Denis Diderot

Rameaus Neffe

 

 

 

Denis Diderot: Rameaus Neffe

 

Übersetzt von Johann Wolfgang von Goethe

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Juan Gris, Mann im Café, 1914

 

ISBN 978-3-8430-6211-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9812-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9813-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden: 1761, mehrmals überarbeitet bis 1774/75.

Erstdruck: In deutscher Übersetzung nach einer von Diderot durchgesehenen Abschrift aus dem Besitz der russischen Zarin Katharina II. durch Johann Wolfgang von Goethe: Leipzig (Göschen) 1805. Erstdruck in französischer Sprache (als Rückübersetzung aus dem Deutschen) in: »Oeuvres«, Bd. 21, Paris 1821. Erstdruck nach einer (anderen) von Diderot revidierten Abschrift: Paris 1823.

Der Text folgt der Goetheschen Übersetzung von 1805 ohne die von Goethe hinzugefügten »Anmerkungen über Personen und Gegenstände, deren in dem Dialog "Rameaus Neffe" erwähnt wird«.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Goethe. Berliner Ausgabe. Herausgegeben vom Aufbau-Verlag / Siegfried Seidel: Poetische Werke [Bd. 1-16]; Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Bd. 17-22], Berlin: Aufbau, 1960 ff.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Rameaus Neffe

Ein Dialog von Diderot, aus dem Manuskript übersetzt

(Le Neveu de Rameau. Satire seconde)

»... Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis« Horat. Liber II. Satyr. VII.

 

Es mag schön oder häßlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall um fünf Uhr abends im Palais Royal spazierenzugehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d'Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht. So sieht man in der Allée de Foi unsre jungen Liederlichen einer Kurtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andre, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.

Wenn es gar zu kalt oder regnicht ist, flüchte ich mich in den »Café de la Régence« und sehe zu meiner Unterhaltung den Schachspielern zu. Paris ist der Ort in der Welt, und der »Café de la Régence« der Ort in Paris, wo man das Spiel am besten spielt. Da, bei Rey, versuchen sich gegeneinander der profunde Légal, der subtile Philidor, der gründliche Mayot. Da sieht man die bedeutendsten Züge, da hört man die gemeinsten Reden. Denn, kann man schon ein geistreicher Mann und ein großer Schachspieler zugleich sein, wie Légal, so kann man auch ein großer Schachspieler und albern zugleich sein, wie Foubert und Mayot.

Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte so wenig als möglich, als eine der wunderlichsten Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte, wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen[567] ließ. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn, die Begriffe vom Ehrbaren und Unehrbaren müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durcheinandergehn: denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham. Übrigens ist er von einem festen Körperbau, einer außerordentlichen Einbildungskraft und einer ungewöhnlichen Lungenstärke. Wenn ihr ihm jemals begegnet, und seine Originalität hält euch nicht fest, so verstopft ihr eure Ohren gewiß mit den Fingern, oder ihr entflieht. Gott, was für schreckliche Lungen!

Und nichts gleicht ihm weniger, als er selbst. Manchmal ist er mager und zusammengefallen, wie ein Kranker auf der letzten Stufe der Schwindsucht; man würde seine Zähne durch seine Backen zählen; man sollte glauben, er habe mehrere Tage nichts gegessen, oder er käme aus La Trappe.

Den nächsten Monat ist er feist und völlig, als hätte er die Tafel eines Financiers nicht verlassen, oder als hätte man ihn bei den Bernhardinern in die Kost gegeben. Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerrissenen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupte, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten.

So lebt er von Tag zu Tag, traurig oder heiter, nach den Umständen. Seine erste Sorge des Morgens, wenn er aufsteht, ist, sich zu bekümmern, wo er zu Mittag speisen wird. Nach Tische denkt er auf eine Gelegenheit zum Nachtessen, und auch die Nacht bringt ihm neue Sorgen. Bald erreicht er zu Fuß ein kleines Dachstübchen, seine Wohnung, wenn nicht die Wirtin, ungeduldig, den Mietzins länger zu entbehren, ihm den Schlüssel schon abgefodert hat. Bald wirft er sich in eine Schenke der Vorstadt, wo er den Tag zwischen[568] einem Stück Brot und Kruge Bier erwartet. Hat er denn auch die sechs Sous zum Schlafgeld nicht in der Tasche, das ihm wohl manchmal begegnet, so wendet er sich an einen Mietkutscher, seinen Freund, oder an den Kutscher eines großen Herrn, der ihm ein Lager auf Stroh neben seinen Pferden vergönnt. Morgens hat er denn noch einen Teil seiner Matratze in den Haaren. Ist die Jahreszeit gelind, so spaziert er die ganze Nacht auf dem Cours oder den Elyseischen Feldern hin und wider. Mit dem Tage erscheint er sogleich in der Stadt, gekleidet von gestern für heute, und von heute manchmal für den Überrest der Woche.

Dergleichen Originale kann ich nicht schätzen; andre machen sie zu ihren nächsten Bekannten, sogar zu Freunden. Des Jahrs können sie mich einmal festhalten, wenn ich ihnen begegne, weil ihr Charakter von den gewöhnlichen absticht und sie die lästige Einförmigkeit unterbrechen, die wir durch unsre Erziehung, unsre gesellschaftlichen Konventionen, unsre hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümchen Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob oder Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervor, macht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme, und da horcht ein Vernünftiger zu und sondert seine Leute.

Diesen kannt' ich seit langer Zeit; er kam öfters in ein Haus, wo ihm sein Talent den Eingang verschafft hatte. Die Leute hatten eine einzige Tochter. Er schwur dem Vater und der Mutter, daß er ihre Tochter heiraten würde. Diese zuckten die Achseln, lachten ihm ins Gesicht und versicherten ihm, er sei närrisch. Doch sah ich den Augenblick kommen, wo die Sache gemacht war. Er verlangte von mir einige Taler, die ich ihm gab. Er hatte sich, ich weiß nicht wie, in einigen Häusern eingeschlichen, wo sein Couvert bereitstand, aber man hatte ihm die Bedingung gemacht, er solle niemals ohne Erlaubnis reden. Da schwieg er nun[569] und aß vor Bosheit: es war lustig, ihn in diesem Zwang zu sehen. Sobald er es wagte, den Traktat zu brechen und den Mund aufzutun, sogleich beim ersten Wort riefen alle Gäste: »O Rameau!« Dann funkelte die Wut in seinen Augen, und er fiel mit neuer Gewalt über das Essen her.

Ihr wart neugierig, den Namen des Mannes zu wissen, da habt ihr ihn. Es ist der Vetter des berühmten Tonkünstlers, der uns von Lullys Kirchengesang gerettet hat, den wir seit hundert Jahren psalmodieren. Ein Vetter des Mannes, der so viel unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik schrieb, wovon weder er noch sonst irgendein Mensch jemals etwas verstanden hat; in dessen Opern man Harmonie findet, einzelne Brocken guten Gesangs, unzusammenhängende Ideen, Lärm, Aufflüge, Triumphe, Lanzen, Glorien, Murmeln und Viktorien, daß den Sängern der Atem ausgehn möchte; des Mannes, der, nachdem er den Florentiner begraben hat, durch italienische Virtuosen wird begraben werden, wie er vorausfühlte, und deshalb mißmutig, traurig und ärgerlich ward. Denn niemand hat bösere Laune, nicht einmal eine hübsche Frau, die morgens eine Blatter auf der Nase gewahr wird, als ein Autor, der sich bedroht sieht, seinen Ruf zu überleben, wie Marivaux und Crébillon, der Sohn, beweisen.

Er tritt zu mir: »Ach, mein Herr Philosoph, treff ich Euch auch einmal! Was macht Ihr denn hier unter den Taugenichtsen? Verliert Ihr auch Eure Zeit mit Holzschieben?« (So nennt man aus Verachtung das Schach- oder Damenspiel.)

ICH: Nein, aber wenn ich nichts Bessers zu tun habe, so ist's eine augenblickliche Unterhaltung, denen zuzusehn, die gut schieben.

ER: Also eine seltne Unterhaltung. Nehmt Légal und Philidor aus; die übrigen verstehn nichts.

ICH: Und Herr von Bissy, was sagt Ihr zu dem?

ER: Der ist als Schachspieler, was Demoiselle Clairon als[570] Schauspielerin ist; beide wissen von diesen Spielen alles, was man davon lernen kann.

ICH: Ihr seid schwer zu befriedigen. Ich merke, nur den vorzüglichsten Menschen laßt Ihr Gnade widerfahren.

ER: Ja im Schach- und Damenspiel, in der Poesie, Redekunst, Musik und andern solchen Possen. Wozu soll die Mittelmäßigkeit in diesen Fällen?

ICH: Beinahe geb ich Euch recht. Aber doch müssen sich viele auch auf diese Künste legen, damit der Mann von Genie hervortrete. Er ist dann der eine in der Menge. Aber lassen wir das gut sein. Seit einer Ewigkeit habe ich Euch nicht gesehen. Ich denke niemals an Euch, wenn ich Euch nicht sehe. Aber es freut mich jedesmal, wenn ich Euch wiederfinde. Was habt Ihr gemacht?

ER: Das was Ihr, ich und alle die andern machen, Gutes, Böses und nichts. Dann hab ich Hunger gehabt und gegessen, wenn sich dazu Gelegenheit fand. Ferner hatt ich Durst, und manchmal hab ich getrunken; indessen ist mir der Bart gewachsen, und da hab ich mich rasieren lassen.

ICH: Daran habt Ihr übel getan: denn der Bart nur fehlt Euch zum Weisen.

ER: Freilich! meine Stirn ist groß und runzlich, mein Auge blitzt, die Nase springt vor, meine Wangen sind breit, meine Augenbrauen breit und dicht, der Mund wohl gespalten, die Lippen umgeschlagen und das Gesicht viereckt. Wißt Ihr wohl, dieses ungeheure Kinn, wäre es von einem langen Barte bedeckt, es würde sich in Erz oder Marmor recht gut ausnehmen.

ICH: Neben Cäsar, Mark Aurel, Sokrates.

ER: Nein, ich stünde lieber zwischen Diogenes und Phryne. Unverschämt bin ich wie der eine, und die andern besuch ich gern.

ICH: Ihr befindet Euch immer wohl?

ER: Ja, gewöhnlich; aber heute nicht besonders.

ICH: Und wie, mit Eurem Silenenbauch, mit einem Gesicht –[571]

ER: Einem Gesicht, das man für die Rückseite nehmen könnte. Wißt Ihr, daß böse Laune, die meinen Onkel ausdorrt, wahrscheinlich seinen Neffen fett macht?

ICH: Apropos! den Onkel; seht Ihr ihn manchmal?

ER: Ja, manchmal auf der Straße vorbeigehn.

ICH: Tut er Euch denn nichts Gutes?

ER: Tut er jemanden Gutes, so weiß er gewiß nichts davon. Es ist ein Philosoph in seiner Art; er denkt nur an sich, und die übrige Welt ist ihm wie ein Blasebalgsnagel. Seine Tochter und Frau können sterben, wann sie wollen, nur daß ja die Glocken im Kirchsprengel, mit denen man ihnen zu Grabe läutet, hübsch die Duodezime und Septdezime nachklingen, so ist alles recht. Er ist ein glücklicher Mann! und besonders weiß ich an Leuten von Genie zu schätzen, daß sie nur zu einer Sache gut sind, drüber hinaus zu nichts. Sie wissen nicht, was es heißt, Bürger, Väter, Mütter, Vettern und Freunde zu sein. Unter uns, man sollte ihnen durchaus gleichen, aber nur nicht wünschen, daß der Same zu gemein würde. Menschen muß es geben, Menschen von Genie nicht. Nein, wahrhaftig nicht! Sie sind's, die unsre Welt umgestalten, und nun ist im Einzelnen die Torheit so allgemein und mächtig, daß man sie nicht ohne Händel verdrängt. Da macht sich's nun zum Teil, wie sich's die Herren eingebildet haben, zum Teil bleibt's, wie es war. Daher kommen die zwei Evangelien, des Harlekins Rock! ... Nein! die Weisheit des Mönchs im Rabelais, das ist die wahre Weisheit für unsre Ruhe und für die Ruhe der andern. Seine Schuldigkeit tun, so gut es gehn will, vom Herrn Prior immer Gutes reden und die Welt gehn lassen, wie sie Lust hat. Sie geht ja gut, denn die Menge ist damit zufrieden. Wüßt ich Geschichte, so wollt ich Euch zeigen, das Übel hier unten ist immer von genialischen Menschen hergekommen; aber ich weiß keine Geschichte, weil ich nichts weiß. Der Teufel hole mich, wenn ich jemals was gelernt habe, und ich befinde mich nicht schlechter deshalb.[572] Ich war eines Tags an der Tafel eines königlichen Ministers, der Verstand für ein Dutzend hat. Er zeigte uns klar, so klar wie zweimal zwei vier ist, daß nichts den Völkern nützlicher sei als die Lüge, nichts aber schädlicher als die Wahrheit. Ich besinne mich nicht mehr auf seine Beweise, aber es folgte sonnenklar daraus, daß die Leute von Genie ganz abscheulich sind und daß man ein Kind, wenn es bei seiner Geburt ein Charakterzeichen dieses gefährlichen Naturgeschenks an der Stirne trüge, sogleich ersticken oder ins Wasser werfen sollte.

ICH: Und doch! diese Personen, die vom Genie so übel sprechen, behaupten alle, Genie zu haben.

ER: Im stillen schreibt sich's wohl ein jeder zu; aber ich glaube doch nicht, daß sie sich unterstünden, es zu bekennen.

ICH: Das geschieht aus Bescheidenheit. Und also habt Ihr einen schrecklichen Haß gegen das Genie gefaßt?

ER: Für mein ganzes Leben.

ICH: Aber ich erinnre mich wohl der Zeit, da Ihr in Verzweiflung wart, nur ein gemeiner Mensch zu sein. Ihr könnt nie glücklich werden, wenn Euch das eine wie das andre quält. Man sollte seine Partie ergreifen und daran festhalten. Wenn ich Euch auch zugebe, daß die genialischen Menschen gewöhnlich ein wenig sonderbar sind, oder, wie das Sprüchwort sagt, kein großer Geist sich findet ohne einen Gran von Narrheit, so läßt man die Genies doch nicht fahren. Man wird die Jahrhunderte verachten, die keine hervorgebracht haben. Sie werden die Ehre des Volks sein, bei dem sie lebten. Früh oder spät errichtet man ihnen Statuen und betrachtet sie als Wohltäter des Menschengeschlechts. Verzeihe mir der vortreffliche Minister, den Ihr anführt, aber ich glaube, wenn die Lüge einen Augenblick nützen kann, so schadet sie notwendig auf die Länge. Im Gegenteil nutzt die Wahrheit notwendig auf die Länge, wenn sie auch im Augenblick schadet. Daher käm ich in Versuchung, den[573] Schluß zu machen, daß der Mann von Genie, der einen allgemeinen Irrtum verschreit oder einer großen Wahrheit Eingang verschafft, immer ein Wesen ist, das unsre Verehrung verdient. Es kann geschehen, daß dieses Wesen ein Opfer des Vorurteils und der Gesetze wird; aber es gibt zwei Arten Gesetze: die einen sind unbedingt billig und allgemein, die andern wunderlich, nur durch Verblendung oder durch Notwendigkeit der Umstände bestätigt. Diese bedecken den, der sie übertritt, nur mit einer vorübergehenden Schande, einer Schande, die von der Zeit auf die Richter und Nationen zurückgeworfen wird, um ewig an ihnen zu haften. Sokrates oder das Gericht, das ihm den Schierling reichte, wer von beiden ist nun der Entehrte?

ER: Das hilft ihm auch was Rechts! Ist er deswegen weniger verdammt worden? Ist sein Todesurteil weniger vollzogen? War er nicht immer ein unruhiger Bürger, und indem er ein schlechtes Gesetz verachtete, hat er nicht die Narren zur Verachtung der guten angeregt? War er nicht ein kühner und wunderlicher Mann, und seid Ihr nicht ganz nah an einem Geständnis, das den Männern von Genie wenig günstig ist?

ICH: Hört mich, lieber Mann, eine Gesellschaft sollte keine schlechten Gesetze haben. Hätte sie nur gute, sie käme niemals in Gefahr, einen Mann von Genie zu verfolgen. Ich habe nicht zugegeben, daß das Genie unauflöslich mit der Bosheit verbunden sei, noch die Bosheit mit dem Genie. Ein Tor ist öfter ein Bösewicht als ein Mann von Geist. Wäre nun auch ein Mann von Genie gewöhnlich in der Unterhaltung hart, rauh, schwer zu behandeln, unerträglich, wäre er auch ein Bösewicht, was wolltet Ihr daraus folgern?

ER: Daß man ihn ersäufen sollte.

ICH: Sachte, lieber Freund! So sagt mir doch! Nun ich will nicht Euern Onkel zum Beispiel nehmen, das ist ein harter und roher Mann, ohne Menschlichkeit, geizig, ein schlechter[574] Vater, schlechter Gatte, schlechter Onkel; und dabei ist es noch nicht einmal ganz entschieden, daß er ein Mann von Genie sei, daß er es in seiner Kunst sehr weit gebracht habe, daß man sich in zehn Jahren noch um seine Werke bekümmern werde. Aber Racine, der hatte doch Genie und galt nicht für den besten Mann. Aber Voltaire?

ER: Drängt mich nicht: denn ich weiß zu folgern.

ICH: Was würdet Ihr nun vorziehen, daß Racine ein guter Mann gewesen wäre, völlig eins mit seinem Comptoir wie Briasson, oder mit seiner Elle wie Barbier, ein Mann, der regelmäßig alle Jahre seiner Frau ein rechtmäßiges Kind macht, guter Gatte, guter Vater, guter Onkel, guter Nachbar, ehrlicher Handelsmann und nichts weiter; oder daß er schelmisch, verräterisch, ehrgeizig, neidisch gewesen wäre, aber Verfasser von »Andromache«, »Britannicus«, »Iphigenia«, »Phädra« und »Athalia«?

ER: Hätte er zu der ersten Art gehört, das möchte für ihn das beste gewesen sein.

ICH: Das ist sogar unendlich wahrer, als Ihr selbst nicht empfindet.

ER: Ja so seid ihr andern! Wenn wir etwas Gutes sagen, so soll es, wie bei Narren und Schwärmern, der Zufall getan haben. Ihr andern nur versteht euch selbst. Ja, Herr Philosoph, ich verstehe mich und verstehe mich ebensogut, als Ihr Euch versteht.

ICH: Nun, so laßt sehen, warum denn für ihn?

ER: Darum, weil alle die schönen Sachen, die er da gemacht hat, ihm nicht zwanzigtausend Franken eingetragen haben. Wäre er ein guter Seidenhändler in der Straße St. Denis oder St. Honoré gewesen, ein guter Materialienhändler im großen, ein besuchter Apotheker, da hätte er ein großes Vermögen zusammengebracht und dabei alle Arten Vergnügen genossen. Er hätte von Zeit zu Zeit einem armen Teufel von Lustigmacher, wie mir, ein Goldstück gegeben, und man hätte ihn zu lachen gemacht,[575] man hätte ihm gelegentlich ein hübsches Mädchen verschafft, um eine ewige langweilige Beiwohnung bei seiner Ehefrau zu unterbrechen. Wir hätten bei ihm vortrefflich gegessen, großes Spiel gespielt, vortrefflichen Wein getrunken, vortreffliche Liköre, vortrefflichen Kaffee, man hätte Landfahrten gemacht. Ihr seht doch, daß ich mich darauf verstehe. Ihr lacht? Schon gut! Nur werdet Ihr doch zugeben, so wäre es auch besser für seine Umgebungen gewesen.