Anne von Canal

Whiteout

Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.

© 2017 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung  Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Typografie (Hardcover)  Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

ISBN E-Book: 978-3-86648-333-0

www.mare.de

Für Tifi

The people we most love do become

a physical part of us, ingrained in our synapses,

in the pathways where memories are created.

Meghan O’Rourke

Vi börjar om igen. Vi ger oss inte.

Lars Gustafsson

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Dank

1

Unser Herz schlägt nicht mehr.

Über der eisigen Weite liegt eine Stille, glatt wie Emaille. Die Zeltwand flattert leise, doch sonst höre ich nichts.

Etwas ist schiefgegangen.

Ich setze mich auf.

Zappa?, will ich rufen. Thomas! Aber ich kann mich nicht überwinden, meine Stimme in dieses außerordentliche Schweigen zu zwingen. Es ist zu groß.

Ich schließe die Augen, um besser hören zu können, aber da ist nichts.

Kein Laut. Kein Puls.

Vielleicht bin ich allein. Zappa, Thomas, Ole, Fränzi – keiner mehr da, das Camp weg, unsere Geräte verschwunden. Oder es ist mein Herz, das nicht mehr schlägt, und ich bin nicht mehr da. Vielleicht ist das die Ewigkeit, und ich bin bloß meine eigene Idee. Es würde mich nicht überraschen.

Hier muss man auf alles gefasst sein.

Ich sollte nachsehen, was passiert ist. Sollte mir einen Überblick verschaffen, feststellen, wo der Fehler liegt. Ob es einen Schaden gibt. Ob der Ausfall die Expedition gefährdet. Müsste mir Gedanken machen, über die möglichen Konsequenzen. Sollte. Müsste. Doch mehr, als meine Augen ziellos über den gelben Himmel zu schicken, der sich über mir spannt, bringe ich nicht fertig. Ich sitze einfach nur da, schaue, lausche. Und spüre, wie die Kälte durch die Nasenlöcher in mich hineinkriecht und langsam meine Gedanken lähmt.

Direkt neben meinem Kopf ist ein kleiner Punkt auf dem Stoff, er ist schon lange dort, ein alter Bekannter, weder schwarz noch weiß. Seltsam eigentlich. Ist das ein Loch? Ich strecke den Zeigefinger aus und fühle darüber. Zum ersten Mal. Tatsächlich, die Sonne hat sich ein Loch gebohrt.

Ein Seufzen ertönt.

Kurz meine ich, es kommt aus meiner Brust, so nah klingt es. Doch dann folgt ein dumpfes Klopfen. Ich halte die Luft an. Mühsam und ein wenig aus dem Takt steigert sich das Pochen, bis wieder der vertraute Rhythmus durchs Camp hämmert.

Als hätte es den Moment der Verlassenheit nie gegeben.

Hanna, bist du da? Hallo? Thomas für Hanna!

Thomas’ gedämpfte Stimme lässt Luft in mein Vakuum. Ich ziehe mein Funkgerät an der Antenne unter dem Kopfkissen hervor und drücke den Sprechknopf.

Ich höre, sage ich, so routiniert es geht.

Alles in Ordnung?

Was soll ich darauf antworten – Mein Herz schlägt, wir sind alle noch da, vor uns liegt ein arbeitsreicher Tag.

Ja?, sage ich.

Wir hatten eine Panne am Generator. Aber Zappa hat wieder alles im Griff, sagt Thomas.

Gut, sage ich. Das ist gut. Ich dachte schon …

Also, dann?

Es klingt wie eine Frage. Ich weiß nicht, wonach, und warte.

Kommst du gleich rüber?, höre ich schließlich.

Ja, klar. Bin schon unterwegs.

Okay. Thomas Ende.

Es knackt und rauscht.

Kraftlos sinke ich zurück auf meine Isomatte. Natürlich bin ich erleichtert. Alles andere wäre eine Lüge.

Seit uns die kleine zweimotorige Maschine vor zwei Tagen mit unseren Materialkisten hier absetzte, wie eine Handvoll Sträflinge in der Wüste, seit wir im Schneewirbel der Propeller standen und dem letzten Stück Heimat winkten, seit das Flugzeug endgültig im Blau verschwand, sind wir völlig auf uns gestellt. Die kurze Beklommenheit, als die Motoren nicht mehr zu hören waren, haben wir schnell weggelacht.

Wir gehören zusammen. Sind ein Außenposten im Grenzbereich des Möglichen. Ein einziger Organismus. Ein kleiner antarktischer Fünfzeller. Und mehr als alles andere brauchen wir unser Herz.

Ich horche nach draußen. Es wummert verlässlich.

Entschlossen öffne ich der Kälte den Schlafsack und ziehe schnell die Thermohose über meine Leggins. Dann die Isostiefel. Den Fleecepulli über mein Merinohemdchen. Jacke. Schal, Mütze, Handschuhe, wie eine Daumenkinofigur. Zum Schluss noch die Sonnenbrille. Nie ohne Sonnenbrille. Dann schlage ich die Zelttür zurück und strecke mich hinaus ins Weiß, Weiß, Weiß.

Nichts hat sich verändert. Die Ebene liegt nackt in der Sonne dahingestreckt, unbescheiden und selbstverständlich, als wäre sie die ganze Welt. Man könnte es glauben. Nichts als Eis, so weit Auge und Möglichkeiten reichen. Terra nullius. Niemands Land.

Das Ausmaß an Ödnis ist atemberaubend, macht mich immer wieder stumm und zugleich seltsam froh. Ich fühle mich sauber. Der Kopf gefegt bis in die Ecken.

Auf dem Weg zum Bohrschacht stehen die Markierungsfähnchen Spalier und verbeugen sich an ihren Bambusstangen im leichten Wind. Ich nicke ihnen zu. Lüfte im Vorbeigehen höflich meine Mütze, der Schnee unter meinen Füßen quietscht trocken wie Styropor.

Guten Morgen, sage ich mit einem angedeuteten Diener, als ich am Rand des Grabens stehen bleibe.

Hey Boss, da bist du ja.

Thomas sieht zu mir herauf. Mit hochgeschobenen Ärmeln und beschlagener Brille steht er in drei Metern Tiefe. Verschwitzt. In seinem Bart hängt zu winzigen Eiszapfen gefrorener Atem. Als wüchse der ganze Mann langsam in die Umgebung hinein.

Den Anfang haben wir schon mal, sagt er. Deutet auf den großen Handbohrer, auf die dunkle Öffnung im Eis, die unser Bohrloch werden soll.

Wo ist Zappa?, frage ich.

Repariert noch irgendwas am Generator. Die Einspritzpumpe hat gestreikt, sagt er. Aber jetzt läuft sie wieder.

Ich atme endgültig auf.

Kaum auszudenken, was ein schwerwiegender Generatorenausfall für unseren Zeitplan bedeuten würde. Schließlich haben wir mit der eigentlichen Arbeit noch gar nicht begonnen.

Thomas steigt die acht glatten Stufen hinauf, die wir gestern ins Eis gesägt haben. Stellt sich neben mich, betrachtet unsere Baustelle, die Arme in die Seiten gestemmt. Zufrieden.

Bestens, sage ich und kann doch nicht umhin, zu fragen: Warum habt ihr mir heute Morgen nicht Bescheid gesagt?

War ja nur eine Kleinigkeit.

Ich weiß. Aber trotzdem …

Was rede ich da? Es muss klingen, als würde es mir an Vertrauen oder Selbstbewusstsein fehlen.

War doch nicht zu überhören, die Stille, oder? Thomas grinst. Aus seinem Bart löst sich ein Tropfen.

Du schmilzt, Gletscher, sage ich.

Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Apropos schmelzen … Wie wäre es mit Kaffee?

Unbedingt. Und dann klotzen wir ran, damit wir morgen endlich anfangen können, zu bohren.

Bohren. Das Wort allein lässt mein Zwerchfell beben, meine Nerven flattern. Alles in mir will bohren, notfalls mit dem Zahnstocher.

Jahrelange Planung, monatelanges Vorbereiten, wochenlange Anreise von Frankfurt über Kapstadt und Novo Airbase, hierher, an diesen Ort jenseits von Zeit und Zivilisation; tagelanges Graben, Sägen, Bauen und Installieren bis zur Erschöpfung, der Aufbau eines funktionierenden Lebensraums aus dem weißen Nichts – alles, um einen rund dreihundert Meter langen Eiskern bohren zu können. Ein Loch so tief, wie der Eiffelturm hoch ist, das ist der Plan. Das ist unsere Forschung. Darum bin ich hier. Darum sind wir alle hier. Weil wir nichts mehr und dringender wollen, als dem Eis seine Geheimnisse zu entlocken.

Ja, sagt Thomas. Es wird Zeit.

Höchste Zeit, sage ich.

Wir schauen zu, wie ein Schleier aus Wildschnee vor uns in die Luft steigt. Diamond dust. Schwebende Kristalle, in spektraler Kraft funkelnd.

Die gute Nachricht ist, die Zeit bleibt heute stehen, sagt Thomas.

Und tatsächlich.

Heigh-Ho, Heigh-Ho, it’s off to work I go.

Eine rote Schaufel über der Schulter marschiert Ole singend in unsere Ahnung von Ewigkeit.

Er wirbelt die Schippe einmal herum wie ein Funkenmariechen seinen Bâton und rammt sie vor sich in den Schnee.

So, sagt er entschieden. Was gibt’s zum Frühstück?

Mir fällt so schnell keine Antwort ein.

Du kannst heute wählen zwischen gebratenem Speck, Würstchen und Rührei, sagt Thomas. Zu allem natürlich Toast, hausgemachte Marmelade und frische Südfrüchte.

Klingt göttlich, sagt Ole. Zu dumm, dass ich auf Diät bin! Aber war nicht eben von Kaffee die Rede?

Er wartet nicht ab, was wir dazu sagen, ist schon wieder in Richtung unseres Quartiers davon. Bei jedem zweiten Schritt wirft er seine Fellmütze in die Höhe. Wieder und wieder fliegt die Schapka in die Luft, flattert unbeholfen mit den Ohrenklappen.

Seltsamer Vogel, sagt Thomas.

Ich weiß nicht, ob er die Mütze meint oder Ole.

Die Espressokanne steht bereits gurgelnd auf dem Gaskocher, als wir ins Zelt steigen. Das Aroma steigt mir ins Gehirn, entfacht ein ziehendes Verlangen.

Abgewandt vom Eingang sitzt Fränzi und starrt in den Laptop, lässt den Mauszeiger über Zahlen, Graphen, Diagramme huschen. Sie zupft sich trockene Hautfetzen von der Unterlippe, hat ein Bein hochgezogen, das andere wippt unter dem Tisch, als wollte es jeden Moment weglaufen.

Hallo, sage ich.

Sie antwortet nicht. Unter ihrer peruanischen Strickmütze ringeln sich Kopfhörerkabel hervor, doch es dringt kein Laut nach außen.

Ich habe nie gefragt, was sie hört – Klassik, Heavy Metal, vielleicht galaktisches Rauschen –, habe am ersten Tag nur auf die kleinen Stöpsel in ihren Ohren gedeutet, die Augenbrauen hochgezogen und gefragt: Muss das sein? Ja, sagte sie, nach zwei Sekunden Bedenkzeit. Also toleriere ich es. Außerhalb der Arbeit wohlgemerkt.

Das Blubbern verstummt, als ich das Gas abdrehe.

Keiner von uns ist besonders an Frühstück interessiert – das dient hauptsächlich der notwendigen Kalorienzufuhr –, aber Kaffee brauchen wir alle. Die Beschleunigung, das leichte zerebrale Beben.

Thomas stellt unsere Thermosbecher neben der Kochstelle bereit, und ich gieße ein, so schnell und gerecht wie möglich. In eine Tasse schaufelt Thomas drei Löffel Zucker und schiebt sie mir zu.

Stark und süß, sagt er.

Etwas in mir will automatisch kokettieren: Ich oder der Kaffee? Aber diese Tonlage passt nicht hierher, und nicht zu Thomas und mir. Zu unserer ruhigen und gradlinigen Frequenz.

Keks?, frage ich stattdessen, lege eine Schachtel Gebäck auf den Tisch.

Aber gern!

Ole langt nach der Packung, ehe Thomas antworten kann. Ein, zwei, drei Plätzchen verschwinden in seinem Mund. Ich muss lachen.

Es ist ein schnelles Spiel, sage ich.

Ich dachte, du wärst auf Diät, murrt Thomas.

Vielleicht könnten wir uns jetzt kurz dem Tagesplan widmen, sage ich.

Ole nickt, grinst mich mit vollen Backen an.

Gut. Ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche. Blättere. Wenn es so läuft wie gestern, müssten wir heute mit den Vorbereitungen fertig werden. Am besten ist, wir –

Du hast Post, unterbricht Fränzi.

Ich sehe von meinen Aufzeichnungen auf. Du – das gilt immer mir, die anderen spricht sie mit Namen an.

Von wem?, frage ich, ehe sie es wiederholt. Denn das würde sie. Du hast Post, du hast Post. So lange, bis ich reagiere.

Ein Klicken auf dem Touchpad und ihre Antwort: Jan Fuchs.

Ich horche auf. Mein Bruder schreibt mir fast nie, und wenn, dann schickt er meist Links zu albernen Videoclips.

Betreff?

Die Frage rutscht aus mir heraus, obwohl es niemanden etwas angeht, obwohl es nur unwichtig sein kann, obwohl ich es selbst lesen könnte, später, morgen, nie, obwohl.

Scott, sagt sie trocken.

Was?, frage ich reflexhaft, während das Wort sich in mir ausbreitet; Hirn, Herz, Darm gleichzeitig erreicht.

Es heißt wie bitte, sagt Ole. So viel Zeit muss sein.

Scott, sagt Fränzi noch einmal.

Na, der ist ja schon eine Weile tot, meint Thomas.

Aber gut konserviert! Ole lacht. Und das gar nicht mal weit von hier.

Ich schlucke. Scott. Das Wort rumort in mir.

Kannst du löschen, sage ich und greife nach meinem Notizbuch. Blättere.

Ich nehme an, es ist kein Kaffee mehr übrig?

Hinter mir duckt sich Zappa durch den Eingang herein. Den schmalen Kopf schräg geneigt, mustert er uns wie ein Lehrer, der seine Klasse kurz unbeaufsichtigt gelassen hat. In seinem Mundwinkel hängt eine erloschene oder noch nicht angezündete Zigarette.

Wir haben …, beginne ich.

… dich vergessen, fällt mir Ole gut gelaunt ins Wort.

… schon mal angefangen, übertöne ich ihn. Strecke Zappa meinen Becher hin.

Hier, ich habe genug.

Er riecht daran, nippt und verzieht angewidert das Gesicht.

Willst du mich vergiften?

Fränzi sieht vom Bildschirm auf. Sie zieht den Kopfhörerstöpsel aus ihrem rechten Ohr und schaut Zappa an.

Wieso sollte sie das tun?, fragt sie, runzelt die Stirn. Das wäre äußerst unlogisch.

Zappa trinkt noch einen Schluck.

Ganz genau, sage ich rau. Meine Stimmbänder haben sich irgendwie verknotet. Ich räuspere mich. Können wir uns jetzt bitte alle mal auf den Tagesplan konzentrieren? Nur fünf Minuten!

Gehorsames Schweigen.

Also. Wenn wir –

Keks, irgendwer?, fragt Ole.

Wir sägen.

Wir schaufeln.

Wir schleppen.

Eisblock für Eisblock wird der Schacht größer und tiefer.

Viel Atem zum Reden haben wir nicht, und die Gespräche erschöpfen sich schnell in kurzen Witzen und Bemerkungen. Es gibt ohnehin wenig von Bedeutung zu sagen, wenn man in einer über dreizehn Millionen Quadratkilometer großen Eiswüste steht und ein Loch hineinbuddelt.

Ich hole aus und ramme die Schippe in die losen Bruchstücke des Firns, schaufele sie in die zum Abtransport bereitstehende Kiste. Fünfzehn Mal ausholen, schippen. Klingt wie Snare. Kickdrum. Ich höre auf den Rhythmus, versuche ihm zu folgen, ihn zu halten. Ausholen. Schippen. Snare. Kickdrum. Bald spüre ich, wie mir das Unterhemd an Bauch und Rücken klebt. Snare. Kickdrum. Zum Glück ist es Wolle, die stinkt nicht so schnell. Lässt sich auch gut lüften. Eins zum Wechseln habe ich noch. Dabei habe ich früher nie so geschwitzt, erst später, als ich – wann war denn das? So mit dreißig vielleicht, als ich im Ruderclub war, damals in Hamburg? Snare. Kickdrum.

Denken im Rhythmus der Schaufel. Eine Weile geht es so.

Dann fügt sich plötzlich Fränzis Säge ein, begleitet meine Bassline. Du hast Post, singt sie. Du hast Post.

So laut ist die Säge, dass ich aus dem Tritt komme. Ich versuche ihr einen anderen Text zu geben: Schnee und Eis. Mir ist heiß. Aber sobald ich mich nicht mehr darauf konzentriere, erklingt wieder Fränzis Stimme in meinem Kopf. Du hast Post. Mit österreichischem dickem P. Fast wie Bost. Du hast Bost.

Stopp.

Ich übernehme die Säge, sage ich.

Fränzi hält irritiert inne. Es hat offenbar anders geklungen, als ich dachte.

Ist es in Ordnung, wenn wir mal tauschen?, füge ich hinzu. Mein Rücken …

Wie immer dauert es eine unbequeme Sekunde länger als bei anderen Leuten, bis sie antwortet.

Ja, sagt sie dann und nimmt mir die Schaufel aus der Hand.

Danke.

Ich säge. Schneller als Fränzi. Anders. Aber es hilft nicht, alles klingt wie Du hast Post.

Warum schreibt mir Jan ausgerechnet jetzt? Was hat er sich dabei gedacht? Wahrscheinlich nicht viel. Vermutlich hält er sich sogar für besonders pfiffig. Das entspräche seiner Art von Humor. Wo du gerade sowieso im Eis bist, Schwesterchen, hier ein Gruß aus alter Zeit. Dabei weiß er genau, dass unsere E-Mail-Adresse nur für den Notfall gedacht ist, dass ich hier sicher keinen Kopf für alte Geschichten habe. Und dass ich ohnehin nichts davon hören will, weiß er auch. Das haben wir vor Ewigkeiten geklärt.

Scott und Amundsen.

Du und ich und Jan. Das ist hundert Jahre her.

Ich lege noch mehr Tempo zu. Die Eisspäne fliegen, das Sägeblatt verkantet.

Du verschwendest Energie, sagt Fränzi.

Ich zucke die Schultern, mache weiter. Immer schneller. Bis die Gedanken nicht anders können, als zu verstummen. Bis Thomas irgendwann sagt: Besser wird’s nicht mehr.

Ich reibe mir die Augen, stemme die Hände in die Hüften. Mir ist schwindelig, meine Muskeln weinen und schreien, die Arme gehören nicht mehr zu meinem Körper. Ich bin längst jenseits meiner Kraft.

Vermutlich hast du recht, sage ich.

Die anderen haben die Arbeit eingestellt, ohne dass ich es bemerkt habe. Ole sitzt auf den Stufen der Eistreppe. Er zeigt auf seinen Bauch.

Manche Leute haben Hunger.

Ich blinzle in Richtung Sonne. Sie steht verhältnismäßig tief, hat den Himmel in Brand gesetzt. Es muss schon spät sein.

Zu Hause würde ich auf die Uhr sehen. Aber dieser Ort kennt keine Zeitzone und hält sich ohnehin nicht an die bequeme Linearität, die wir gewohnt sind. In der endlosen Helligkeit des Polartages müssen wir selbst bestimmen, wann es Nacht wird. Und das ist meistens dann, wenn die Arbeit getan ist oder der Magen knurrt.

Wie wär’s mit Nudelsuppe?, frage ich.

Ole springt auf, ist mit drei großen Schritten oben.

Schon unterwegs!

Ich klatsche so aufmunternd es geht in die Hände.

Ihr habt es gehört, Leute. Packen wir ein.

Als ich endlich aus unserer eisigen Gruft steige, badet das Camp im Abendlicht. Die Ebene ist rot geflutet, unsere Spuren darin sehen aus wie schwarze Flüsse und Seen.

Ich spüre meine Beine kaum noch.

Aus dem Quartierzelt ertönt Oles Stimme. Heigh-Ho. Heigh-Ho. Home from work we go. Seine Energie möchte ich haben.

Zappa umrundet den Schacht, rüttelt an Seilen und Planen. Kontrolliert, ob wirklich alles gesichert ist. Einmal, noch ein zweites Mal. Er überlässt nichts dem Zufall. Unsere Ausrüstung ist unser Erfolg, und er ist ihr Hüter. Streng und gewissenhaft, wie man sein muss, wenn das nächste Ersatzteil tausend Kilometer entfernt ist.

Ist gut, Zappa, sage ich. Das hält bis morgen. Komm essen.

Er sieht mich an, wiegt den Kopf und fischt eine verknitterte Zigarette aus der Brusttasche seines Overalls.

Nudelsuppe?, fragt er, als hätte ich ihm gegrillte Heuschrecken angeboten. Die Kippe hängt in seinem Mundwinkel, während er spricht, und der Rauch klettert in einer dicken Wolke an seinem Gesicht hinauf. Er kneift leicht ein Auge zu.

Ja, Nudelsuppe, sage ich irritiert, ohne zu wissen, wovon.

Ich gucke noch mal eben nach dem Eclipse. Damit wir morgen zeitig anfangen können, zu bohren.

Wirst du eigentlich nie müde?, frage ich.

Nein, antwortet er und schlendert davon.

Der Qualm seiner Zigarette hängt wie eine Fahne hinter ihm. Ein Geruch wie ein Sommer, ein Gefühl von Wärme.

Es ist so lange her, dass ich geraucht habe.

Ole sitzt auf dem Stuhl und kippelt, wir anderen hocken auf Transportkisten und löffeln schillernde Fettaugen. Die heiße Suppe betäubt die Speiseröhre. Ein leidenschaftlicher Schmerz, der in jeder Zelle guttut, bis zum letzten Schluck.

Der Stuhl knackst verdächtig. Es ist unser einziger, einfach und aus Plastik, nicht sonderlich stabil, aber ich verkneife mir einen Kommentar. Wer gekocht hat, darf zum Essen auf dem Stuhl sitzen, so lautet die Regel, und wir halten uns daran. Ich weiß nicht mehr, wer sich diese Sitte ausgedacht hat, womöglich war es sogar meine Idee.

Diese Bestimmungen. Wir haben ein ganzes Arsenal davon aufgestellt. Deutsche, die wir sind; Menschen, die wir sind – seltsam und widersprüchlich. Sprechen unablässig von unserer großen Sehnsucht nach Freiheit, doch wenn die Freiheit sich zeigt, wie hier, anarchisch und fordernd, halten wir uns doch lieber an absurde Routinen, als sie zu ertragen.

Wer ist dran mit Abspülen?, fragt Thomas. Als könnte er in meine Gedanken hineinschauen.

Ich, sage ich. Gleich.

Nur einen Moment die Augen schließen. Ausruhen. Ich lehne mich zurück an die Stoffwand.

Oles griffiger Bariton und Thomas’ sahniger Bass. Zusammen klingen sie wie White Russian. Die beiden sprechen über einen Film, den ich nicht gesehen habe, über technische Details. Handkamera oder aus der Hand gefilmt. Wer erkennt schon den Unterschied, wenn es überhaupt einen gibt. Ich höre, wie Zappa sich über den Bart reibt, die Seiten seines Buches umblättert. Ein zerlesenes Stück Weltliteratur, das er immer in der Brusttasche trägt. Höre Fränzis Finger über die Computertasten huschen. Tipp, tipp, tipp. Ich bin kurz davor, mich von der Wohligkeit, den Geräuschen einlullen zu lassen, als sie sagt:

Du hast deine E-Mails noch nicht gelesen.

Wieso fängt sie jetzt schon wieder davon an?

Ich weiß, sage ich, ohne die Augen zu öffnen.

Da ist auch eine vom Chef. Und eine von Frau Klose.

Ja, Herrgott noch mal, ich hab’s vernommen!, platzt der Unmut aus mir heraus. Ich setze mich auf.

Verwundertes Innehalten. Selbst Fränzi schweigt.

Hastig stehe ich auf, versuche, mich wieder in das Oberteil meines Overalls zu zwängen, das wie eine halb abgestreifte Schlangenhaut an mir herunterhängt, aber es ist alles verdreht, in Eile ausgezogen, die Ärmel auf links. Ich lasse sie baumeln.

Ganz schön eng hier, sage ich, steige über Thomas’ Beine, stütze mich auf Zappas Schulter ab.

Erst am Ausgang bemerke ich, dass sie mich alle ansehen.

Es war ein anstrengender Tag, sage ich. Wir haben morgen viel vor. Ich muss wirklich ins Bett.

Eilig verlasse ich das Quartier.

Gute Nacht!, ruft Thomas hinter mir her.

Die Irritation in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Dabei kann sie kaum größer sein als meine.

Ich steuere mit schnellen Schritten auf mein Zelt zu, ohne dem ungestümen Farbenspiel am Himmel Beachtung zu schenken, ohne den Windmesser zu checken oder das Thermometer, ohne mir die Zähne zu putzen. Routinemäßig mache ich mich bettfertig und krieche in den Schlafsack. Ziehe die Mütze auf, die Kapuze fest zu, mache mich klein, ganz klein, und halte die Luft an.

Vielleicht findet mich der Schlaf vor den Gedanken, dann müssen sie sich ein anderes Opfer suchen. Vielleicht übersehen sie mich.

Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu. In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken. Rosen, Tulpen, Nelken, soll’n sie doch verwelken. Ich bin klein, mein Herz ist rein … es wird eine Seehundschnauze sein?

Ich weiß, ich habe keine Chance.

Hier draußen bin ich leichte Beute, und du hast mich noch immer erwischt.

Ausrufezeichen! Punkt daneben. Dich vergess ich nie im Leben.

Eine singende Schiffsglocke. Jubelnde Menschenmengen.

Gute Reise! Gute Reise!

Bald darauf das Kratzen von Schlittenkufen auf Eis, vielstimmiges Hundegebell und der erbittert heulende Wind.

Scott: Alles hat sich schon jetzt gegen uns verschworen! Amundsen, das Wetter, die Tiere … und wir stehen erst am Anfang.

Shambles Camp.

Evans: Die Ponys, Scott! Ich glaube, jetzt sind sie wirklich am Ende.

Scott: Dann erledigen Sie das, Evans.

Evans: Jawohl, Sir.

Peng. Peng. Peng.

Scott: Bald haben wir es geschafft, lumpige fünfzig Kilometer noch bis zum Pol. Wir müssen hinkommen, koste es, was es wolle!

Oates: Was ist denn das? Eine Flagge? Ein Zelt?

Scott: Wir sind zu spät. Amundsen war schon da. Alle Träume dahin!

Scott: Nach der Enttäuschung jetzt auch noch dieser schreckliche Rückweg.

Wilson: Evans kann nicht mehr.

Bowers: Oates will uns nicht länger zur Last fallen.

Scott: Halbe Rationen, kaum Schlaf.

Und immer der Wind.

Scott: Wir sitzen fest. Nur achtzehn Kilometer vom Depot entfernt!

Bowers: Dieser verdammte Sturm.

Scott: Wir können jetzt nicht mehr auf Besserung hoffen. Auch Bowers und Wilson sind heimgegangen. Um Gottes willen, sorgt … für … unsere … Hinterbliebenen!

Den Blick im Inneren verloren, lauschten Jan und ich Scotts Worten nach, bis sie im Rauschen erstarben. Er hatte eine tapfere Stimme – bis zum Schluss. Jedenfalls auf unserer Hörspielschallplatte.

Die Nadel sprang mit rhythmischem Knacksen immer wieder über das Ende der Rille.

Umdrehen. Umdrehen. Umdrehen.

Ich spürte Jans nackte Zehen an meinen Waden. Er bohrte seine Füße fordernd zwischen mich und das Sofapolster.

Hör auf damit!, sagte ich.

Geh du, sagte er.

Geh doch selber.

Der Weg vom Sofa zum Dual war weit und unbezwingbar. Gletscherspalten, Schneeverwehungen, tote Männer. Alles echt und wahr. Ich hatte bisher nichts gewusst von der Unerbittlichkeit des Schicksals. Das Gruseln, das sie mir bereitete, war neu für mich. Es legte sich auf meine Haut wie ein feuchtes Tuch und ließ mich schaudern.

Jans Zehennägel kratzten beharrlich über mein Bein.

Hör endlich auf mit deinen Stinkquanten!

Aus den Lautsprechern drang noch immer das fordernde Endlosknistern. Umdrehen. Umdrehen.

Ich stierte Jan an. Er sah stur zurück.

Nini!, schrien wir schließlich unisono und fügten nach einer kurzen Pause hinzu: Um-dre-hen!

Der Ruf verteilte sich durch Flure und Zimmer. Jan trat nach mir, und ich kniff ihn halbherzig.

Blödmann, sagte ich, mehr aus Prinzip. Eigentlich war mir nicht nach Streit zumute.

Unsere Großmama kam aus der Küche, mit erhitztem Gesicht und Spülhänden. Sie musterte uns kopfschüttelnd.

Antarktis im Hochsommer, sagte sie. Also ehrlich, fällt euch nichts Besseres ein!

Sie stellte einen Teller mit Heidesand neben uns auf den Couchtisch und wischte sich die Hand an der fadenscheinigen Küchenschürze ab, bevor sie mit zwei Fingern vorsichtig den Tonarm abhob, die Platte umdrehte und die Nadel wieder aufsetzte.