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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

DER AUTOR
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Foto: © Gesche Jaeger
Dr. Lutz van Dijk, geboren 1955 in Berlin, deutsch-niederländischer Schriftsteller, war zunächst Lehrer in Hamburg und später Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam. Seit 2001 lebt er in Kapstadt, wo er sich als Mitbegründer der Stiftung HOKISA (Homes for Kids in South Africa, ) für von HIV und Aids betroffene Kinder und Jugendliche einsetzt.
 
Näheres über Lutz van Dijk und seine Arbeit als
Schriftsteller unter:

Von Lutz van Dijk ist bei cbj und cbt erschienen:
Von Skinheads keine Spur (30013)
Der Partisan (30049)
Anders als du denkst. Geschichten über das erste Mal
(30074)
Der Attentäter. Hintergründe der Pogromnacht 1938:
die Geschichte von Herschel Grynszpan (30108)
Township Blues (30109)
Verdammt starke Liebe (30213)
Leben bis zuletzt. Geschichten von Freundschaft,
Liebe und Tod (30220)
»Zu keinem ein Wort!« Überleben im Versteck (30316)

Dieses Buch ist Nkosi Johnson (1989 bis 2001) gewidmet, der im Alter von elf Jahren vor rund 12 000 Teilnehmern der Welt-AIDS-Konferenz 2000 im südafrikanischen Durban über sein Leben als AIDS-kranker Junge berichtete und sich für kostenlose AIDS-hemmende Medikamente für alle Menschen einsetzte, lange bevor die Regierung dazu bereit war. Nkosi starb am 1. Juni 2001, kurz nach seinem zwölften Geburtstag.
 
LUTZ VAN DIJK

»Glaube an dich selbst.
Wenn du positiv bleibst –
selbst wenn nicht alles so läuft,
wie du es willst -,
wirst du irgendwann verstehen,
dass du mit einem bestimmten Sinn lebst
und dass deine Zeit kommen wird...
Ich würde mir wünschen,
dass mich Menschen später einmal als jemanden erinnern,
der versucht hat,
anderen in ihrem Leben Mut zu machen.«
 
Lucas Radebe,
geboren 1969 im Township Soweto bei Johannesburg,
mehrere Jahre Kapitän von Bafana Bafana,
der Fuβballnationalelf Südafrikas

Kwishawa
Unter der Dusche
Ein kräftiger Wasserstrahl prasselt auf meinen Kopf. Es spritzt in alle Richtungen, die heiße Flut strömt über Schultern, Rücken und Bauch nach unten und spült die letzten Schaumreste von der Haut... Meine Augen sind halb geschlossen. Ich ziehe den nach Seife und Chlor riechenden Dampf durch die Nase. Tief einatmen, langsam zur Ruhe kommen. Die meisten Muskeln sind noch hart von der Anspannung des Spiels, am rechten Oberarm und der Schulter spüre ich dumpfes Pochen – eine schmerzhafte Prellung und ein paar Schürfwunden von meinem Sturz am Ende der zweiten Halbzeit.
Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist.
Vom Eingang zu den Mannschaftsduschen her höre ich Andile meinen Namen rufen. Er ist schon angezogen, aber seine Stimme klingt noch immer aufgeregt: »Themba, komm endlich! Der Boss wartet schon auf dich, um dir zu gratulieren. Und all die Spinner vom Fernsehen – so ein Tor bekommen die nicht alle Tage geliefert!« Und mit einem freundschaftlichen Grinsen fügt er hinzu: »Alle wollen nur dich... Hast du die Frauen gesehen, die am Ausgang auf Autogramme warten? Mann, heute kannst du alles haben!«
Andile Khumalo ist viel älter als ich, bestimmt schon fünfundzwanzig oder so. Er ist der Star im Mittelfeld von Bafana Bafana und kein bisschen eifersüchtig. Seine Freude ist ehrlich. Als ich vor vier Monaten zur Nationalelf kam, zog er mich nach dem ersten oder zweiten gemeinsamen Training brüderlich zur Seite und sagte leise: »Lumka – pass auf, Kleiner! Die wollen dich hier nur austesten. Wenn nicht alles supercool läuft, bist du ganz schnell wieder draußen. So geht es den meisten. Fußball ist kein Spiel. Hier geht’s um Kohle, knallhart. Dein Arsch ist hier nur so viel wert wie deine Leistung.«
Andile ist aus dem Eastern Cape wie ich, allerdings nicht vom Land, sondern aus der Stadt, aus iMonti oder East London, wie die Weißen sagen. iMonti ist eine Küstenstadt mit großem Hafen und sogar einem eigenen Flughafen. Ich dagegen bin zusammen mit Nomtha, dem wichtigsten Mädchen in meinem Leben, aus einem armseligen Dorf gut zweihundert Kilometer nördlich von iMonti abgehauen. Aus jenem hügeligen Gebiet von Qunu, das nur bekannt geworden ist, weil Nelson Mandela dort geboren wurde. In Mvezo, einem Dorf oberhalb des Mbashe-Flusses. Ihm zu Ehren steht dort heute ein Museum. Das ist aber auch schon alles. Die meisten Straßen sind nach wie vor nicht asphaltiert, die Leute leben in Häusern aus Lehm und Stroh und geizen dem kargen Boden ab, was die beinah überall grasenden Ziegen, Schafe und Kühe übrig lassen. Andile zieht mich bis heute damit auf: »Was, du kommst aus Qunu? Wie hast du denn da Fußball spielen können? Dort gibt es doch nur Hügel! Bestimmt habt ihr jede Halbzeit gewechselt – einmal den Berg raufschießen und danach hinterm Ball hinabrennen, was?« – »Kanye – genau so!«, antworte ich ihm und lache. Wenn der wüsste. Ich behalte bis heute für mich, dass wir früher tatsächlich nur ein aus langen Ästen gebasteltes Tor hatten und keiner von uns Schuhe besaß, von Fußballtöppen ganz zu schweigen.
Das scheint hundert Jahre her zu sein, unser Leben im Dorf: knapp zehn Hütten, die meisten oorontabile, traditionelle Rundhäuser, über vier Hügel und zwei Täler verteilt. Hier sind wir geboren, meine zwei Jahre jüngere Schwester Nomtha und ich. Hier haben wir die ersten Gerüche von Mutters Haut und ihrem weichen, warmen Tuch wahrgenommen, mit dem sie uns auf den Rücken band. Hier haben wir zum ersten Mal das kräftige Gras und die feuchte Erde unter den bloßen Füßen gespürt. Hier haben wir uns vor den unheimlichen Geräuschen der Nacht gefürchtet, wenn der Sturm vom Meer am Strohdach zerrte, und die Beruhigung am frühen Morgen erlebt, wenn Mutter als Erste aufstand und dünne Zweige zerbrach, um Feuer zu machen.
Nomtha wurde meist nach mir wach. Wie gern beobachtete ich sie im Schlaf, damals schon: Die langen dunklen Wimpern, das schmale Gesicht mit den vollen Lippen und sanften Wangen. Nomtha – alles ist sie für mich, meine ganze Familie, jedenfalls alles, was von meiner Familie übrig geblieben ist, seit wir Onkel Luthando und Großvater verlassen haben und Mutter im Sterben liegt.
Meinen Vater habe ich nie wirklich kennen gelernt. Ich war vier oder höchstens fünf, als er irgendwo in den Minen um iGoli, dem riesigen Johannesburg, verschwand und einfach nicht mehr zurückkehrte, nicht mal mehr zu Weihnachten wie die Jahre zuvor. Lange wussten wir Kinder nicht warum und erfanden alle möglichen Erklärungen: Vielleicht hatte es einen Unfall im Bergwerk gegeben? Vielleicht waren da aber auch eine neue Frau und eine andere Familie, weit weg von uns? Von einem auf den andern Tag sprach Mutter nicht mehr über Vater. Es war beinah so, als hätte es ihn nie gegeben, und viele Jahre lang hatten wir keine Ahnung, warum er uns in diesem winzigen Dorf in Qunu allein gelassen hatte. Eines jedoch stand fest: Mit Luthando, unserem Onkel, wollten wir nichts mehr zu tun haben. Nie mehr.
 
Nomthas vollständiger Name lautet Mthawekhaya und bedeutet in Xhosa: diejenige, die Licht im Haus verbreitet. Aber als sie klein war, konnte sie diesen Namen selbst nicht aussprechen, und so haben wir sie eigentlich schon immer nur Nomtha gerufen...
Jetzt sitzt sie vermutlich noch irgendwo draußen im sich langsam leerenden Stadion, obwohl ich ihr den Weg zum Presseraum genau beschrieben habe. Aber so ist Nomtha – sie mag nicht in übervollen Räumen mit lauten Menschen sein, und sie entscheidet selbst, was für sie gut ist und was nicht. Sie wird hinterher auf mich warten. Egal wie es ausgeht. Egal was Andile und alle anderen Spieler von Bafana Bafana sagen werden. Egal ob sie mich hinterher überhaupt noch mitspielen lassen werden.
Entschlossen drehe ich den Warmwasserhahn zu und halte die Luft an, als nur noch ein kalter Strahl über meine Haut strömt. Dann ist es vorbei und ich trete tropfnass aus der Duschkabine. Ich schüttele den Kopf, um das Wasser in den Ohren loszuwerden. Andile steht immer noch am Eingang. Ob er etwas ahnt?
»Ndiyeza – ich komme!«, rufe ich ihm zu und schnappe mir ein Handtuch.
Er winkt ungeduldig, rührt sich jedoch nicht von der Stelle und wendet auch den Blick nicht ab, als ich mich abtrockne.
Ich streife mir meine Trainingshose und eines unserer T-Shirts über. Es gibt kein Zurück mehr. Nicht für mich.
Meine Geschichte beginnt mit Andile und jenen drei Fragen, die er mir lange vor jener Pressekonferenz stellte, nur mir allein, und die ich nicht gut zu beantworten wusste. Ich stotterte damals im Bus mehr oder weniger herum, und obwohl er wie immer geduldig blieb, merkte ich, dass er danach keineswegs beeindruckt war. Dabei war Andile der letzte Mensch, den ich enttäuschen wollte. Nicht weil er der große Bafana-Star war, sondern weil er mich etwas gefragt hatte, womit er mir indirekt zu verstehen gab: ›Themba, ich nehme dich ernst. Vielleicht können wir echte Freunde werden. Du bist nicht so ein Großmaul wie die anderen. Mit dir rede ich nicht nur über Frauen, Autos und Knete, wie das im Klub so üblich ist, um anzugeben. Ich frage dich, weil ich wissen will, wer du bist und was dir wichtig ist im Leben. Und wen du wirklich liebst.‹ So genau hat er das nicht gesagt, aber mir ist heute klar, dass es ihm darum ging.
Ich entschied mich, Andile eine ehrliche Antwort zu geben. Auch wenn es nicht einfach ist. Auch wenn es lange dauern wird, genau zu berichten, wie alles gekommen ist – alles, mein ganzes verrücktes Leben, bis zu dem Augenblick unter der Dusche...
 
Es war im Bus auf der Rückfahrt nach einem langen Trainingstag im Ellis Park Stadion. Wir hatten uns auf ein Freundschaftsspiel gegen Südafrikas alten Fußballrivalen Nigeria vorbereitet. Andile und ich kannten uns höchstens drei Wochen. Es war ein heißer Tag gewesen und Steve, unser Trainer, hatte das Letzte aus uns herausgeholt. Jetzt war es dunkel, der Bus rollte über die Autobahn zurück ins Camp und nur ab und zu wurde Andiles Gesicht von den Scheinwerfern entgegenkommender Autos schlaglichtartig beleuchtet. Eine Weile hatte er die Augen geschlossen, und ich dachte schon, er sei wie einige andere aus der Mannschaft längst eingeschlafen. Aber dann stieß er mich sanft in die Seite, und als ich ihm den Kopf zuwandte, begann er zu fragen: »Themba, was weißt du über deine Vorfahren?«
Obwohl es ein moderner Bus mit Klimaanlage und allem war, brummte der Motor so laut, dass ich nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
»Wohin wir fahren?«
Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Vorfahren, Mann, deine Eltern und Großeltern und deren Eltern und so weiter... Woher du kommst! Hast du eine Ahnung?«
Ich erschrak, weil ich merkte, wie ernst es ihm war, und fragte unsicher zurück: »Wie meinst du denn das? Meinen Vater habe ich nie richtig kennen gelernt und meine Mutter ist...«
Ich unterbrach mich, weil ich ihm bis dahin noch nicht erzählt hatte, was mit Mutter geschehen war, und auch nicht vorhatte, das ausgerechnet jetzt in diesem rumpelnden Bus zu tun. Ich räusperte mich und gab den Ball erst mal zurück: »Was weißt du denn über deine Vorfahren?«
»Ich träume viel«, sagte er, wobei er mich immerzu ansah und jedes seiner Worte deutlich betonte, ohne dabei lauter zu werden. »Letzte Nacht habe ich von einem alten Mann geträumt, der mir irgendwie bekannt vorkam, obwohl ich seinen Namen nicht wusste. Er sprach mich an und sagte: ›Andile, du bist mein Sohn.‹ Und ich antwortete im Traum: ›Unmöglich, mein Vater sieht völlig anders aus!‹ In dem Moment brach ein ungeheures Unwetter mit Blitz und Donner los, und er nahm mich beschützend in den Arm und flüsterte mir zuerst auf Xhosa und dann auf Englisch ins Ohr: ›Umfazi uzalela omye… Jeder Mensch hat viele Kinder und alle Kinder haben viele Eltern...‹«
»Und dann?«
»Dann bin ich aufgewacht und war ganz nass vom Regen, aber das war nur mein Schweiß. Mein Herz klopfte wie wild, und ich hätte schwören können, dass der Alte noch im Raum war. Aber als ich Licht machte, war alles wie immer. Das Fenster stand offen und draußen bewegte sich kein Blatt am Baum.«
Andile schaute mir weiter in die Augen, als hoffte er, ich könnte ihm seinen Traum deuten oder wenigstens eine eigene beeindruckende Traumerfahrung mit Vorfahren beisteuern. Aber in meinen Träumen nahm mich niemals jemand in den Arm, schon gar kein alter Mann. In meinen Träumen griffen mich riesige Ungeheuer an, die mit Schwertern und Lanzen auf mich einstachen und vor denen ich mich oft nur mit einem Sprung aus großer Höhe retten konnte. Oder Mutter schrie im Fieber, so wie sie wirklich geschrien hat, als sie noch bei uns daheim war... Sie schrie nach mir und ich konnte nicht zu ihr. Ich war gefesselt mit klebrigen Seilen und Tauen, die mir den Atem nahmen, bis ich endlich aufwachte oder Nomtha mich wachrüttelte.
Zu Andile sagte ich: »Nomtha glaubt wie du, dass die Vorfahren über uns wachen und uns beschützen…« Beinah hätte ich hinzugefügt: »Ich aber nicht!« Doch ich wollte Andile nicht kränken und hielt den Mund.
Völlig unerwartet kam seine zweite Frage: »Nomtha ist eine Klassefrau! Wie lange bist du schon mit ihr zusammen?«
Hatte ich ihm tatsächlich nie erzählt, dass Nomtha meine Schwester ist? Unwillkürlich musste ich lachen. »Nomtha ist einsame Spitze«, bestätigte ich und grinste.
Auch auf seinem Gesicht zeigte sich nun ein Grinsen, jenes berühmte, unverschämt charmante, mit dem er auf den meisten seiner Fanpostkarten abgebildet ist und bei dem angeblich viele Mädchen innerhalb von Sekunden dahinschmelzen.
»Ha!«, rief er. »Garantiert auch im Bett, oder?«
»Überall«, stimmte ich ihm zu, und wir lachten beide. Dann sagte ich ganz ruhig: »Nomtha ist meine Schwester.«
Zunächst reagierte Andile gar nicht. Er schien angestrengt nachzudenken. Schließlich wandte er sich mir wieder zu und stellte ebenso ruhig seine dritte Frage: »Was bedeutet sie dir?«
Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und schaute auf meiner Seite hinaus auf die dunkle Autobahn. Ich spürte, dass er mich noch immer ansah, und flüsterte mehr, als dass ich sprach: »Sehr viel...«
Diesmal bohrte Andile nicht nach. Wahrscheinlich hatten die Motorengeräusche meine Antwort übertönt. Es war nicht so, dass ich ihm nicht antworten wollte. Im Gegenteil – nur zu gern hätte ich alles mit ihm geteilt. Mit seinen Fragen nach den Vorfahren und der Liebe hatte er bis in meine tiefste Seele gezielt: Wo komme ich her? Wie lange wird Mutter noch bei uns sein? Und was bedeutet Nomtha für mich wirklich? Mehrfach öffnete ich den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Andile schaute eine Weile zu mir, lehnte sich dann jedoch zurück, als nichts von mir kam. Schließlich merkte ich, wie er sich entspannte und sein Kopf langsam gegen meine Schulter sank. Er atmete tief und ruhig, ohne zu schnarchen. Ich saß hellwach neben ihm und beschloss, ihm keine einzige Antwort schuldig zu bleiben. Irgendwann würde ich ihm und mir erklären können, wie alles gekommen war. Auch ich schloss die Augen, überließ mich dem Geschaukel des Busses und sah allmählich deutliche Umrisse vor mir aus dem Dunkel auftauchen …

Ebuzuku ngasemlanjeni
Nachts am Fluss
Wo ich geboren bin, ist die Nacht ebenso voller Leben wie der Tag. Wenn die Tiere des Tages und die meisten Menschen schlafen gehen, übernehmen die Nachtwesen das Kommando. Viele Raubtiere jagen in der Nacht, und manche Geister erhalten erst zu bestimmten Nachtstunden die Kraft, mit der sie mühelos auch jene in ihren Bann schlagen, die sich als vernünftig bezeichnen und niemals zugeben würden, an Geister zu glauben. Und die Nacht kommt schnell. Wenn die Sonne als roter Feuerball hinter den Hügeln versinkt, lässt sie noch einmal alle Wolken dicht über dem Horizont aufflammen, bevor es fast schlagartig dunkel wird, stockdunkel, bis irgendwann das ferne, kalte Licht des Mondes alle Schatten zum Tanzen bringt.
Auf den Hügeln und in den Tälern von Qunu gibt es heute keine Löwen oder Elefanten mehr, aber es gibt Luchse und Schakale, die nachts in die Ställe einbrechen, um sich Hühner oder Gänse zu holen. Manchmal kann man auf einem kräftigen Zweig die glühenden Augen einer großen Eule erkennen, die sich langsam öffnen und schließen und im Dunkeln so viel besser sehen als bei Licht. Schwärme von Fledermäusen schwirren beinah lautlos hin und her in ihrer Jagd auf Mücken und andere Insekten. Und an den Flüssen stimmen Frösche und Kröten am Abend ein vielstimmiges Konzert an, das über Stunden anschwillt und dann, wie von einem unsichtbaren Dirigenten koordiniert, innerhalb weniger Momente abbricht.
In einer solchen Nacht liegen Nomtha und ich hellwach unter unserer Decke und deuten einander die verschiedenen Geräusche. Ich bin höchstens zwölf und Nomtha zehn Jahre alt.
»Das Scharren im Dach ist ein Gecko.« Nomtha flüstert, um Mutter nicht aufzuwecken. Sie ist, müde von der schweren Arbeit auf dem hügeligen Maisfeld, seit langem eingeschlafen.
»Ich glaube, es sind zwei, die miteinander kämpfen«, vermute ich.
»Kann auch sein«, stimmt sie zu und versucht, im schummrigen Mondlicht, das durch einen Spalt beim einzigen Fenster in den Raum fällt, etwas zu erkennen. Der fahle Lichtstrahl durchmisst die kleine Rundhütte, die wir zu dritt bewohnen, und trifft schließlich auf das einzige Foto, das wir von Vater haben und das in einem blank polierten, silbern glänzenden Metallrahmen direkt neben Mutters Kopfkissen steht.
Plötzlich vernehmen wir ein deutliches Klopfen an der Lehmmauer gleich neben der Holztür, die schon länger nicht mehr ganz stabil in den Scharnieren hängt und bereits bei sanftem Wind ein rhythmisches Knarren erzeugt, an das wir uns längst gewöhnt haben. Das Klopfen kommt mir unheimlich vor wie alles in der Nacht, was ich mir nicht erklären kann. Es scheint aus dem Innern der getrockneten Lehmblöcke und doch wie aus großer Ferne zu kommen und klingt, als würde jemand versuchen, die Mauern mit gewaltigen Faustschlägen zum Beben zu bringen.
Nomtha dagegen richtet sich auf und zieht mich aufgeregt an der Hand: »Yiza – komm, Themba, das ist vielleicht ein Geist, den wir befreien müssen!«
Obwohl auch ich neugierig bin zu erfahren, woher das Klopfen stammen könnte, scheint mir die Vorstellung, einen Geist zu befreien, weniger verlockend: »Und was machen wir mit ihm, wenn wir ihn befreit haben?«
Nomtha ist um keine Antwort verlegen: »Das kann der Geist doch selbst entscheiden...«
Ich kenne Nomtha gut genug, um zu wissen, dass sie nicht so schnell lockerlassen wird. Da Mutter tief und ruhig schläft, erhebe ich mich so leise wie möglich, greife nach dem eisernen Feuerhaken, der sich noch warm anfühlt, und schleiche auf Zehenspitzen bis zur Tür. Nomtha ist dicht hinter mir und beide halten wir den Atem an. Da ist es wieder – das dumpfe Klopfen einer Faust oder vielleicht auch der Huf eines riesigen Tieres?
Plötzlich ist nichts mehr zu hören. Hat der Geist uns bemerkt und wartet nun darauf, dass wir die Tür öffnen, damit er uns packen und in die Geisterwelt entführen kann? Nomtha sieht sich weiter als heldenhafte Retterin: »Du darfst ihn nicht erschrecken mit deinem Haken... Mach endlich die Tür auf, damit wir sehen können, woher das Klopfen kommt!«
Dieses Mädchen hat wirklich vor gar nichts Angst. Vorsichtig schiebe ich den Holzriegel zurück, mit dem wir nachts die Hütte von innen verschließen. Den Haken halte ich in der erhobenen rechten Hand. Mit der anderen ziehe ich die Tür langsam auf, wobei ich sie leicht anhebe, um das Knarren zu dämpfen. Ich spüre Nomthas warmen Atem im Rücken, als wir beide um die Ecke schauen, dorthin, von wo wir noch Sekunden vorher das Klopfen vernommen haben.
»Ubona ntoni – was siehst du?«, presst Nomtha aufgeregt hervor. Sie findet unsere nächtliche Erkundung herrlich aufregend, kein Zweifel.
»Andiboni nto – ich sehe nichts...«, flüstere ich zurück und trete einen Schritt zur Seite, damit sie sich selbst überzeugen kann.
Aber da hat sie schon mit beiden Händen meine Arme gepackt und ruft mit kaum noch unterdrückter Stimme: »Phaya, phaya – dorthin musst du schauen!« Sie zeigt aufgeregt in Richtung des Pfades, der zum Fluss hinunterführt. Erst jetzt sehe ich, was sie schon vor mir bemerkt hat und was nun auch mich augenblicklich fasziniert: Kleine Lichter scheinen dort auf und nieder zu schweben und sich langsam in Richtung des Flusses zu bewegen. Im Mondschatten großer Bäume können wir gerade noch das Ende einer Prozession dunkler, schweigender Gestalten erkennen, die mit rhythmischen Bewegungen zum Ufer hinabsteigen.
»Sind das Geister?«, flüstert mir Nomtha fragend ins Ohr. Sie ist nicht ohne weiteres bereit, ihre Befreiungsidee aufzugeben.
»Das sind Sangomas. Sie scheinen eine heilige Versammlung am Fluss abzuhalten.« Es tut mir gut, dass ich als älterer Bruder ihr endlich doch noch etwas erklären kann. Einmal hatte mich Mutter zu einem Treffen der traditionellen Heiler von Qunu mitgenommen, als das erste Steinhaus des Dorfältesten von Gonya, einer größeren Siedlung nicht weit von uns, eingeweiht wurde und mehrere Schafe und eine Kuh geschlachtet worden waren. Auch damals ging es bis spät in die Nacht, und es brannten viele Kerzen, was ich sehr schön fand. Und nun erinnere ich mich auch, dass ich genau dort einen ähnlich dumpf vibrierenden Klang schon einmal gehört hatte, der von großen, bauchigen Trommeln herrührte. Bevor ich es Nomtha mitteilen kann, hören wir es – nun aus großer Ferne – erneut: Die Heilerinnen und Heiler sind am Fluss angekommen und haben nach dem Abstieg das Schlagen ihrer Instrumente wieder aufgenommen.
»Die Geister!«, ruft Nomtha so laut, dass ich mich besorgt nach Mutters Bett umschaue. Durch die offene Tür fällt nun mehr Mondlicht in die Hütte, und ich kann deutlich erkennen, dass Mutter sich zwar unruhig hin und her wälzt, aber offensichtlich nicht aufgewacht ist.
Ohne meine Zustimmung abzuwarten, läuft Nomtha mehrere Schritte voraus, bevor sie sich umdreht und mir ungeduldig zuwinkt: »Vala ucango – mach die Tür zu... und komm!« Damit dreht sie sich auch schon um und folgt dem Pfad, auf dem kurz zuvor die Sangomas vorbeigezogen sind.
Ich weiß von Mutter, dass es heilige Treffen gibt, bei denen Kinder nicht zugelassen sind. Außerdem ist es uns ganz sicher nicht erlaubt, nachts ohne zu fragen unsere Hütte zu verlassen und zum Fluss zu laufen. Aber ich darf Nomtha auch nicht einfach allein lassen und renne leise schimpfend hinter ihr her: »Yima, Nomtha – bleib stehen! Was fällt dir ein!«
In der Dunkelheit kann ich nicht so schnell laufen, und mehrmals peitschen mir Äste ins Gesicht, die ich zu spät erkenne und die Nomtha, die mindestens einen Kopf kleiner ist als ich, nicht getroffen haben. Als ich sie endlich erwische, sind wir schon beinah am Flussufer angekommen, wo die Trommeln wieder schweigen und die Sangomas sich in einem Halbrund um eine der älteren Frauen gestellt haben. Wir können uns gerade noch hinter einem dichten Gebüsch verbergen, um nicht entdeckt zu werden. Da plötzlich Stille herrscht, wage ich nicht, mit Nomtha zu sprechen. Beide starren wir fasziniert auf das Schauspiel vor unseren Augen.
Die brennenden Kerzen sind jetzt in der Mitte der Versammlung im Kreis aufgestellt und erleuchten schemenhaft die in lange Decken gewickelten Heilerinnen und Heiler und ihre zum Teil hell gefärbten Gesichter. Die alte Frau in der Mitte schöpft aus einem großen Eimer eine weiße Flüssigkeit in Flaschen, die reihum gereicht werden. Nachdem jeder einen Schluck genommen hat, wird der Rest der jeweiligen Flasche unter gebetartigem Gemurmel in den Fluss gegossen. Erst danach ergreift die alte Frau eine der kleineren Trommeln, auf die sie mit einem Stock einen bislang nicht gehörten Rhythmus schlägt, der jedes ihrer Worte unterstreicht.
Erst beim zweiten oder dritten Mal kann ich die Frage verstehen, die sie singend an die Versammlung richtet: »Zikhalela ntoni izinyanya?«
Nomtha ist inzwischen ungeduldig geworden und fragt so leise wie möglich: »Was will die Frau von den anderen?«
Flüsternd antworte ich: »Sie fragt, warum die Geister weinen.«
»Was?« Nomthas angeborene Geisterkenntnis hat sie zum ersten Mal im Stich gelassen.
Doch dann macht die alte Frau unmissverständlich deutlich, warum die Geister traurig sind. Wie in einer Predigt ruft sie: »Die Herzen der Geister sind schwer, weil so viele junge Männer von uns fortgehen...«
Die Versammlung antwortet wie ein Chor: »Siyavuma – wir stimmen zu!«
»So viele Väter und Brüder sind fort von uns, darum sind die Geister traurig...«, setzt sie ihre Klage fort.
»Siyavuma!«
»So viele Kinder wachsen auf ohne Väter und die Familien sind zerrissen... darum weinen die Geister!«
»Siyavuma!«
Sie berichtet, wie es immer öfter geschieht, dass die Väter krank zurückkommen aus der Ferne, mit jener geheimnisvollen Krankheit ugawulayo, die so stark ist, dass sie Bäume fällen kann und alle Heilmittel machtlos sind. Manchmal kommen die Väter auch gar nicht mehr heim.
Während ich der alten Frau und ihrem Ritual noch gebannt zuschaue, merke ich plötzlich, wie Nomtha neben mir zu weinen begonnen hat. Ihr kleiner Körper zuckt kaum spürbar, aber ich erkenne, wie ihr Tränen über die Wangen laufen. »Hast du Angst?«, flüstere ich.
Sie schüttelt nur stumm den Kopf und deutet mit der Hand an, dass sie wieder nach Hause möchte. Es gelingt uns, unbemerkt von der Versammlung der Sangomas zum Pfad zurückzuschleichen und von dort in wenigen Minuten zu unserem Haus zu laufen. Als wir direkt davor bei dem kleinen Gemüsegarten ankommen, sehen wir beide gleichzeitig, dass die alte Holztür weit offen steht.
»Wo kommt ihr denn her, mitten in der Nacht?«, ruft Mutter und springt von ihrem Stuhl auf, den sie sich vor den Eingang gestellt hat, um den Hauptweg vor dem Haus im Auge behalten zu können.
»Siyaphila, Mama – wir sind okay!«, versuche ich, sie zu beruhigen. Doch da hat sie schon bemerkt, dass Nomtha geweint hat, und nimmt sie tröstend in den Arm.
»Was ist denn, meine kleine Tochter?« Ihre Stimme klingt kaum noch böse, vielmehr erleichtert, dass wir heil zurückgekommen sind.
Doch Nomtha, die nicht mal vor den größten Geistern Angst hat, schluchzt erneut und stößt schließlich hervor: »Uphi uTata – wo ist Vater? Warum ist er nie zu uns zurückgekommen?«
Ich spüre, wie sich etwas in Mutters Gesicht verändert, noch bevor Nomtha es bemerkt. Es ist, als würde die Sanftheit in ihrem Ausdruck verschwinden und einem tiefen Schmerz weichen. Sie wendet sich abrupt von uns ab und schaut eine Weile wie erstarrt auf das kleine Foto neben ihrem Bett. Auch wenn es im Augenblick zu dunkel ist, um Einzelheiten zu erkennen – jedem von uns ist dieses Foto so vertraut wie kein anderes. Es zeigt meinen Vater Vuyo als jungen Mann an einem Strand. Anfang zwanzig wird er sein, kaum älter. Er trägt nur eine weite lange Hose, sonst nichts. Sein bloßer Oberkörper lässt kräftige Schultern und Arme erkennen. Er hat sich an einen Felsen gelehnt, strahlt wie ein unbesiegbarer Held in die Kamera und hat die rechte Hand zur Faust erhoben. Seit er verschwunden ist, hat Mutter seinen Namen nicht mehr ausgesprochen.
Doch auch wenn wir jetzt in dieser besonderen Nacht die gleiche Spannung bei ihr wahrnehmen, die sie immer zeigt, wenn jemand nach ihm fragt, geht sie nun die paar Schritte zum Bett, nimmt das Foto in beide Hände, holt tief Luft und antwortet Nomtha leise: »Dein Vater... er ist noch immer in meinem Herzen. Auch wenn er uns damals verlassen hat und ich nicht einmal weiß, ob er noch lebt.«
Es ist Nomtha anzumerken, dass sie endlich mehr wissen möchte, genau wie ich. Leise trete ich dicht neben Mutter und wage schließlich eine möglichst harmlose weitere Frage: »Mama, hast du dieses Foto gemacht?«
Sie hebt den Blick und schaut durch die noch immer offene Holztür hinaus in die Nacht, ohne ein Wort zu sagen. Vom Fluss tönen die Trommeln jetzt nur noch leise, so als wären die Sangomas am Ufer inzwischen ein ganzes Stück weiter gen Norden gezogen. Mutter lauscht den fernen Trommelschlägen, als könnten sie ihr eine bislang unbekannte Botschaft bringen.
Wie mit einem inneren Ruck wendet sie sich uns dann plötzlich wieder zu: »Nein, das Foto hat einer seiner Freunde aus dem Untergrund aufgenommen, etwa zwei oder drei Jahre, bevor wir uns kennen lernten. Euer Vater hat damals Ausweise gefälscht für Leute, die sich verstecken mussten. Und dieses Foto war eine große Dummheit: Jener Strand war wie die meisten für Weiße reserviert. Euer Vater hat sich nicht nur einen Dreck darum gekümmert, sondern die Faust als Geste des Widerstands gereckt und sich, als wäre all das nicht genug, auch noch fotografieren lassen...«
Noch nie zuvor hat sie so viel auf einmal über Vater gesprochen. Das Foto in der Hand, setzt sie sich wieder auf den Stuhl, auf dem sie vorhin auf uns gewartet hat. Nomtha und ich hocken uns still neben ihr auf den Boden. Auf keinen Fall wollen wir durch ein falsches Wort unterbrechen, was Mutter endlich zu erzählen begonnen hat.

Kudala... uTata
Damals... Vater
»Vieles war so anders damals, anders als ihr es zum Glück jemals erlebt habt...«, sagt sie leise.
Mir ist sofort klar, über welche Zeit sie spricht. Ich weiß, dass es damals Gesetze gab, durch die Menschen wie wir nur deshalb, weil sie keine weiße Hautfarbe hatten, immerzu benachteiligt wurden: Sie mussten dort wohnen, wo die Weißen es ihnen vorschrieben, sie durften nicht auf den gleichen Bänken in der Bahn oder im Park sitzen wie die Weißen, und wenn sie irgendwo in einer Schlange anstanden und ein Weißer kam, wurde der immer zuerst bedient. Tatomkhulu, unser Opa, der allein in seiner Hütte etwas außerhalb unseres kleinen Dorfes wohnt, hat einmal berichtet, wie er von einem Farmer geschlagen wurde, nur weil er ihm und seiner Frau auf einem Feldweg nicht schnell genug ausgewichen war. Immerhin hatte Opa kurz danach noch gehört, wie die Frau ihren Mann wegen dieser Erniedrigung beschimpfte und die beiden darüber in Streit gerieten. »Das habe ich ihr nie vergessen«, hatte Tatomkhulu erzählt.
»Damals habe ich euren Vater kennen gelernt«, fährt Mutter fort, und ein zaghaftes Lächeln huscht über ihr Gesicht. »In jenen Tagen war er zur Hochzeit eines Onkels, der ihm früher das Schulgeld bezahlt hatte, zu Besuch in unser Nachbardorf gekommen. Eigentlich stammte er aus der damaligen Hauptstadt Umtata, aber seine Eltern hatten als Mitglieder einer verbotenen Organisation über Nacht ins Exil flüchten müssen. Er war damals noch ganz klein. So wuchs er zuerst bei einer Nachbarsfamilie auf. Aber sobald er alt genug war, begann er, in einem Bergwerk im fernen iGoli zu arbeiten und für sich selbst zu sorgen. In jenem Nachbardorf stand die einzige größere Kirche der Umgebung, in die ich jeden Sonntagmorgen in meinem besten Kleid zum Gottesdienst ging. Als ich eines Tages von der Kirche nach Hause lief, sah ich ihn auf einem Parkplatz gegenüber, wie er an einem alten Auto herumbastelte. Wir schauten einander lange an, er ölverschmiert und in abgerissenen Sachen, ich in meinem strahlend weißen Sonntagskleid. Ich fragte ihn: ›Gehst du nie in die Kirche?‹ Und er antwortete: ›Niemals!‹«
So hatte es also begonnen zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Nicht gerade romantisch, aber immerhin ehrlich.
»Bei der Hochzeitsfeier des Onkels haben wir uns dann richtig verliebt«, berichtet Mutter weiter. »Dass er sich mit ein paar Kollegen aus der Minenarbeiter-Gewerkschaft einer verbotenen Gruppe angeschlossen hatte, bekam ich erst bei seinem übernächsten Besuch in Qunu mit, als er unerwartet einen warnenden Anruf bekam und Hals über Kopf aufbrechen musste, ohne mir Näheres erklären zu können. Tatomkhulu hatte bis dahin keine gute Meinung von ihm, aber als er hörte, dass mein Freund ein Freiheitskämpfer ist, sagte er nichts Schlechtes mehr über ihn...«
Mutter holt tief Luft. Ich merke, dass der schwerste Teil ihres Berichts noch bevorsteht.
»Etwa ein halbes Jahr nach unserer Hochzeit kamen sie. Kurz zuvor hatte ich endlich eine Besuchsgenehmigung für iGoli erhalten, um für länger bei ihm sein zu können.« Mutter wischt sich nervös über die Augen, als wolle sie jene Erinnerung am liebsten verjagen. »Im Morgengrauen, als wir noch schliefen, traten sie die Tür unseres kleinen Zimmers ein, das wir bei einem Kollegen von ihm gemietet hatten. Sechs oder sieben schwer bewaffnete Sicherheitspolizisten richteten ihre Pistolen auf uns und schrien uns an, keine falsche Bewegung zu machen. Dann begannen zwei von ihnen, alles zu durchsuchen. Wir hatten damals noch kaum Möbel, aber die paar Sachen, die sie fanden, traten sie mit ihren Stiefeln kurz und klein. Als sie keine Waffen entdeckten, die seine Schuld hätten beweisen können, zerrissen sie vor Wut sogar mein neues Kleid, das an einem Bügel über dem Fensterrahmen hing. Schließlich packten sie uns beide grob an den Armen, rissen uns, so wie wir waren, aus dem Bett und stießen uns zu Boden. Dann legten sie uns Handschellen an, die tief in die Haut schnitten...«
»Mama...«, ruft Nomtha erschrocken und ergreift ihre Hand. Mutter scheint es kaum zu bemerken und spricht weiter, atemlos, als gäbe es nun kein Halten mehr.
»Als er sah, wie sie mich behandelten, trat er wie wild um sich und schrie sie an, dass ich von nichts wüsste und sie kein Recht hätten, mich auch nur anzurühren, und dass sie alle Verbrecher seien und ihr ganzer Unrechtsstaat sowieso am Ende sei, und wenn nicht einer der Polizisten mit seinem Sjambok so oft auf ihn eingeschlagen hätte, bis er bewusstlos zusammenbrach, dann hätte er noch lange nicht aufgegeben.«
Mutter bemerkt erst jetzt, wie fest Nomtha ihre Hand hält. Sie streicht ihr sanft über den Kopf, ist aber nun entschlossen, die ganze Geschichte zu erzählen.