draußen hört man Muttis liebe Stimme.
»Ei, wo bleiben denn meine beiden Kleinen? Freuen sie sich denn gar nicht mit ihrer Mutti?«
Mädi kann es nicht länger im Kinderzimmer ertragen. Sie läuft hinaus und verbirgt das Gesicht an Muttis hellem Sommerkleid.
»Nanu, Mädi, was hast du denn? Ist was passiert?«
Merkwürdig – Mutteraugen können sofort sehen, wenn irgend etwas los ist.
»Was paschiert«, bestätigt Mädi und da kullern auch schon die Tränchen.
»Warst du unartig im Park?« forscht die Mutter.
»Bloß ein klein bißchen, aber – – –«
»Na, was ist denn sonst noch Schlimmes geschehen, Mädi?« Mutti hebt ihr Gesicht zu sich empor.
Ja, da muß man alles gleich sagen, wenn Mutti einem so in die Augen sieht. Der Kindermund sagt es ganz von allein: »Die grosche Vasche is paputt.«
»Aber Mädi, die schöne Vase hast du zerschlagen? Wie kam denn das bloß? Ihr sollt doch gar nicht in mein Zimmer hinein, wenn ich nicht da bin.«
Mädi schielt zu Mutti hinauf. O weh – sie macht böse Muttiaugen.
»Schäm' dich, Mädi, ich habe dich gar nicht mehr lieb, wenn du so wild und unbändig bist. Du darfst heute nicht zu Tisch kommen. Du wirst in der Kinderstube bei Frau Annchen essen.«
Das ist eine schlimme Strafe. Erst seit ganz kurzer Zeit sind die beiden Kleinen zu dem Mittagstisch der Eltern zugelassen. Weil Vater sonst zu wenig von seinen »Krabben« hat. Bubi und Mädi sind ungeheuer stolz darauf, daß sie jetzt groß sind und mitessen dürfen.
Trotzdem sagt das gute Schwesterchen kein Wort davon, daß Bubi eigentlich der kleine Bösewicht gewesen. Leise weinend schleicht es sich in die Kinderstube zu Braunchen. Mädi ist ja Bubis Zwilling, da ist es ganz gleich, wer die Strafe von beiden bekommt, denkt sie.
Mutti legt ihre Sachen im Schlafzimmer ab. Da schaut ein braunes Kinderbeinchen unter dem Bett vor. Daran hängt Bubi.
»Ei, Bubi, willst du Mutti nicht guten Tag sagen? Was machst du denn da unten?« Der Mutter kommt die Sache verdächtig vor. Hat Bubi etwa auch was angestellt?
»Och, wir spielen man bloß Versteck, mein fein Mädi und ich«, klingt es unter dem Bett hervor. Freilich ein wenig leiser als sonst. Muttiohren hören das sofort.
»Komm nur vor, Bubi, Mädi spielt jetzt nicht mehr. Die ist unartig gewesen. Ich will doch wenigstens ein gutes Kind haben.«
Bubi kommt hervorgekrochen. Viel langsamer, als das sonst seine Art ist. Er sieht durchaus nicht wie ein gutes Kind aus. Wagt es auch nicht, die Arme wie sonst um Muttis Hals zu schlingen. Seine Schuld steht ihm deutlich auf der Stirn geschrieben.
Draußen an der Eingangstür schließt Vaters Schlüssel. »Laß dir die Hände von Frau Annchen waschen und komm zu Tisch, Bubi. Mädi ißt heute in der Kinderstube Mittagbrot.« Mutti geht voran ins Eßzimmer.
Da fühlt sie sich am Kleid zurückgehalten.
»Warum soll mein sein Mädi nich mit Mutti und Vati bei Tiß sitzen?« Bubis laute Jungenstimme klingt gepreßt. Denn er weiß die Antwort im voraus.
»Weil sie Muttis Vase kaputt gemacht hat.«
Einen Augenblick überlegt Bubi noch. Nur einen ganz kleinen. Dann hat die Liebe zu Mädi gesiegt.
»Mädi soll an den großen Tiß gehen. Bubi kann ja in der Kinderstube bei Frau Annßen essen«, schlägt er möglichst harmlos vor.
»Du – Bubi? Nein, du bist doch artig gewesen. Du hast doch die Vase nicht entzwei gemacht.«
Ach, ist das schwer, sein Unrecht einzugestehen.
»Nee, der olle Puppenwagen hat sie kaputt gemacht.« Bubi ist glücklich, daß er die Schuld auf den Puppenwagen abwälzen kann.
»Der Puppenwagen kann doch nicht von selbst in Muttis Wohnzimmer hineinfahren. Mädi muß ihn doch hineingeschoben haben«, sagt Mutti. Sie sieht traurig aus, weil Bubi nicht die Wahrheit sagt. Sie weiß es längst, wer es gewesen ist.
Traurige Muttiaugen – die kann Bubi nicht mitansehen. Dann noch eher böse.
»Muttißen soll nich traurige Augen machen, weil Bubi den Puppenwagen gegen die Vase geßoben hat.« Da ist es heraus.
Ordentlich erleichtert fühlt Bubi plötzlich sein kleines Herz.
»Du warst es, Bubi? Das sagt man der Mutti doch sofort. Damit wartet man doch gar nicht erst so lange und versteckt sich noch obendrein.«
Nein, wirklich, es ist zu merkwürdig, daß Muttis gleich alles wissen.
»Na, wenn du immer böse Muttiaugen machst«, versucht Bubi sich zu verteidigen. Die Tränen würgen ihn im Hals. Aber er schluckt sie herunter, denn er ist ja ein Mann. Männer weinen nicht.
Plötzlich fühlt sich Bubi durch die Luft fliegen. Er sitzt oben auf der Schulter des soeben ins Zimmer getretenen Vaters. Aber er jauchzt nicht wie sonst dabei. Denn die Tränen stecken noch immer in seiner Kehle.
»Na, mein Hundetierchen, wo ist denn Nummer zwei?« Mädi pflegt immer auf Vaters anderer Schulter Platz zu nehmen. Und so ziehen sie stets zusammen zu Tisch.
»Ich bin heut nich Vati sein Hundetierßen, bloß sein Slingel«, flüstert Bubi in plötzlich erwachender Wahrheitsliebe dem Vater ins Ohr.
»Nanu?« Vater zieht die Stirn in Falten. »Was ausgefressen, Bubi?«
»Nee, noch gar niß gefressen. Bloß die olle ßöne Vase kaputt gemacht.«
»Bubi ißt heut in der Kinderstube Mittagbrot, Paul«, sagt Mutti zu Vati. »Mädi darf zu Tisch kommen.«
Aber Mädi kommt nicht. Sie ist Bubis Zwilling und bleibt da, wo ihr Bubi ist. Nein, die läßt ihren Bubi nicht allein. So sitzen sie alle beide an ihrem kleinen Kindertischchen und essen dort ihr Süppchen. Aus dem Puppenwagen aber recken Elschen und Lilli, der Hampelmann, Fifi, Schnuteken und Nauke mit der Pauke schadenfroh die Köpfe: »Etsch – ihr seid noch lange nicht groß.«
Heute können Bubi und Mädi nicht spazierengehen, wenn auch die liebe Sonne scheint. Frau Annchen hat keine Zeit dazu. Sie muß Minna bei der großen Wäsche helfen. Mutti hat einen Geburtstagsbesuch zu machen, zu dem sie die beiden Kleinen nicht mitnehmen kann.
So werden Bubi und Mädi in ihren grauen Spielhöschen mit dem Puppenwagen und dem Ball ins Gärtchen hinuntergeschickt. Dort sollen sie spielen.
Eigentlich gibt es zwei Gärtchen an dem Haus, in dem Bubi und Mädi wohnen. Eins vorn, eins hinten. Das vor dem Haus ist viel schöner, als das andere. Da gibt es Rosenbäumchen und ein Beet mit blauen und gelben Stiefmütterchen. Auch ein niedlicher kleiner Steinzwerg mit einer roten Zipfelmütze sitzt da und hält Wache, daß keiner Blümchen abreißt. Der ist sicher aus Schneewittchen. Mädi hat ihn gleich wiedererkannt.
In das Gärtchen, wo der kleine Zwerg sitzt, dürfen Mädi und Bubi nicht hinein. Der Zwerg würde es ja vielleicht erlauben; denn er sieht Mädi und Bubi immer recht freundlich an, wenn sie ihm zunicken. Aber der Wirt, dem das Gärtchen und auch der Zwerg gehört, der erlaubt das nicht. Den Wirt haben die Kleinen noch nie zu sehen bekommen. Darum denkt Mädi, der liebe Gott sei der Wirt. Aber Bubi weiß es besser. Der weiß, daß der Wirt in Berlin wohnt und nicht im Himmel. Na ja, Bubi ist ja auch zwei Stunden älter als Mädi.
Aber trotz der schönen Blumen und trotz des Zwerges, finden Bubi und Mädi das Gärtchen hinter dem Hause ungleich schöner als das vorn. Es hat zwar bloß struppiges Gras und gar keine Blümchen. Nur ein paar alte rote Ziegelsteine liegen an dem zerbrochenen Zaun. Die haben die Arbeiter liegen gelassen, als sie neulich etwas an dem Hause ausbesserten. Aber man darf in das Gärtchen hinein – und das ist die Hauptsache. Man kann dort auch toben, soviel man will. Wenn nicht etwa die alte nervöse Dame auf der Galerie sitzt. Die »Lehmfrau« nennt Bubi sie. Sie heißt zwar Lehmann. Aber da sie gar keinen Mann mehr hat, muß sie doch die Lehmfrau sein. Meistens sitzt die alte Dame aber vorn auf dem Balkon. Weil da die Sonne wärmer scheint.
Das Gärtchen hinter dem Hause hat auch noch andere Vorzüge. Niedliche Putthühnerchen gibt es da. Freilich laufen sie nicht dort umher. Sonst würden sie durch den zerbrochenen Zaun bald Reißaus nehmen. Sie wohnen hinter einem Drahtgitter und haben immer eine große Freude, wenn Bubi und Mädi ihnen ein bißchen die Zeit vertreiben. Denn bloß immer Eier legen, das ist schließlich langweilig.
Bubi und Mädi sorgen für Abwechslung. Sie füttern die Hühner mit Brotstückchen. Manchmal führen sie sie auch an und werfen ihnen kleine Steinchen hinein. Dann werden die Hühner böse und hacken mit den Schnäbeln nach ihren Fingerchen. Der Hahn aber wird ganz rot im Gesicht und schreit wütend: »Kikeriki!« Das heißt in der Hühnersprache: »So 'ne Frechheit!«
Zeck spielt Bubi ganz besonders gern mit den Hühnern. Allerdings ist er immer derjenige, der dran ist und sie jagt. Er wirft ein großes Stück Holz gegen das Drahtgitter, da bekommen die Hühner einen Schreck und flattern ängstlich auf. Nein, wie freut sich Bubi dann. Mädi aber tun die armen Hühnerchen leid.
Der Herr Verwalter, dem die Hühner gehören, und der beinahe soviel ist wie der Wirt, freut sich auch nicht, wenn Bubi seine Hühner jagt. Er nimmt Bubi bei den Ohren und sagt, wenn er seine Hühner nicht in Ruhe läßt, hänge er ihn mit den Ohren oben an dem Wetterhahn auf.
Der Wetterhahn wohnt hoch oben auf dem Dache. Er kann nicht »Kikeriki« machen, und er hat auch nicht so schöne Federn wie der Hahn unten im Gärtchen. Er ist aus Eisen. Aber er ist viel klüger. Er weiß stets ganz genau, woher der Wind weht. Bubi hat große Angst davor, daß der Herr Verwalter ihn mit den Ohren an den eisernen Wetterhahn hängt. Er jagt die Hühner jetzt nie mehr – wenn der Herr Verwalter zu Hause ist.
Noch etwas Schönes gibt es in dem Gärtchen hinter dem Hause, was das Vordergärtchen trotz all seiner Rosen nicht besitzt. Das ist die große Pumpe. Die quiekt wunderschön, wenn man den Brunnenschwengel in Bewegung setzt. Bubi und Mädi nennen ihn »Anhänger«. Denn sie müssen sich immer alle beide daran anhängen, weil er so schwer zu bewegen ist. Die Pumpe ist die allerbeste Freundin der Kinder im Gärtchen. Sie kann aus ihrem eisernen langen Schnabel so schön mundspülen, wie Bubi und Mädi des Morgens. Und dabei macht sie noch Musik.
Natürlich ist es verboten, am Brunnen zu panschen. Komisch, daß alles, was einem Spaß macht, meistens verboten ist. Darüber wundert sich Bubi oft.
Die beiden Kinder sind auch gehorsam und panschen nicht. Wenigstens vorläufig nicht. Vorläufig bauen sie aus den Ziegelsteinen, die da herumliegen, eine Straße mit einem Haus, in dem ihre kleine Omama wohnen soll. Und weil die kleine Omama kein Gärtchen hat, pflanzt Mädi geschwind aus Gras eins um das Ziegelsteinhäuschen herum. In der Mitte ist ein Weg; da kann die kleine Omama spazierengehen.
Elschen, die kleiner ist als Puppe Lilli, wird als kleine Omama mitten auf den Weg vor das neue Haus gesetzt. Sie ist zwar immer noch ein ganzes Ende größer als ihr neues Häuschen. Aber das macht nichts. Sie kann ja durch den Eingang hineinkriechen. Sie denkt aber gar nicht daran. Sie ist froh, daß sie im warmen Sonnenschein sitzen kann. Denn ihre Sachen sind noch von gestern feucht. Sie hat auch die ganze Nacht gehustet. Hätte Mädi nicht so fest geschlafen, würde sie es bestimmt gehört haben.
Herrn Nauke mit der Pauke ernennt Bubi zum Verwalter des neuen Hauses. Darauf ist Nauke sehr stolz. Natürlich muß das Haus nun auch einen Wetterhahn bekommen. Damit der Herr Verwalter kleine Jungs, welche die Hühner jagen, mit den Ohren daran aufhängen kann. Ein alter verrosteter Nagel, der so freundlich ist, irgendwo herumzuliegen, gibt einen prächtigen Wetterhahn ab.
So – nun ist alles fertig.
»Wir müssen unser Gärtchen begieschen, Bubi. Sieh bloß mal, was für'n groschen Durst das arme Gras hat.« Mädi sieht betrübt auf das ausgeraufte Gras, das in der Tat ziemlich welk aussieht. »Aber wir dürfen ja nicht panschen.«
»Begießt is nich gepanst«, überlegt Bubi. Und dann läuft er auch schon zur Pumpe und hängt sich an den Schwengel. Aber seine Ärmchen sind zu schwach, trotzdem er schon puterrot im Gesicht vor Anstrengung ist.
»Mädi, bitte ßön, komm ßnell mit angehängt. Der olle Anhänger wartet bloß auf dir.«
Die Pumpe möchte Bubi gern sagen, daß es »wartet nur auf dich«, und nicht »auf dir« heißt. Aber da muß sie auch schon Wasser spucken, anstatt zu sprechen. Denn Mädi hängt bereits ebenfalls an ihrem »Anhänger«. Den vereinten Kräften der beiden kleinen Zwillinge kann sie nicht mehr widerstehen.
Plansch – ein silberner Wasserstrahl braust hernieder, zersprüht in viele kleine Tröpfchen und spritzt Bubi und Mädi naß. Das ist die Strafe, weil sie etwas Unerlaubtes tun. Aber die kleinen Zwillinge lachen und jauchzen und merken gar nicht, daß ihre Freundin, die Pumpe, ärgerlich auf sie ist.
Hurra – da liegt eine alte Konservenbüchse. Die hat gewiß die Minna oben oder die Mathilde unten aus dem Küchenfenster geworfen.
»Eine feine Gieschkanne, Bubi!« Mädi hält sie bereits der Pumpe an den langen Schnabel. Die spuckt noch viel ärgerlicher ihr Wasser hinein und macht Mädi von Kopf bis Fuß naß.
»Naß« – sagt Mädi und schüttelt sich. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll.
»Szad' niß, Mädi!« Wenn Bubi meint, daß es nichts schadet, sieht Mädi keinen Grund mehr, zu weinen. Bubi muß es wissen, er ist der ältere.
Über das Gärtchen der kleinen Omama ergießt sich plötzlich ein Sturzbach. Armes Elschen! Eben haben die warmen Sonnenstrahlen es erst ein bißchen getrocknet, und nun sitzt es zitternd da, wie bei einem Wolkenbruch. Hätte ihm Mädi doch bloß das rosa Schirmchen aufgespannt. Na, wenn es sich heute nicht die Lungenentzündung holt, heißt es Mops und nicht Elschen. So denkt die Puppe. Sie schüttelt sich vor Nässe, wie es vorhin Mädi getan.
Bubi ist stets für gründliche Arbeit. Er hat bereits die zweite Gießkanne über das neue Haus herabbrausen lassen.
»Du – die kleine Omama is weggeschwimmt«, ruft Mädi erschreckt.
»Is se ßon versauft?« Bubi betrachtet mit Teilnahme Puppe Elschen, die hilflos auf dem Bauch liegt und alle viere von sich streckt.
Der Herr Verwalter Nauke mit der Pauke macht ein höchst unzufriedenes Gesicht, daß man solche Überschwemmung in dem neuen Hause verursacht. Am liebsten würde er Bubi und Mädi an dem Wetterhahn mit den Ohren anhängen.
In Mädi erwachen jetzt doch Muttergefühle. Sie angelt ihr Kind aus dem Erdschlamm auf. O weh, wie sieht Elschens hübsches rotes Kleid aus. Ganz braunfleckig. Auch die verbeulte Nase ist rabenschwarz von der nassen Erde.
Mädi fängt an zu weinen. Frau Annchen wird gewiß schimpfen.
»Wein' man nich, mein Mädi. Halt se man bloß in die Pumpe rein. Denn wird se ßön sauber!« tröstet Bubi sein Schwesterchen.
»Erlaubt das Frau Annchen?« Mädi kommt die Geschichte doch etwas zweifelhaft vor.
»Die wäßt doch oben«, überredet sie Bubi.
»Und wenn Elschen wieder schön sauber is, denn kann sich Frau Annchen freuen.« Mädi überredet sich jetzt selber.
O Gott, wie zittert die arme Puppe an allen Gliedern. Sie wehrt sich. Sie sträubt sich. Sie strampelt aus Leibeskräften mit Armen und Beinen. Sie ruft Lilli und Fifi, Nauke, Schnuteken und den Hampelmann zu Hilfe.
Vergebens.
»So, mein Elschen, jetscht geht's unter die grosche Brause«, sagt Mädi noch ganz freundlich zu ihr. »Wein man nich – Mutti läscht nich ertrinken. Die macht bloß Spaß.«
Das war doch kein Spaß – das ist bitterböser Ernst! Puppe Elschen vergehen die Sinne unter der eiskalten Brause. Sie wird ohnmächtig und schließt, zum Sterben elend, ihre Klappaugen.
Als sie dieselben wieder öffnen kann, hört sie das jammernde Stimmchen ihrer kleinen Mutti: »Sieh bloß mal, Bubi, das schöne rote Kleid is gansch paputt!«
Daß die arme Puppe kaputt ist, das scheint Mädi weniger zu Herzen zu gehen.
»Kaputt heißt es, Mädi«, verbessert Bubi mit Gemütsruhe.
»Gansch voll Blut, Bubi«, Mädi weint herzbrechend. Sie preßt ihr blutendes Kind an die Brust.
Das rote Blut fließt in Strömen ans Elschens Kleid. Denn dasselbe ist nicht waschecht und geht unter dem Brunnen aus.
»Mädi, du bist auch ganz voll Blut.« Bubi sieht jetzt ebenfalls erschreckt auf Mädis graue Spielhöschen. Natürlich, das nasse Puppenkleid hat bei der innigen Umarmung abgefärbt.
»Au, Frau Annchen wird doll böse sein!« Mädi schielt ängstlich zum Küchenfenster empor. Aber Frau Annchen zeigt sich zum Glück nicht.
»Zieh aus, Mädi, wir wassen die Hößen unter der Pumpe.« Bubi weiß immer eher Rat als Mädi. Er ist ja der ältere.
»Och nee – och nee – nich ausschien – denn blutet es noch döller!« Mädi hat Angst.
»Wird bestimmt ßön sauber. Denn ßimpft Frau Annßen behaupt nich.«
Bubi macht Mädi den Knopf am Spielanzug auf. Nun steht sie in weißen Höschen da.
»Abc – die Katze lief in Snee,
Und als sie wieder raus kam,
Da hat se weiße Hößen an«
lacht Bubi. So singt Mutti immer. Da muß auch Mädi wieder lachen. Und weil das Panschen ein großes Vergnügen ist, sind sie alle beide bald wieder quietschvergnügt. Die Pumpe ist aber nicht quietschvergnügt. Trotzdem sie wunderschön quietscht. Die ist schon ganz heiser vor Wut. Die rote Farbe aus den Spielhöschen hat sie zwar herausgewaschen, denn Mädi hat doll gerubbelt. Aber die beiden Kinder triefen vor Nässe.
»Nu müssen wir die Höschen aufhängen, daß sie trocknen.« Jetzt zeigt sich Mädi, trotzdem sie zwei Stunden später das Licht der Welt erblickt hat als Bubi, doch schon als richtige kleine Hausfrau. »Soll ich mein seine kleine Puppenleine runterholen?«
»Nee – nee – wir hängen die Hößen man bloß hier auf'n Zaun auf«, wehrt Bubi ab. Er hat nämlich jetzt doch Angst, daß Frau Annchen schimpft. »Mein feine Hößen müssen behaupt auch trocknen.« Ehe Mädi es sich versieht, hängen Bubis nasse Spielhöschen ebenfalls an einer Zaunlatte. Als kleiner Hemdenmatz springt er jubelnd im Gärtchen herum.
»Szön molliß, Mädi.«
Natürlich, die liebe Sonne scheint hübsch warm, und das nasse Zeug war kalt am Körper.
Mädi macht alles nach, was Bubi tut. Denn er ist ja ihr Zwilling.
Frau Sonne traut ihren Augen nicht. Da springen doch wirklich jetzt zwei kleine Hemdenmätze in dem Gärtchen herum. Denn auch Mädis weiße Höschen bammeln an einer Zaunlatte. Nein, die liebe Sonne muß sich sehr wundern. Sie mag die ungezogenen Kinder gar nicht mehr wärmen. Rasch kriecht sie hinter eine Wolke.
Aber noch mehr Leute im Gärtchen wundern sich. Vor allem die Pumpe. So lange sie hier steht, hat sie noch nicht so unartige Kinder gesehen. Und wäre sie nicht so heiser von dem vielen Quietschen, sie würde ihnen bestimmt sagen, daß sie sich erkälten können.
Elschen, das arme Kind, kann nur noch leise wimmern. Bubi hat sie mit den Flachshaaren ebenfalls an eine Zaunlatte zum Trocknen gehängt. Au – wie das ziept! Wenn man das nur mal mit ihm so machte.
Der Hahn schreit, so laut er nur kann, sein Kikeriki, um Frau Annchen herbeizurufen. Aber die spült oben die große Wäsche. Nauke schlägt seine Pauke, was das Zeug hält. Vergebens. Der grauhaarige Kopf der guten alten Kinderfrau zeigt sich nicht am Küchenfenster. Die beiden kleinen Hemdenmätze fassen sich an die Händchen und hopsen singend im Kreise herum: »Große Wäsche – kleine Wäsche.«
Dann spielen Bubi und Mädi Ball. Dabei wird man warm, auch wenn die Sonne nicht scheinen will.
»Doll hoch mußte smeißen, Mädi, noch viel döller, bis ans Fernrohr, nee, bis an'n Himmel!« kommandiert Bubi.
Mädi wirft den Ball hoch und immer höher. Aber der Ball hat seinen eigenen Willen. Er tut nicht das, was er soll. Genau wie Bubi und Mädi manchmal.
Hops – plötzlich ist er auf die Galerie der alten Frau Lehmann gesprungen.
Bubi und Mädi sehen sich entsetzt an. Was nun?
»Och – is nich slimm.« Bubi weiß wieder Rat. »Wir bitten man bloß die Manthilde, die gibt'n uns bestimmt wieder.«
»Wenn die alte Lehmfrau den Ball nu aber selber behalten will, weil wir immer so'n Radau machen. Darf sie das?« fragt Mädi zaghaft.
»Nee, darf sie behaupt nich. Is ja unser Ball. Komm, Mädi.« Bubi zieht das Schwesterchen mit sich die Hintertreppe hinauf zum Hochparterregeschoß, wo Frau Lehmann wohnt. Sie denken alle beide nicht daran, daß sie ganz und gar nicht im Besuchsanzug sind.
Bubi klingelt. Und weil die Mathilde nicht gleich hört, läutet er Sturm, wie er's oben bei der Minna zu tun pflegt.
Man hört schlürfende Schritte. Dann wird die Tür geöffnet. Die Kinder machen erschreckte Augen. Denn nicht die Mathilde, sondern die alte Frau Lehmann steht vor den beiden. Sie macht nicht weniger erschreckte Augen als die zwei kleinen Hemdenmätze, die da plötzlich vor ihr auftauchen.
»Ja, was soll denn das heißen, wo habt ihr denn eure Kleider?« ruft Frau Lehmann entrüstet.
Hemdenmatz Bubi macht seinen feinsten Diener. Hemdenmatz Mädi ihren Knicks.
»Naß, gansch naß«, berichtet das kleine Mädchen.
»Ach, liebe Lehmfrau, bitte gib uns doch unsern Ball wieder«, bittet Bubi als älterer.
»Ja, ich habe doch euren Ball nicht.« Frau Lehmann weiß nicht, was sie sich bei diesem merkwürdigen Besuch denken soll.
»Haschte doch, Lehmfrau. Unser Ball is auf dein seine Galerie gehopscht. Gibscht'n uns wieder, ja? Wir wollen auch gansch artig sein und nie mehr lauten Radau machen«, verspricht Mädi treuherzig.
»Bloß leisen Radau«, versichert auch Bubi.
Frau Lehmann weiß nicht, ob sie ärgerlich sein oder lachen soll. Die kleinen Hemdenmätze sind zu putzig.
»Ja, schämt ihr euch denn gar nicht, ohne Kleider zu mir zu kommen«, sagt die alte Dame ernst.
»Nee, mein sein Mädi und ich ßämt sich gar nich«, beteuert Bubi.
»Auf den Tod könnt ihr euch erkälten, Kinder. Macht, daß ihr nach oben kommt. Den Ball schicke ich euch nachher mit Mathilde hinauf.« Die alte nervöse Dame hat vor Schreck Kopfschmerzen bekommen.
»Nee, Frau Annchen wird böse, wenn wir unsern Ball nich haben – – –« meint Mädi ängstlich.
»Ich hol' ihn ßon ganz allein, ich hab' gesehn, wo er hingeflogen is.« Ehe die alte Frau Lehmann weiß, wie ihr geschieht, hat sich Bubi an ihr vorbei durch die Tür gequetscht und läuft in die fremde Wohnung hinein. Mädi natürlich hinterdrein. Wo ihr Bubi ist, muß sie auch sein.
»Aber Kinder – – –« es hilft nichts, die alte Frau Lehmann muß mit ihrem Humpelbein hinter den beiden Hemdenmätzen her.
Wo die Galerie ist, weiß Bubi ganz genau. Ihre Wohnung oben liegt ja genau so. Jetzt steht er draußen, vergißt aber vor lauter Staunen seinen Ball aufzuheben, der ganz gemütlich in einer Ecke liegt.
»Wo ist denn dein sein großes Fernrohr, Lehmfrau?« erkundigt er sich erstaunt. Er denkt, jede Galerie muß ein Fernrohr haben, weil das bei ihnen oben so ist.
»Ein Fernrohr – was soll ich wohl mit einem Fernrohr, Kind?« Frau Lehmann muß über den kleinen, drolligen Kerl lachen, ob sie will oder nicht.
»Da kannschte mit in'n Himmel reisen«, erklärt Mädi ihr.
»In den Himmel – nun, da komm' ich noch früh genug hin. Wenn ich erst mal tot bin.«
»Bischte bald tot?« Mädi schaut die alte Dame teilnehmend an.
»Ja, wenn ihr immer solchen Lärm oben macht, dann werde ich krank und muß sterben«, antwortet diese.
»Der große Maikäfer, den Bubi gefangen hat, is auch gesterbt, weil wir so'n Radau gemacht haben. Und denn is er in den Himmel geflogen.«
Frau Lehmann muß trotz ihrer Kopfschmerzen laut lachen. Die alten Möbel ringsum knarren alle vor Verwunderung. Es ist schon viele Jahre her, daß ihre alte Besitzerin gelacht hat.
»Jakob – wo bist du?« klingt es plötzlich mit schnarrender Stimme aus dem Zimmer.
Mädi steckt neugierig den braunen Kopf zur Tür hinein. Kein Mensch drin zu sehen.
»Da ruft einer, aber is gar keiner schu sehen«, sagt sie ängstlich.
»Jakob – Jakob – wo bist du?« Wieder die schnarrende Stimme.
»Lehmfrau, einer, der gar nich da is, ruft dir immer los Jakob.« Auch Bubi erscheint die Sache höchst verwunderlich.
»Das ist bloß mein Papagei, der Jakob. Jakob, wo bist du?« Frau Lehmann ruft es jetzt selber.
»Hier – hier – hier –« schnarrt es aus dem Zimmer. Vom Schrank kommt es heruntergeflattert. Ein großer bunter Vogel. Er setzt sich auf die Schulter der alten Dame und guckt die Kinder aus runden Äugelchen mißbilligend an. Sicher, weil sie als Hemdenmätze Besuche machen.
Bubi ist begeistert. Mädi weniger. Der Vogel hat einen krummen Schnabel. Am Ende beißt er.
»Jakob, schenk' Küßchen«, sagt Frau Lehmann.
Wirklich, mit seinem krummen Schnabel berührt der Vogel die Lippen der alten Frau.
»Beischt er nich?« erkundigt sich Mädi herzklopfend.
»Mich nicht, weil er mich kennt. Aber wenn ihr ihm mit eurem Finger zu nahe kommen würdet, dann hackt er danach.«
Bubi muß das natürlich sofort probieren. »Au, du – ich mach' doch nur Spaß, Jakob«. Bubi verbeißt das Weinen. Denn der Papagei hat nicht Spaß gemacht, sondern Ernst. Das Fingerchen, nach dem er mit seinem Schnabel gehackt hat, blutet sogar ein bißchen.
»Gansch blutig – nu muß mein sein armer Bubi tot sterben!« Mädi weint bitterlich.
»Aber Kleine, das ist doch nicht so schlimm, das bißchen Blut. Kindergeheul kann ich nicht vertragen. Dann geht nur wieder rauf. Ihr erkältet euch überhaupt.« Frau Lehmann hat nun genug von ihrem Besuch.
Bubi aber noch nicht. Der findet es wunderschön bei der Lehmfrau und ihrem Papagei. Wenn auch der Finger weh tut.
»Haste auch noch'n Mamagei?« fragt er; denn zu einem Papagei gehört doch auch ein Mamagei, findet Bubi.
»Hahaha«, wieder lacht Frau Lehmann. Und der Papagei lacht mit. Nein, ist das ulkig. Der Papagei kann richtig lachen. Er lacht den dummen Bubi aus.
Frau Lehmann humpelt an ein kleines Schränkchen und holt eine Blechbüchse mit Keks heraus.
»Nun muß ich doch meinem kleinen Besuch etwas aufwarten, wenn er auch im Hemdchen zu mir kommt«, sagt sie freundlich.
Mädi nimmt sich mit einem artigen Knicks einen Keks heraus. Bubi gleich zwei. Wahrscheinlich, weil er zwei Stunden älter ist. Aber als Mädi eben hineinbeißen will in den Kuchen, da fliegt auch schon der Jakob herbei.
Weg ist Mädis Keks! Jakob sitzt auf seiner Stange und läßt ihn sich schmecken.
»Der olle Jakob hat mein sein Kuchen gestohlen und aufgefrescht«, weint Mädi.
»Na, deshalb braucht man doch nicht gleich wieder zu heulen. Mein Jakob ißt auch gern Keks. So, Kleine, da hast du einen anderen.« Frau Lehmann öffnet noch einmal ihre Büchse.
»Du bist eine doll gute Lehmfrau«, sagt Mädi dankbar und steckt den ganzen Keks auf einmal in den Mund. Damit ihn Jakob nur nicht wieder fortholt.
»Warum sagt ihr denn bloß immer Lehmfrau zu mir, Kinderchen?« verwundert sich Frau Lehmann.
»Weil du doch gar keinen Mann hast, bloß 'ne Manthilde«, erklärt ihr Bubi.
Nein, so hat Frau Lehmann sich lange nicht amüsiert, wie heute über die drolligen kleinen Zwillinge, die sich so ähnlich sehen wie ein Ei dem andern.
»So, Kinderchen, nun müßt ihr aber wirklich gehen. Sonst erkältet ihr euch in euren Hemdchen und bekommt einen Schnupfen. Und wenn du künftig wieder so laut Kegeln schiebst oben im Kinderzimmer, Bubi, dann denkst du daran, daß die alte Frau Lehmann Kopfweh hat, nicht wahr?« Sie klopft Mädi die Wangen.
»Nee«, sagt Mädi. Denn sie ist ja gar nicht der Bubi.
»Nein? Das ist aber nicht artig, Bubi. Nun, die Mädi denkt sicher dran, wenn sie mal wieder mit ihrem Puppenwagen so wild durch alle Zimmer rollt. Ja, Mädi?«
»Nee«, sagt auch Nummer zwei. Denn Bubi ist ja gar nicht die Mädi.