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© 2016 Hrsg.: Sven Degenhardt, Wiebke Gewinn, Marie-Luise Schütt
Titelbild: Das Foto zeigt vier junge Erwachsene, die eingehakt nebeneinander stehen. Die Gruppe aus zwei Männern und zwei Frauen lächelt freundlich in die Kamera. Eine der Frauen hält ihren Langstock in der linken Hand vor dem Körper. © Nikolauspflege Stuttgart
Rückseite: Das Foto zeigt zwei Hände, deren Finger auf einem Bogen Papier Brailleschrift lesen. © Blindenstudienanstalt Marburg
Mit Beiträgen von: Ulrike Bauer-Murr, Sven Degenhardt, Reiner Delgado, Wiebke Gewinn, Christoph Granrath, Peter Grieb, Ute Hölscher, André Kunnig, Andreas Lehmann, Christiane Möller, Wolfgang Oster, Michael Richter, Marie-Luise Schütt, Fabian Tänzer, Theo Wenker, Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. (Hrsg.)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Print ISBN: 978-3-7412-2968-8
E-Book ISBN: 978-3-7412-3029-5
Es scheint keinen Zweifel mehr zu geben: die bundesdeutsche Bildungslandschaft macht sich in all ihren Phasen auf, eine inklusive zu werden. Übertreibungen und Zuspitzungen der „ersten Stunde“, wie die sofortige und vollständige Auflösung von segregierenden Bildungseinrichtungen oder der sonderpädagogischen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen an den Universitäten und Hochschulen, scheinen sich zu legen. Der Sprachgebrauch in Medien, in politischen und fachlichen Debatten hat seinen Wechsel von integrativ auf inklusiv fast vollständig vollzogen. Die Einstellungen und Überzeugungen aller Beteiligten von Bildungsangeboten sind als Ziel geballter Bemühungen ausgemacht. Forschungs- und Lehrprojekte zur Einbindung inklusiver Perspektiven in die allgemeine Lehrerbildung sind ausgeschrieben und bundesweit angelaufen.
Dennoch: Es bleibt Skepsis, es werden Sorgen geteilt und das Scheitern des Projektes Inklusion prophezeit. Werden die inklusiven (oder als inklusiv bezeichneten) Bildungsangebote den individuellen Bedürfnissen der Lernenden wirklich gerecht? Sind die Chancen, an Bildungsangeboten teilzuhaben, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Blindheit und Sehbehinderung in den unterschiedlichen Settings überhaupt vergleichbar und wie ist die Qualität dieser Angebote?
Im Rahmen der abschließenden Bemerkungen über den Ersten Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung dann auch folgende Empfehlungen festgehalten:
„Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat,
(a) umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Zielvorgaben zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen, einschließlich der notwendigen Finanzmittel und des erforderlichen Personals auf allen Ebenen; […]
(c) dafür Sorge zu tragen, dass auf allen Bildungsebenen angemessene Vorkehrungen bereitgestellt werden und vor Gericht rechtlich durchsetzbar und einklagbar sind;
(d) die Schulung aller Lehrkräfte auf dem Gebiet der inklusiven Bildung sowie die erhöhte Barrierefreiheit des schulischen Umfelds, der Schulmaterialien und der Lehrpläne und die Bereitstellung von Gebärdensprache in den regulären Bildungseinrichtungen, einschließlich für Postdoktoranden, sicherzustellen“ (Ausschuss 2015, 8f.).
Aber, was ist ein qualitativ hochwertiges, inklusives Bildungssystem für blinde und sehbehinderte Menschen? Welchen Umfang, welchen Charakter haben die angemessenen Vorkehrungen, die auf allen Bildungsebenen einklagbar sein sollen? Ab wann sind bereitgestellte Finanzmittel die notwendigen und in welcher Quantität wird das Kriterium des erforderlichen Personals erfüllt? Welche Qualität soll in den geforderten Schulungen aller Lehrkräfte erreicht werden? Welche Inhalte sollen vermittelt werden und welche Kompetenzen angestrebt?
Für die Beantwortung, oder zumindest das Bearbeiten, dieser Fragen wird es viele Wege geben, es werden unterschiedliche Professionen zu beteiligen sein und es wird – welches Ergebnis auch als Arbeitshypothese festgehalten wird – immer vehemente Gegenrede zu erwarten sein. Eines ist jedoch im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und angesichts einer langen Tradition unverzichtbar: die Zusammenarbeit der Selbsthilfe und des Fachverbandes, das Zusammenführen fachlicher Expertise und biographischer Zugänge. Gleichsam ist das Miteinander theoretischer (blinden- und sehbehindertenpädagogischer, sonderpädagogischer, allgemeinpädagogischer, berufspädagogischer und rehabilitationswissenschaftlicher, … ) Zugänge und reflektierter Erfahrungen aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern vonnöten.
Es bestehen starke Traditionslinien in den Debatten um blinden- und sehbehindertenspezifische Standards. Diese betrafen und betreffen sowohl den Bereich einer guten, zeitgemäßen und den Kindern und Jugendlichen gerecht werdende Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im schulischen Rahmen als auch den Übergang Schule-Beruf. Eine bestmögliche berufliche Bildung ist unbestritten Voraussetzung für den Start in ein erfolgreiches und erfülltes (Arbeits-)Leben. In diesem Sinne wurde und wird auch die Qualität der beruflichen Rehabilitation für Menschen im berufsfähigen Alter im Kontext der blinden- und sehbehindertenspezifischen Standards fokussiert. Dieser Tradition verpflichtet, hat sich der Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. (VBS) entschieden, die Idee eines Instrumentes aufzugreifen, welches in mehreren Ländern bereits seit Jahren die anstehenden Debatten zu fokussieren hilft: das Expanded Core Curriculum. Darüber hinaus bietet sich die von der WHO vorgestellte International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) als leistungsfähiges Instrument zur Beschreibung der relevanten Umgebungsfaktoren an. Seit dem Jahr 2010 wurden in diesem Sinne drei Spezifische Curricula entworfen, schriftlich vorgelegt, breit diskutiert und in den unterschiedlichen Handlungsfeldern zum Teil implementiert.
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Es ist das Ziel der vorliegenden Publikation, die drei Spezifischen Curricula
erstmals gemeinsam der interessierten Fachöffentlichkeit vorzulegen. Ergänzt werden die Texte zu den Spezifischen Curricula für die Handlungsfelder Schule, Übergang von der Schule in den Beruf und Berufliche Rehabilitation durch Aufsätze, die illustrieren, kommentieren, unterstützen, anfragen, hinterfragen und ergänzen möchten. Der partizipative Charakter der Erstellung und Implementierung der drei Spezifischen Curricula soll ebenso zum Tragen kommen wie das Weiterführen einiger Gedankengänge, z. B. hinsichtlich der o. g. notwendigen Finanzmittel und des erforderlichen Personals.
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert.
Im ersten Kapitel sollen ausgewählte Zugänge und Verortungen skizziert werden. So verweist Ute Hölscher auf die Traditionslinie des Expanded Core Curriculum und Sven Degenhardt zeigt mögliche Verbindunglinien zu curricularen Vorgaben auf. Die Parallelitäten zwischen dem Spezifischen Curriculum Schule und der von ihr entworfenen E-Learning-Plattform MIT BISS stellt Marie-Luise Schütt vor und umreißt damit eine der möglichen Entwicklungslinien für die Zukunft. Eine zweite mögliche Aufgabenstellung für die nahe Zukunft ist das Zusammenführen der Spezifischen Curricula mit den Fachcurricula, den Bildungsstandards, den Qualitätsstandards der beruflichen Bildung und Rehabilitation etc. Exemplarisch thematisiert Wiebke Gewinn eine mögliche Denkrichtung – die Erstellung individueller Bildungspläne. Aus der Sicht der Selbsthilfe verweist der Beitrag von Reiner Delgado ausdrücklich auf die menschenrechtliche Dimension von Bildungsstandards.
Das zweite Kapitel fasst erste Erfahrungsberichte zur Verwendung der Spezifischen Curricula zusammen. Sven Degenhardt stellt Ergebnisse einer Erhebung im schulischen Handlungsfeld vor; ergänzt werden diese Daten durch kurze Berichte aus den Handlungsfeldern Schule (Fabian Tänzer), Übergang von der Schule in den Beruf (Ulrike Bauer-Murr und Theo Wenker) und Berufliche Rehabilitation (Christoph Granrath, Peter Grieb, André Kunnig und Wolfgang Oster). Insbesondere das Spezifische Curriculum für blinde und sehbehinderte Jugendliche und junge Erwachsene im Übergang von der Schule in den Beruf hat den Integrationsfachdienst Würzburg angeregt, eine Checkliste „Teilhabeplan Sehbehinderung“ zu entwerfen, die die Spezifik der Zielgruppe zu erfassen hilft; Andreas Lehmann gewährt einen exemplarischen Einblick. Erste Erfahrungen in der Verwendung des Spezifischen Curriculums im Rahmen des Kernpraktikums im Lehramtsstudium (M.Ed.) im Förderschwerpunkt Sehen an der Universität Hamburg fasst der Text von Marie-Luise Schütt und Wiebke Gewinn zusammen.
Dem Themenfeld der (möglichen) finanziellen Konsequenzen der Umsetzung der Standards durch die Verwendung der Spezifischen Curricula wendet sich das dritte Kapitel zu. Dafür führt der Text von Christiane Möller in die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen an Bildung und Arbeit ein und Michael Richter umreißt die grundsätzliche Rechtslage bezüglich der Ansprüche auf Hilfen zum angemessenen Schulbesuch. Die Irrtümer und Visionen, die mit der Frage „Was kostet die inklusive Beschulung einer Schülerin, eines Schülers mit Blindheit und Sehbehinderung?“ verbunden sein könnten, trägt Sven Degenhardt in seinem Text zusammen und versucht eine Annäherung an die Beantwortung dieser Frage durch das Beschreiben und Begründen von Kostenkorridoren.
Das vierte Kapitel ist den drei Spezifischen Curricula aus den Handlungsfeldern Schule, Übergang von der Schule in den Beruf und Berufliche Rehabilitation vorbehalten.
Daran anschließend sind die in den Texten und den Spezifischen Curricula genutzten Quellen sowie weiterführende Literaturempfehlungen zusammengestellt.
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber haben sich entschieden, das Buch in Papierfassung und als E-Book zu veröffentlichen. Die beschreibenden Alternativtexte für die Abbildungen und Tabellen werden, da die aktuellen E-Book-Formate andere Lösungen schwer zulassen, in einem eigenen Abschnitt am Ende beider Fassungen des Buches zusammengefasst.
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An wen richten sich das Buch und die vorgestellten Spezifischen Curricula? An alle Fachkräfte und Entscheidungsträger, die in den jeweiligen Handlungsfeldern an der Gestaltung der Teilhabe von blinden und sehbehinderten Menschen an Bildungsprozessen beteiligt sind, an das Netzwerk aus nationalen und internationalen Fachverbänden und Organisationen der Selbsthilfe, an die Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher und an die blinden und sehbehinderten Lernenden, die in beruflichen Bildungsprozessen und der beruflichen Rehabilitation eingebunden sind.
Es werden sich also – so hoffen die Herausgeberinnen und der Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren – Leserinnen und Leser finden, die einerseits mit bereits ausgeprägter fachlicher Expertise und / oder biografischen Bezügen an die Texte und die Spezifischen Curricula herantreten. Anderseits sind „Erstkontakte“ mit dem Feld der Bildungsprozesse von blinden und sehbehinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ausdrücklich gewünscht. Eine Spanne an Erwartungen, der man kaum gerecht werden kann. Dennoch hoffen alle Beteiligten Türen öffnen und bereits beschrittene Wege begleiten zu können.
Dieser Idee und dem Charakter des Gegenstandes folgend, versteht sich das Buch nicht als Fach- oder Lehrbuch mit langer „Laufzeit“ sondern als Momentaufnahme, als Zwischenfazit, als Handbuch und Arbeitsmaterial zugleich. Verbunden mit der Veröffentlichung ist der Aufruf an die Fachöffentlichkeit, den eingeschlagenen Weg der partizipativen Erstellung und Implementierung weiter zu gehen und im Sinne evaluativer Prozesse an der Überarbeitung, dem Ausbau und der Neufassung etc. mitzuwirken.
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Die Herausgeberinnen und der Herausgeber bedanken sich
Sven Degenhardt, Wiebke Gewinn und Marie-Luise Schütt
Hamburg im Juni 2016
Was Inklusion in ihrer ganzen Komplexität für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung bedeuten kann und bedeuten muss, ist die übergeordnete Fragestellung, die uns als Fachverband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS) bewegt. Wir wollen all jenen Orientierung bieten, die einen Arbeitsauftrag im Bereich der Bildung und Erziehung blinder und sehbehinderter Kinder, Jugendlicher oder Erwachsener haben und sich in diesem Kontext für Chancengerechtigkeit und gute Standards einsetzen.
Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Veröffentlichung, die sich sehr differenziert mit der Frage der notwendigen Curricula und dem Wert von Standards auseinandersetzt, von hoher Bedeutung für alle Akteure in der Bildungsforschung und der Lehre an Schulen und Hochschulen. Dass sie nicht nur auf hohem Niveau an die Fachwelt adressiert, sondern mit Erfahrungsberichten aus der Praxis, mit der Perspektive der Selbsthilfe und einem Kapitel zu den finanzpolitischen und rechtlichen Hintergründen viel weiter ausgreift, macht das Buch zu einem umfassenden Kompendium auf der Höhe unserer Zeit für Experten und alle Interessierten im Umfeld des Themas Blinden- und Sehbehindertenpädagogik.
Die Arbeit, all dies zusammenzutragen, angefangen von der richtigen Auswahl, über die Gliederung und Bearbeitung der einzelnen Beiträge bis zu den Quellennachweisen und der Zusammenstellung weiterführender Literaturempfehlungen, ist ein Arbeitsaufwand, der ein enormes Engagement und viel Durchhaltevermögen verlangt. Unser Dank als VBS gilt den Herausgebern und all denjenigen, die an diesem neuen Wegweiser in Sachen Inklusion für blinde und sehbehinderte Menschen mitgewirkt haben.
Dieter Feser, 1. Vorsitzender des VBS, Stuttgart im Juni 2016
Gelebte Bildungsstandards sind eine Frage der Menschenrechte. Als Präsidentin einer Selbsthilfeorganisation ist mir die Perspektive der Lernenden im Bildungssystem besonders wichtig. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass alle Menschenrechte – auch dasjenige auf Bildung – für alle Menschen gilt, auch wenn sie eine Behinderung haben. Ein blindes oder sehbehindertes Kind will in die Schule gehen wie alle anderen Kinder, will sich gut orientiert für einen Beruf entscheiden und wenn im Lauf des Arbeitslebens eine Sehbehinderung eintritt, fragen Betroffene nicht nach Rahmenbedingungen, Gesetzen und Ressourcen, sondern nach konkreter Unterstützung.
Mit fundierten Standards ist es nicht mehr beliebig, wie Bildung für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten wird. Lehrkräfte, Schulen, Hochschulen und Politik haben mit den vorliegenden Standards die Grundlage, das umzusetzen, was das Recht auf Bildung bedeutet.
Daher freue ich mich über diese Veröffentlichung und hoffe, dass damit künftig mehr hochwertige Bildung bei allen ankommt, wie viel sie auch sehen mögen.
Renate Reymann, Präsidentin des Deutschen Blinden- und
Sehbehindertenverbandes e. V., Berlin im Juni 2016
„Aber woran sollte man sonst lernen, wenn nicht an der Vergangenheit?” (Walthes 2003, 171). Um den Ursprung des Spezifischen Curriculums zu verstehen und zu verorten, ist es aufschlussreich, in die Geschichte einzutauchen. Diese beginnt mit der Blindenbildung in Europa, zeichnet sich aber durch eine richtungweisende Entwicklung in den USA aus.
Frühe Geschichte der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in den USA
Viele wichtige Begebenheiten haben die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in den USA schon vor 1900 beeinflusst. Ihre Programme basieren auf dem Modell von Haüy, der in Frankreich 1784 die erste Internatsschule gründete (vgl. Hatlen 2000). Nachdem Howe in Europa verschiedene Einrichtungen besuchte, gründete er 1829 die erste Blindenschule in den USA, das New England Asylum for the Blind in Boston (später Perkins School for the Blind). Gemeinsam mit der New York Institution for the Education of the Blind, 1931 (später New York Institute for Special Education), und dem Pennsylvania Institution for the Instruction of the Blind in Philadelphia, 1932 (später Overbrook School for the Blind), präsentierten sich diese drei ersten (privaten) Einrichtungen als Pioniere für die nachfolgenden Erziehungs- und Bildungsprogramme für junge Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung. Die Existenz europäischer Internatsschulen und der Trend, Kinder sozial höher gestellter Familien im frühen 19. Jahrhundert in diesen aufwachsen zu lassen, ließ es in den USA logisch und wünschenswert erscheinen, auch dort Blindenschulen als Internatsschulen zu gründen.
Howe kam mit Erkenntnissen aus Europa zurück, die das damalige Schulsystem für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung in den USA beeinflussten, nachdem diese bis dahin kaum Bildung erwarben und keine Schulprogramme für sie vorgehalten wurden. Zusammengefasst hielten folgende Neuerungen Einzug in die Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in den USA:
Howe trat damals auch schon als starker Befürworter für die Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in öffentlichen Schulen auf und setzte sich dafür ein, diese gemeinsam mit Sehenden zu unterrichten. Aus geographischen Gründen erkannte er jedoch das Erfordernis der Internatsschulen, da es auf regionaler Ebene nicht ausreichend ausgebildete Lehrkräfte der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik gab.
Bishop (1997) führte in einer geschichtlichen Übersicht auf der 10th ICEVI World Conference aus, dass Inklusion ein neuer Name für eine alte Praxis sei. 1806 sprach sich schon Klein dafür aus, blinde Kinder neben Sehenden in Regelschulen zu beschulen (vgl. u. a. Koestler 1976; Farrell 1956). Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Schottland blinde Schülerinnen und Schüler in Klassen mit sehenden Schülerinnen und Schülern und bis 1878 hatte sich diese Idee in anderen Ländern verbreitet (vgl. Farrell 1956). 1879 unterstützten zwölf blinde Lehrkräfte 200 blinde Schülerinnen und Schüler in öffentlichen Schulen Londons (vgl. Bledsoe 1993). Es sei keine neue Idee, im Bildungsbereich, an Arbeitsplätzen und bei Freizeitaktivitäten blinde und sehbehinderte junge Menschen neben nicht behinderten jungen Menschen zu platzieren.
Bishop warf bei ihrer geschichtlichen Betrachtung eine interessante Fragestellung auf: Wenn Inklusion schon zu der Zeit stattgefunden hat, warum ist dann diese Philosophie in Europa nachfolgend mehr und mehr verschwunden? Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden in vielen europäischen Ländern Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung überwiegend an Internatsschulen beschult. Offizielle Gründe waren, es gäbe nicht genügend Schülerinnen und Schüler, die ein spezielles Programm an den regionalen Schulen rechtfertigten, es gäbe zu wenig Lehrkräfte, die diese Kinder unterrichten könnten und es bestehe ein Mangel an spezifischen Materialien. Die nicht offiziellen Gründe vermutete Bishop darin, dass die Gesellschaft zu der Zeit noch nicht bereit war, Behinderung in ihrer Mitte zu akzeptieren. Mehr noch: Entscheidungsträger hatten kein Wissen und Verständnis über die spezifischen Bedarfe von blinden und sehbehinderten Kindern, so dass diese dann keine adäquate Erziehung erhielten, um nach ihrer formalen Schulerziehung am sozialen und ökonomischen Leben teilhaben zu können (vgl. Bishop 1997). Dies erinnert an die heutige Situation in Deutschland, in der bildungspolitische Entscheidungsträger oft über unzureichendes Wissen in Bezug auf die spezifische Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung verfügen und die Notwendigkeit der spezifischen Unterrichtung bei Blindheit und Sehbehinderung nicht unbedingt erkennen.
Um 1900 verlangten Eltern in Chicago erstmals, die Erziehung und Bildung ihrer blinden Kinder in den Schulen am Heimatort stattfinden zu lassen. Daraufhin wurden Klassen für blinde Schülerinnen und Schüler in regionalen Schulen eröffnet. Um 1915 gab es davon 15 in unterschiedlichen Städten. Auch die Blindenschulen stellten fest, dass sie einigen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht immer ausreichend anfordernde Angebote machen konnten, so dass diese für ihren Abschluss in den Schulen vor Ort mit sehenden Schülerinnen und Schülern lernen konnten. Inklusion war eine akzeptierte Philosophie, lange bevor es gesetzliche Vorlagen dafür gab (vgl. Bishop 1997).
Die Phase zwischen 1950 und 1970 hat in den USA die Bildung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler massiv beeinflusst. Plötzlich gab es eine hohe Zahl von blinden und sehbehinderten Kindern aufgrund von Frühgeborenen-Retinopathie (ROP) und eine hohe Zahl mit Mehrfachbeeinträchtigung als Folge einer Rötelnepidemie. Für diese dann erblindeten Kinder wurden die Schulen vor Ort die Schule ihrer Wahl, weil die Blindenschulen dem Ansturm nicht mehr gewachsen waren. Die Zahlen leistungsstarker Schülerinnen und Schüler mit Blindheit reduzierten sich an den fest etablierten und angesehenen Einrichtungen und sie mussten ihre Zugangskriterien ändern, indem sie auch mehrfachbeeinträchtigte Kinder aufnahmen, um weiter existieren zu können. Hätten sich die Blindenschulen damals schon mehr geöffnet, um ihre Kompetenzen in den Schulen vor Ort einzubringen, hätte das öffentliche Schulsystem davon stark profitieren können. Doch so war es mit Problemen konfrontiert, welche so rasch wie möglich neu gelöst werden mussten (vgl. Bishop 1997). Vielerorts wurden Ausbildungsprogramme für Lehrkräfte initiiert, Material und Hilfsmittel hergestellt und die Inklusionsprogramme weiteten sich auf die ländlichen Gebiete aus. Itinerant Teachers (reisende Lehrkräfte) begannen, die öffentlichen Schulen zu unterstützen.
Der Pine Brook Report (AFB 1954), ein Bericht über eine der ersten offiziellen professionellen Zusammenkünfte, die das Problem der Beschulung der vielen, durch ROP betroffenen, blinden und sehbehinderten Kinder ansprach, beschrieb ein State-of-the-Art Servicemodell und ist noch immer Teil der nationalen Gesetzgebung in der Fortsetzung der Schulortwahl (vgl. Hatlen 2000).
1975 wurde das Gesetz Education for All Handicapped Children Act (Public Law 94 - 142) erlassen, welches klar formulierte, dass alle Kinder mit Behinderungen zu einer freien und angemessenen Bildung berechtigt waren. Bishop (1997) stellte als bemerkenswert heraus, dass die Inklusion von jungen Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung schon 20 Jahre vor dieser Gesetzgebung stattgefunden hatte. Ohne die Eltern als Triebkraft wären die Bemühungen um die Umsetzung der Beschulung ihrer Kinder am Heimatort nicht als so wichtig erachtet worden. Diese war demnach wegweisend für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit anderen Formen von Beeinträchtigung (vgl. Bishop 1997).
Curry und Hatlen resümierten 1988, dass man bis in die 50er und 60er Jahre glaubte, Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung seien in den Schulklassen vor Ort gut aufgehoben, wenn sie die Basiskompetenzen in Braille und Tastschreiben beherrschten. Inklusion fand nach damaliger Ansicht statt, wenn das Kern-Curriculum der entsprechenden Schulart adaptiert werden konnte.
In den frühen 70er Jahren stellte man jedoch fest, dass diesen Schülerinnen und Schülern die Basisqualifikationen in Orientierung und Mobilität (O&M), Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF), sozialer Kompetenz und Berufsorientierung fehlten. Viele waren nicht in der Lage, sich adäquat anzuziehen oder eine Konversation zu führen, ein Scheckbuch auszufüllen, sich für einen Job zu bewerben, adäquat um Hilfe zu bitten etc. Sie waren nicht bereit, in der Welt der Erwachsenen zu leben, weil viele, durch die Sehbeeinträchtigung bedingte Bildungsbedürfnisse ignoriert worden waren. Die ausschließliche Teilhabe am Unterricht sehender Schülerinnen und Schüler erwies sich nicht als Garantie dafür, dass Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung Fähigkeiten erwarben, die sie nicht automatisch, so wie sehende Schülerinnen und Schüler, durch visuelle Nachahmung oder Zufall erwerben konnten (vgl. Curry und Hatlen 1988).
Aus diesem Grunde definierte man in den 1980er Jahren für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung ein Curriculum in zwei Teilen: dem Teil mit traditionellen Unterrichtsfächern der besuchten Schulart, dem Kern-Curriculum, und dem mit blinden- und sehbehindertenspezifischen Fächern, damals Duales Curriculum genannt. Blinde und sehbehinderte junge Menschen sollten die gleichen schulischen Inhalte lernen wie sehende – dafür war die Regelschullehrkraft verantwortlich. Zusätzlich jedoch war es notwendig, entwicklungsbezogen auf die Bedarfe einzugehen, die eine Blindheit oder Sehbehinderung in unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen mit sich bringen konnte – für diese war eine Lehrkraft der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik verantwortlich (vgl. Curry und Hatlen 1988). In den Program Guidelines wurden diese Bereiche schließlich als Duales Curriculum verankert.
Program Guidelines (1986)
Kalifornien, USA, war aufgrund innovativer Bemühungen von Eltern, Fachkräften und Entscheidungsträgern in der Bildungspolitik führend bei der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung (vgl. Hazekamp und Lundin 1986). Staatliche Bildung für diese Schülerinnen und Schüler hatte sich dort seit mehr als 100 Jahren entwickelt, beginnend mit der Errichtung der California School for the Blind in San Francisco im Jahre 1860. Das erste öffentliche Schulprogramm für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler wurde 1917 etabliert und die Inklusion in Schulen vor Ort begann 1924 mit der Einrichtung von speziellen Klassen in Grund- und weiterführenden Schulen (Resource Rooms). Die San Francisco State University hielt einen Lehrstuhl für die Ausbildung zur Blinden- und Sehbehindertenlehrkraft vor.
Mit diesen Erfahrungen wurde 1986 ein erster schriftlicher Leitfaden für die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik veröffentlicht: Program Guidelines for Visually Impaired Individuals. Dieser Leitfaden formulierte folgende Ziele und diente als Ressource für Eltern, Fachkräfte und Entscheidungsträger in der Bildungspolitik:
Die Standards und Verfahren, die in diesem Dokument beschrieben wurden, setzten einen Erwartungsrahmen für die Identifikation, Evaluation, Planung, Verbesserung und das Vorhalten von Serviceangeboten für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung. In diesem Leitfaden wurden die spezifischen und individuellen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung beschrieben und auf sieben Bereiche, die eine Lehrkraft der Blinden- oder Sehbehindertenpädagogik verantwortete, festgelegt: Zugang zu schulischen Konzepten (Concept Development and Academic Skills), Kommunikation (Communications Skills), soziale und emotionale Fähigkeiten (Social and Emotional Skills), sensorische und motorische Fähigkeiten (Sensory and Motor Skills), Orientierung und Mobilität (O&M) (Orientation and Mobility Skills), Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) (Daily Living Skills) und Berufsorientierung (Career and Vocational Skills).
Das frühe Duale Curriculum (1988)
Curry und Hatlen setzten sich 1988 in einem Artikel mit diesen spezifischen Bereichen und dem Dualen Curriculum intensiv auseinander. Sie sahen dies als erforderlich an, weil 1960 53 %, 1972 68 % und 1987 72 % aller Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung an öffentlichen Schulen beschult wurden. Ihre Unterstützung fand entweder in speziellen Klassen (Resource Rooms) oder durch einen Itinerant Teacher mit Qualifikation der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik statt und sollte sich in den Schulen vor Ort auf die Inhalte des Dualen Curriculums beziehen.
Das, was Curry und Hatlen damals beschrieben, trifft auch heute noch zu: Die Verantwortung für das schulische Kern-Curriculum der entsprechenden Schulart liegt bei der Lehrkraft der Regelschulklasse. Während die zu unterrichtenden Fächer über die Jahrgänge wechseln, variiert die Intensität der Unterrichtung nicht. Die Bereiche des Dualen Curriculums liegen in der Verantwortung der Blinden- oder Sehbehindertenlehrkraft. Während hier alle Bereiche gleich bleiben, variiert jedoch die Intensität ihrer Unterrichtung über die Entwicklungsjahre.
Generelle Erfahrungswerte, wie diese Variationen stattfinden, lassen sich grafisch darstellen (vgl. Curry und Hatlen 1988, 418f.). In der Grafik wird die Intensität der Ausbildung aller Bereiche des Dualen Curriculums in den entscheidenden Entwicklungsphasen dargestellt. Je nach Entwicklungs- und Altersstufe verändern sich die Inhalte des Dualen Curriculums.
Abbildung 1.1.1
Verteilung der Intensität der Bereiche des Dualen Curriculums in unterschiedlichen Entwicklungsphasen (nach Curry und Hatlen 1988, 418f.)
(Beschreibung siehe Abbildungs- und Tabellenverzeichnis mit Alternativtexten)
Es wird ersichtlich, wie notwendig eine die Entwicklungsphasen begleitende spezifische Unterstützung in allen Altersstufen sowie Lebens- und Lernsituationen der Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung ist. Ebenso deutlich stellten Curry und Hatlen heraus, dass diese Unterstützung von einer Blinden- oder Sehbehindertenlehrkraft geleistet werden muss, die in Kooperation und im Team mit der Regelschullehrkraft Unterricht analysiert und blinden- oder sehbehindertenspezifische Angebote in Anlehnung an das Kern-Curriculum der besuchten Schulart machen kann. Auch Bishop beschrieb 1997 in ihrem geschichtlichen Aufriss, dass die Vorreiter der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen schon bei ihren ersten Europabesuchen lernten, wie wichtig spezifisch geschulte Lehrkräfte seien, um die individuellen Bedarfe bei Schülerinnen und Schülern mit Blindheit oder Sehbehinderung zu erkennen und zu unterstützen.
In ihrem Artikel stellten Curry und Hatlen allerdings auch fest, dass die Unterrichtung spezifischer Inhalte, wie sie im Dualen Curriculum beschrieben wurden, aufgrund verschiedener Barrieren oft nicht aufgenommen wurden. Diese Barrieren bedingen sich
Schaut man sich diese Bedingungen an, kann man gewisse Parallelen zur heutigen Situation in der Pädagogik bei Blindheit oder Sehbehinderung in Deutschland ziehen.
Curry und Hatlen schlugen mehrere Punkte vor, die soeben beschriebenen Barrieren zu überwinden: Alle professionellen Fachkräfte und Eltern sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen und sich für die spezifischen Bereiche in der Beschulung der Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung einsetzen. Förderpläne mit Auflistung der Ziele aller notwenigen Inhalte des Dualen Curriculums würden die Intensität der Unterrichtung bei eingeschränktem Sehen und die Notwendigkeit für mehr Ressourcen in dem Bereich deutlich machen. Universitätsprogramme der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik sollten ihre Inhalte überdenken, in denen mehr Fokus auf das Verstehen und die Unterrichtung des gesamten Dualen Curriculums gelegt werden sollte. Zusätzliche Forschung müsste im Bereich der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik stattfinden. Verlässliches Wissen über die zu unterrichtenden Methoden und Strategien in den unterschiedlichen Bereichen wäre wichtig wie z. B. das Verstehen um die Bedeutung und Anwendung der assistiven Technologien. Weiterhin sollten Pilotstudien durchgeführt werden, um z. B. zu zeigen, wie Schülerinnen und Schüler, die entsprechend ihres Bedarfes in den Bereichen des Dualen Curriculums unterwiesen würden, die Fähigkeiten entwickeln, selbstbestimmt an der Gesellschaft teilzuhaben. Dies alles sollte die Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung verbessern, doch gab es seinerzeit hierfür noch keinen bundesweiten pädagogischen Konsens in den USA.
National Agenda (1995)
Etwa um 1990 rief die US-Bildungspolitik auf, Ziele der allgemeinen Pädagogik für das Jahr 2000 (vgl. Corn und Huebner 1998, 4) zu formulieren. Obwohl viele Schulen bzw. Programme notwendige Unterstützungs- und schulische Angebote für Kinder und Jugendliche mit Blindheit oder Sehbehinderung bereithielten, gab es noch viel Raum für Verbesserungen. Mit dem Anliegen, Qualität und Quantität dieser Unterstützung zu verbessern, formte sich 1993 eine Graswurzelbewegung aus Fachkräften und Eltern. Die National Agenda for the Education of Children and Youths with Visual impairments, Including Those with Multiple Disabilities wurde 1995 veröffentlicht. Hier wurden die notwendigen und wünschenswerten Ziele für eine gute Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung, die sich bis dahin noch nicht durchgesetzt hatten, formuliert (vgl. Hatlen et.al. 1995).
Der Einfluss, den die National Agenda auf den Service für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Blindheit oder Sehbehinderung innerhalb nur eines Jahrzehnts in den USA ausübte, war grundlegend, revolutionierte das Denken und führte zu einem wesentlichen Fortschritt im Bereich der Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung. Acht spezifische Ziele identifizierend, die sie definitiv erreichen wollte, gab die National Agenda eine Richtung vor, die zu höherer Qualität der Angebote für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung führen sollte. Im Jahre 2004 wurde eine revidierte Auflage herausgegeben, die um zwei Ziele erweitert wurde.
Von Beginn an wurde eine Partnerschaft aus allen Richtungen der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, einschließlich der Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung, Eltern, Pädagogen, Entscheidungsträgern der Schulaufsicht und der Lehrerausbildung angestrebt und vollzogen, was die National Agenda zu einem starken Instrument werden ließ. Sie stellt heute einen Aktionsplan dar, der sich mit klaren und bestimmten Aussagen für eine Vision der Zukunft für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Blindheit oder Sehbehinderung einsetzt. In einer Zeit, in der die Bildungspolitik in den einzelnen Bundesstaaten und Schulbezirken aktiv an Bildungsreformen beteiligt ist und sich viele unterschiedliche Meinungen um den besten Weg bemühen, Reformen im gesamten Bildungssystem zu gestalten, ist dieses Dokument ein leuchtendes Beispiel, wie man sich klare, erreichbare Ziele setzen kann, die alle gemeinsam erreichen wollen.
Erwähnenswert ist der Entwicklungsprozess der National Agenda: Eine Steuergruppe bildete zunächst Untergruppen, die sich aus Vertretern der Eltern, Schulleitungen von Schulen für Blinde oder Sehbehinderte, privaten Organisationen, die blinde und sehbehinderte Kinder unterstützten, Universitätsprogrammen für die Lehrerausbildung im Bereich Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung und Schulaufsichten der Bundesstaaten zusammensetzten. Die Untergruppen formulierten 19 Zielvorgaben, welche an mehr als 2000 Lehrkräfte für blinde oder sehbehinderte Schülerinnen und Schüler und andere Fachkräfte sowie Eltern und blinde oder sehbehinderte Menschen versandt wurden. Jede Person wurde aufgefordert, die Wahrscheinlichkeit des Erreichens der einzelnen Ziele bis in das Jahr 2000 und den Einfluss der Ziele auf die Entwicklung der Bildungsprogramme für Kinder mit Blindheit oder Sehbehinderung zu bewerten.
Die Steuergruppe übertrug die Antworten in eine Wahrscheinlichkeitsstatistik. Nach vielen Diskussionen, weiteren Verteilungen und intensiver Evaluation brach das Komitee die Aussagen auf acht (heute zehn) Ziele herunter, welche dann die National Agenda ausmachten.
Als nächsten Schritt wurden Strategien und Ressourcen identifiziert, die das Erreichen der Ziele fördern sollten. Um Unterstützung dafür zu erhalten, wurden Kopien der Ziele an Organisationen des ganzen Landes mit der Bitte gesendet, diese mit zu befürworten. Um das Fünf-Jahres-Projekt auszuführen, wurden ein Beirat gegründet und acht nationale Zielvertreter bestimmt. Jeder Zielvertreter wurde durch eine Einrichtung des Blinden- und Sehbehindertenbereichs repräsentiert, welche die Verantwortung übernahm, ein Ziel zu erreichen. Jedes Jahr erstatteten die Zielvertreter dem National Agenda Komitee Bericht über die Entwicklung der Ziele. Diese bezogen sich auf die Angebote für Kinder und Jugendliche mit Blindheit oder Sehbehinderung und solchen mit mehrfachen Beeinträchtigungen (vgl. Hatlen et.al. 1995, 5f.):
Ziel 1: | Schülerinnen, Schüler und Eltern werden innerhalb von 30 Tagen an entsprechende Einrichtungen oder Programme verwiesen, in denen Lehrkräfte der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik und / oder O&M-Trainer eine entsprechende Förderplanung anbieten |
Ziel 2: | Maßnahmen und Verfahren werden umgesetzt, welche die Rechte der Eltern auf gleichberechtigte Partnerschaft und Teilnahme im Bildungsprozess sichern |
Ziel 3: | Universitäten mit mindestens einer Professur im Bereich der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik müssen eine ausreichende Zahl an Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und O&M-Trainern ausbilden, um die personellen Bedarfe des Landes zu decken |
Ziel 4: | Schülerinnen- und Schülerzahlen der Blinden- und Sehbehindertenlehrkräfte werden anhand der Bedarfe festgelegt (nicht anhand vorhandener Ressourcen) |
Ziel 5: | Die regionalen Bildungsplanungen stellen sicher, dass alle Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung eine breit gefächerte Auswahl an Lernorten erhalten |
Ziel 6: | Überprüfungen und Diagnostik werden nur in Zusammenarbeit mit spezifisch qualifizierten Fachkräften der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik durchgeführt |
Ziel 7: | Zugang zu allen Bildungsangeboten schließt ein, dass Lehr- und Lernmaterialien (z. B. Textbücher) in barrierefreier Form und zu gleicher Zeit wie für die sehenden Mitschülerinnen und Mitschüler zugänglich gemacht werden |
Ziel 8: | Bildungsziele und deren Unterrichtung beziehen sich auf das Kern-Curriculum der entsprechenden Schulart und auf das Erweiterte Curriculum auf Grundlage des festgestellten individuellen Bedarfs |
Ziel 9: | Übergangsangebote (von der Schule in den Beruf) beziehen sich auf die Entwicklungs- und Bildungsstufen der blinden oder sehbehinderten jungen Menschen, um sie und ihre Familien dabei zu unterstützen, Ziele zu formulieren und Strategien zu entwickeln, die ihren Interessen und Fähigkeiten angemessen sind |
Ziel 10: | Professionalisierung findet statt, indem Fachkräfte kontinuierlich auf lokaler, überregionaler und nationaler Ebene an Fortbildungen teilnehmen. |
Ziel 8 bezog sich auf das Duale Curriculum und wurde von da an verstärkt in den Fokus der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik genommen. Somit hatte man sich gemeinsam auf die Inhalte der Bereiche geeinigt, die seitdem unter dem Begriff Expanded Core Curriculum (ECC) (dt. Erweitertes Curriculum) gefasst wurden. Auch die National Agenda griff auf, dass neben dem Kern-Curriculum der besuchten Schulart – bei dem Adaptation für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung notwendig waren, um am schulischen Alltag teilhaben zu können – weitere spezifische Lerninhalte angeboten werden müssen, um die besonderen Bedarfe bei Blindheit oder Sehbehinderung abzudecken.
Erweitertes Curriculum (ECC) (1996)
Die Antwort einer blinden Frau auf die Frage, was sie sich von der Gesellschaft erwarte: Die „Chance auf Gleichberechtigung“ und das „Recht auf Anderssein“, beeinflusste Hatlen in seinem weiteren Denken. Diese Antwort verdeutlichte ihm, dass die frühen Bemühungen um die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Blindheit oder Sehbehinderung seit der Jahrhundertwende im Fokus standen, sich aber eher auf die „Chance auf Gleichberechtigung“ konzentrierten. Insbesondere das „Recht auf Anderssein“, so Hatlen (1996a, 26f.), wurde dabei allerdings vernachlässigt. Lehrpläne, für sehende Schülerinnen und Schüler entwickelt, wurden für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung lediglich adaptiert („Chance auf Gleichberechtigung“). Das „Recht auf Anderssein“ impliziert hingegen, dass zur Ausbildung junger Menschen mit Sehbeeinträchtigungen mehr gehört als übereinstimmende Lehrpläne – ein Erweitertes Curriculum (ECC).
1996 griff Hatlen daher in einem Artikel Ziel 8 der National Agenda auf und beschrieb erstmals ausführlich die nun neun Bereiche des ECC (siehe Tabelle 1.1.1), ergänzt um zwei des Dualen Curriculums. Damals wurde in den USA schon seit längerem eine theoretische Diskussion um ein Erweitertes Curriculum mit zusätzlichen Bildungsinhalten für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung geführt, die aber kaum Auswirkungen auf die Praxis hatte.