KAPITEL ZWEI
An diesem Abend erwähnte ich Ben gegenüber nichts von dem Clown. Ich hatte Bessie gewarnt, ebenfalls zu schweigen. Als wir nach Hause gekommen waren, hatten wir uns ohne Umschweife an die Zubereitung des Abendessens gemacht, und so kam es, dass wir nicht einmal untereinander über das Erlebte redeten. Ich schämte mich wegen meiner Feigheit, als die mir mein Verhalten nun erschien. Außerdem war ich ein wenig beunruhigt wegen Tapley, auch wenn ich mir sagte, dass das wohl nur eine Projektion meiner eigenen Angst war.
Was ich Ben erzählte, war, dass wir Mrs. Jamesons Untermieter getroffen hatten. Ich überbrachte seine Grüße und seine Hoffnung, Ben möge London von Halunken befreien.
»Wir geben unser Bestes«, entgegnete Ben ironisch. »Doch es ist ein bisschen wie bei diesem griechischen Monster. Man schlägt einen Kopf ab, und sieben neue Köpfe wachsen nach.«
»Du meinst die Hydra«, sagte ich.
»Genau. Die Londoner Unterwelt ist wie die Hydra. Wir nehmen einen Ganoven fest und stellen ihn vor Gericht. Der Richter steckt ihn ins Gefängnis. Doch noch bevor der Prozess zu Ende ist, machen neue Ganoven da weiter, wo der erste aufgehört hat.« Er hielt inne und nahm einen Bissen von der Pastete. »Sonst bist du also niemandem begegnet?«
»Niemandem, den wir kennen«, antwortete ich, indem ich Wahrheit und Diskretion zugleich Genüge tat.
Bis zum nächsten Abend passierte nichts mehr. Es war ein geschäftiger Tag gewesen. Wir hatten das Abendessen beendet und unterhielten uns im Salon vor dem Kamin. Die Abende waren immer noch so kalt, dass man abends heizen musste. Der Salon war ein dunkles Zimmer ohne Sonne und stets ein wenig kühl. In der Küche war Bessie auf ihre übliche geräuschvolle Art mit dem Abwasch zugange.
Plötzlich gab es ein lautes Scheppern, gefolgt von Bessies erschrockenem Ausruf.
»Dieses Mädchen!«, brummte Ben. »Hat sie schon wieder einen Teller kaputt gemacht?«
Doch ich war bereits auf den Beinen. Bessies lauter Schreckensruf ließ mehr als einen zerbrochenen Teller erahnen, und tatsächlich, die Wohnzimmertür flog auf, und Bessie erschien mit nasser Schürze und schief auf dem Kopf sitzender Haube.
»O Sir! O Missus!«, japste sie. »Es ist etwas ganz Schlimmes passiert!«
Ben, an den täglichen Umgang mit schlimmen Dingen gewöhnt, zuckte lediglich mit den Schultern und nahm seine Zeitung wieder auf. Er überließ es mir, mich um diesen häuslichen Notfall zu kümmern, was immer es sein mochte.
»Was ist denn, Bessie?«, fragte ich und eilte zu ihr. In diesem Moment hörte ich eine andere fremde weibliche Stimme in der Küche schluchzen.
»Es hat einen Mord gegeben, Missus! Mr. Ross, Sir! Sie müssen ganz schnell kommen!«
Mit bewundernswerter Ruhe ließ Ben die Zeitung sinken. »Und wo genau ist dieser Mord passiert, Bessie?«, fragte er. »Draußen auf der Straße? Wir haben nichts gehört.«
»Nein, Sir. Es ist Mrs. Jamesons Hausmädchen!«
»Was denn, sie wurde ermordet?« Bens Tonfall wurde scharf, während er sich erhob.
Ich ahnte, von wem die schluchzenden Laute stammten. »Ist sie in unserer Küche?«, fragte ich. Ich wartete nicht auf eine Antwort und rannte an Bessie vorbei in Richtung Küche, dicht gefolgt von Ben. Dort saß ein Mädchen in Bessies Alter in sich zusammengesunken auf den kalten Steinfliesen und weinte. Als sie uns erblickte, fing sie zu heulen an und wälzte sich auf dem Boden.
»Sie hat einen Anfall!«, rief Ben. »Hol einen Holzlöffel, und schieb ihn zwischen ihre Zähne. Sie beißt sich sonst in die Zunge!«
»Nein, nein, sie ist nur völlig verängstigt …«, unterbrach ich ihn. Ich sprang zu dem Mädchen, um es bei den Schultern zu packen und festzuhalten, damit es sich beruhigte, doch es hockte vor mir wie ein Tier, das außerstande war, auf zwei Beinen zu stehen. »Wie heißt du?«
Sie starrte mich an und bewegte die Lippen, ohne ein Wort hervorzubringen.
»Sie heißt Jenny«, informierte uns Bessie. »Los, Jenny, lass den Unsinn, und steh gefälligst auf.« Sie wurde sogleich aktiv und eilte forschen Schrittes zu dem aufgelösten Hausmädchen, um es auf die Füße zu ziehen, obwohl die unglückselige Person aussah, als könnte sie in der nächsten Sekunde erneut zu Boden sinken.
Ben sprang ein und schob hastig einen Küchenstuhl vor. Jenny sank darauf nieder und starrte zu uns auf, während Tränen über ihre Wangen liefen. Ben beugte sich zu ihr hinunter. »Nun, Jenny, was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er freundlich, aber bestimmt.
»Sie müssen sofort mitkommen, Sir, bitte«, hauchte sie. »Meine Herrin hat mich geschickt, Sie zu holen. Das wäre schneller, als den Bobby auf seiner Runde zu suchen.«
»Ist Mrs. Jameson verletzt?«, fragte Ben.
»Nein, Sir, es ist Mr. Tapley, der Untermieter. Er ist tot, Sir, schrecklich zugerichtet und voller Blut! Er liegt auf …«, an dieser Stelle verlor Jenny die Beherrschung und schluchzte erneut lauthals los.
Ben richtete sich auf. »Ich gehe nachsehen, was dort los ist. Das Mädchen bleibt besser hier. Bessie, du machst ihr einen starken heißen Tee! Es dauert sicher nicht lange, Lizzie, es sei denn, die Dinge …«
»Aber ich komme mit!«, unterbrach ich ihn. »Was auch immer passiert ist, die arme Mrs. Jameson ist allein im Haus. Sie ist wahrscheinlich schrecklich durcheinander, und womöglich befindet sie sich in Gefahr. Und nicht zuletzt benötigt sie Unterstützung. Während du herausfindest, was Mr. Tapley zugestoßen ist, kann ich mich um Mrs. Jameson kümmern.«
»Schon gut, schon gut, also dann!« Er war bereits auf dem Weg nach draußen, ohne innezuhalten, um seinen Hut zu nehmen.
Ich rannte hinter ihm her, und bald darauf erreichten wir zusammen Mrs. Jamesons Haus. Die Vordertür stand offen, und sämtliche Gaslampen im Erdgeschoss brannten hell. Es war inzwischen dunkel genug, um das künstliche Licht zu entzünden, doch vermutlich hatte Mrs. Jameson die Lampen in der Absicht angezündet, Eindringlinge abzuschrecken, die vielleicht noch auf der Lauer lagen. Ich spähte in die uns umgebenden Schatten, doch es war niemand zu sehen oder zu hören.
Ben rief den Namen der Witwe, während wir die wenigen Stufen hinaufstiegen. Sie schien uns gehört oder gesehen zu haben, denn sie erwartete uns bereits in der Halle. Sie war blass und zitterte und rang sichtlich um ihre Fassung, doch sie begrüßte uns förmlich.
»Danke für Ihr Kommen, Inspector, und auch Ihnen, Mrs. Ross. Ich bin untröstlich, dass ich Ihnen solche Umstände bereite, aber der arme Mr. Tapley …« Sie brach zitternd ab.
»Wo ist der Tote?«, fragte Ben leise.
»Die Treppe hoch, Inspector. In seinem kleinen Wohnzimmer. Er hat die beiden Zimmer im ersten Stock mit Blick zur Straße.«
Ben rannte die Stufen hoch. Ich nahm Mrs. Jameson beim Arm und führte sie in ihren Salon.
»Ich mache Ihnen eine Tasse Tee«, sagte ich, als sie Platz genommen hatte.
»O nein, Mrs. Ross, bitte machen Sie sich nicht so viele Umstände, Jenny kann …«
Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie Jenny losgeschickt hatte, um Ben zu holen.
»Jenny sitzt mit unserer Magd Bessie in unserer Küche«, sagte ich. »Sie kommt wieder, sobald Bessie sie ein wenig beruhigt hat. Vielleicht würde etwas Stärkeres als Tee helfen. Haben Sie Wein, vielleicht Sherry oder Madeira?«
Darauf reagierte sie plötzlich und erwiderte mit entschiedener Stimme: »O nein, in diesem Haus gibt es keine alkoholischen Getränke, Mrs. Ross.«
»Es lag mir fern …«, entschuldigte ich mich.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie sich gesammelt zu haben. »Auch keinen Tee, danke sehr, Mrs. Ross. Doch ich bin für Ihre Gesellschaft dankbar.«
Über uns hörten wir, wie eine Tür geschlossen wurde, und Bens Schritte erklangen auf der Treppe.
»Ich gehe direkt zum Scotland Yard.« Er zögerte. »Es ist keine gute Idee, Sie beide allein und schutzlos hierzulassen. Vielleicht sollten Sie zu unserem Haus gehen.«
Also ist Mr. Tapley tot, dachte ich. Es war nicht irgendein schlimmes Missverständnis, und er lag auch nicht verletzt oder ohnmächtig dort oben. Ich sah zur Decke hinauf und überlegte, ob es der Raum über diesem war, in dem er leblos am Boden lag.
»Ich bleibe hier«, sagte Mrs. Jameson unerwartet entschlossen.
»So schrecklich der Gedanke auch sein mag, dass der arme Mr. Tapley leblos dort oben liegt, so falsch erscheint es mir, das Haus mit Ausnahme seiner Leiche leer zurückzulassen. Es wäre, als hätte ihn jeder im Stich gelassen. Es wäre nicht schicklich. Ich fürchte mich nicht vor einem Toten, Mr. Ross.«
Ich dachte, dass es eher die Lebenden waren, wegen denen Ben sich sorgte. Doch auf dem Gesicht der Witwe lag ein Ausdruck von Sturheit, und wir erkannten, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie würde bleiben und eine Art Totenwache halten. Wenn jemand wie die Witwe Jameson erst einmal zu einer Entscheidung gelangt war, was richtig war und was nicht, dann war er nicht mehr davon abzubringen.
»Ich kann mit Mrs. Jameson hier warten, wenn sie das möchte«, sagte ich.
Ich sah, dass Ben darüber alles andere als glücklich war, doch er hatte es eilig, zum Yard zu kommen, und nickte. »Ich schicke so schnell es geht ein paar Beamte her. Sollte ich unterwegs dem Constable auf Streife begegnen, schicke ich ihn schon hierher. Bis dahin betritt niemand, nicht eine einzige Person, diesen Raum. Ist das klar? Lizzie, du sorgst dafür, dass niemand ins Obergeschoss geht?«
Ich versprach es und ging mit ihm zur Haustür, um hinter ihm abzusperren. »Und schließt euch am besten im Salon ein. Ich wünschte wirklich, ihr würdet zu uns nach Hause gehen«, wiederholte er seine Bitte noch einmal.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich optimistisch.
Mit dem Versprechen, so bald wie möglich zurückzukehren, machte er sich auf den Weg. Ich kehrte zur Witwe Jameson in den Salon zurück und schloss die Tür hinter mir ab, wie Ben es verlangt hatte. Ich spürte den Blick der Witwe auf mir.
»Das ist alles ein furchtbarer Schock«, flüsterte sie, als ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Eine barbarische Angelegenheit! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Der arme Mr. Tapley! Er ist – er war so ein angenehmer Untermieter.« Sie faltete die Hände im Schoß und sah mich hilflos an. »Wer wäre zu solch einer furchtbaren Tat imstande? Und in meinem Haus!«
Ich schätzte sie um die sechzig, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ihr verstorbener Untermieter. Ihr dichtes, graues Haar war ordentlich in der Mitte gescheitelt und straff zu beiden Seiten in den Nacken gekämmt, wo es in einem gedrehten Knoten endete. Sie trug ein kastanienbraunes Kleid mit Spitzenkragen und Manschetten an den Ärmeln und vermittelte den Eindruck äußerster Respektabilität. Mein Blick fiel auf ihre Hand, und ich entdeckte ihren Ehering. Es war der einzige Schmuck, den sie trug. In Gedanken versuchte ich mich in die Lage eines Einbrechers zu versetzen, der womöglich von Tapley aufgescheucht worden war. Doch der Salon sah aus, wie wahrscheinlich Tausend andere im ganzen Land auch. Alles in allem war er nicht ärmlich eingerichtet, doch er ließ auch nicht auf Wohlstand schließen. Ich sah eine Gruppe bequemer Sessel, einen verblassten türkischen Teppich, zwei niedrige Tischchen, auf einem davon eine aufgeschlagene Bibel. Die einzigen anderen interessanten Gegenstände waren ein Porträt des verstorbenen Mr. Jameson mit einem schwarzen Seidenband sowie ein Paar chinesischer Vasen auf dem Kaminsims, die er vielleicht von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Zwischen ihnen stand eine massive Uhr aus Ebenholz und tickte eintönig. An der Wand hing ein Alphabet-Spiel, hergestellt von Kinderhand.
Alles machte einen vollkommen normalen Eindruck. Die einzige Kuriosität, wenn man es so nennen konnte, war ein seltsam deplatziert wirkendes Schaukelpferd in einer Ecke des Zimmers. Das hübsche Spielzeug war weiß mit schwarzen Flecken, und es hatte eine lange Mähne und einen Schweif aus echtem schwarzem Pferdehaar. Der Sattel aus rotem Samt war verblasst und ordentlich abgenutzt.
Ihr erster Ehemann hatte Mrs. Jameson nicht unversorgt zurückgelassen, überlegte ich. Nichtsdestotrotz hatte sie die oberen Räume einem Untermieter überlassen. Gab es finanzielle Gründe dafür, oder war es vielleicht die Einsamkeit gewesen? Hatte sie sich sicherer gefühlt mit einer anderen Person, einem Mann im Haus? Jemandem, der mit ihr unter einem Dach wohnte, während sie älter wurde? Eine junge Dienstmagd war da alles andere als hilfreich, insbesondere während der Abendstunden. Nicht, dass der arme Thomas Tapley imstande gewesen wäre, die beiden Frauen zu beschützen. Wie es aussah, hatte er ja nicht einmal sich selbst schützen können.
Die Wirtin hatte mein Interesse an dem Schaukelpferd bemerkt. »Es gehörte meiner Tochter Dorcas«, sagte sie. »Sie starb im Alter von zehn Jahren an Diphtherie. Etliche Kinder in der Nachbarschaft erkrankten damals, und alle sind gestorben. Wir wohnen nicht weit vom Flussufer, und Fieber war damals wie heute sehr verbreitet. Dorcas liebte Dobbin, auch als sie schon größer war und nicht mehr auf ihm reiten konnte. Nachdem Ernest und Dorcas mich allein gelassen haben und an einen besseren Ort gegangen sind, steht Dobbin hier in seiner Ecke und leistet mir Gesellschaft.«
»Es tut mir sehr leid«, sagte ich. »Auch dass Sie nach Ihren schmerzlichen Verlusten nun auch noch dies hier durchmachen.«
Ich zögerte. Ich wollte die arme Frau nicht unter Druck setzen, wo sie offensichtlich die größte Mühe hatte, ihre Fassung zu bewahren. Doch meine Neugier gewann die Oberhand. »Sie haben nichts gehört? Es gab keine Hinweise auf einen Eindringling?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine. Sicher, die Wände sind sehr dick hier im Haus, doch ich denke, ich hätte gehört, wenn Mr. Tapley geschrien hätte. Und er muss wohl geschrien haben, nicht wahr?« Sie rang um Fassung. »Wenn er aufgeblickt und den Attentäter auf sich zustürmen gesehen hat, mit einer Waffe in der Hand? Oh, Mrs. Ross, ich hätte nie gedacht, einmal so etwas ansehen zu müssen. So viel Blut, der Teppich war ganz durchnässt von Blut.« Sie brach ab, für den Augenblick abgelenkt wegen dieses hässlichen Details.
»Vielleicht hat er nicht geschrien, falls er überrascht wurde«, führte ich aus. »Falls der Angreifer sich angeschlichen hat …« Hastig hielt ich inne. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für derartige Bilder.
Sie beugte sich vor. »Er muss leise wie eine Maus ins Haus und die Treppe hochgeschlichen sein. Weder Jenny noch ich haben den Schuft gehört. Ich kann es nicht fassen. Es erscheint völlig unmöglich, dass ein Fremder, ein Mörder, in mein Haus eindringt! Wie hat er das gemacht?«, fragte sie ernst.
Das will die Polizei vermutlich auch gerne wissen, dachte ich im Stillen. »Hatten Sie Mr. Tapley heute bereits gesehen?«
»Nein, doch das war keineswegs unüblich. Mr. Tapley stand stets recht spät auf und nahm sein Frühstück in einem Café ein. Ich hätte es gerne gesehen, wenn er hier bei mir gefrühstückt hätte, doch er sagte, er wäre gewohnt, in ein Café zu gehen und die Zeitungen zu lesen. Womit er den Rest des Tages verbracht hat, weiß ich nicht. Zum Abendessen war er wieder da. Es ist – es war die einzige Mahlzeit, die er hier einnahm. Er hatte seinen eigenen Haustürschlüssel, wissen Sie?«
Sie bemerkte meine Überraschung. »Ich hatte zuerst nicht die Absicht, einem Untermieter einen eigenen Schlüssel zu überlassen«, beeilte sie sich zu sagen. »Doch Mr. Tapley bat mich darum und versprach, ihn nicht zu verlieren. Also stimmte ich zu. Es sind nur Jenny und ich hier, und wären wir zufällig gleichzeitig aus dem Haus gewesen, so hätte er keine Möglichkeit gehabt, vor unserer Rückkehr ins Haus zu gelangen. Es schien vernünftig zu sein, dass er imstande war, alleine ins Haus zu kommen. Wie dem auch sei, in der Regel war er rechtzeitig zum Abendessen zurück. Doch heute Abend kam er nicht nach unten. Ich dachte, dass er vielleicht eingeschlafen war, und schickte Jenny an seine Tür klopfen. Ich meine, die Tür zu seinem Wohnzimmer. Er antwortete nicht, und sie öffnete die Tür, um nachzusehen, und da sah sie ihn …«
Sie verschränkte die im Schoß gefalteten Hände fester. »Sie kam kreischend die Treppe herunter und erklärte, Mr. Tapley wäre ermordet worden. Natürlich habe ich sie ermahnt, sich nicht so töricht zu benehmen, wie sollte so etwas auch möglich sein? Wer sollte so eine friedfertige Person umbringen, und ausgerechnet hier? Ich rannte selbst nach oben, um nachzusehen, und musste feststellen, dass Jenny Recht hatte. Es war ein furchtbarer Anblick.« Die Witwe schauderte. »Niemand bringt mich dazu, mir noch einmal seinen Leichnam anzusehen, nicht einmal, wenn die Polizei es verlangt!«
»Ich denke nicht, dass sie das tun wird«, sagte ich. »Nicht, wenn Sie der Polizei versichern, dass es ganz sicher Mr. Tapleys Leiche ist.«
»Oh, aber sicher!«, beharrte sie. »Sein Gesicht war der Tür zugewandt. Seine Gesichtszüge, verstehen Sie, waren nicht so – lädiert. Es ist sein Hinterkopf …«
Sie schlug die Hand vor das Gesicht.
»Versuchen Sie nicht so sehr an die Einzelheiten zu denken«, drängte ich. »Erzählen Sie mir nur, was dann passiert ist.«
»Oh, natürlich. Ich wusste, dass ich sofort handeln musste!« Ihr Tonfall wurde lebhafter. »Es erschien sinnlos, nach einem Arzt zu rufen. Also schickte ich Jenny, um Ihren Ehemann zu holen, Mrs. Ross. Ich dachte, dass er zu dieser Zeit wohl zu Hause sein würde. Ich bin so froh, dass er da war und dass er so schnell gekommen ist.«
Ich überdachte kurz das Gehörte. Die Ermittlung des Todeszeitpunktes war von entscheidender Bedeutung. Möglicherweise konnte der von der Polizei bestellte Arzt etwas dazu sagen. Andererseits war Tapley ein unauffälliger Untermieter gewesen, der das Haus nahezu unbemerkt betreten und verlassen hatte. War er überhaupt wie üblich draußen gewesen für seinen Spaziergang? Seine Wirtin hatte ihn im Tagesverlauf nicht zu Gesicht bekommen. Bessie und ich waren ihm am vorangegangenen Tag begegnet. Doch hatte ihn irgendjemand heute gesehen? Was hatte er tagsüber normalerweise gemacht, nach dem Aufstehen und dem Frühstück, bevor er am Abend wieder zum Essen am Tisch der Witwe Jameson erschienen war? Hatte er die Stunden damit verbracht, durch London zu spazieren? Oder hatte er die Zeit in verschiedenen Cafés, Restaurants oder Lesesälen totgeschlagen, Museen besucht oder einfach nur im Park gesessen? War er nach seinem Spaziergang ins Haus zurückgeschlüpft und hatte den Rest des Tages ungestört in seinen beiden Zimmern verbracht?
Mit einem Mal kam mir ein schrecklicher Gedanke. Thomas Tapley hatte einen Haustürschlüssel gehabt. Hatte er sich irgendwo in der Stadt mit seinem Mörder getroffen und ihn zu sich nach Hause mitgenommen? Hatte das Opfer – nichts von der drohenden Gefahr ahnend – dem Mörder womöglich mit seinem eigenen Schlüssel Zutritt verschafft?
»Können Sie mir sagen …«, setzte ich an und verbesserte mich sogleich. »Ich wollte sagen, die Polizei wird bestimmt alles wissen wollen, was Sie ihr über Mr. Tapley erzählen können. Beispielsweise, wie er Ihr Untermieter wurde. Hatten Sie eine Anzeige aufgegeben? Konnte er Referenzen vorweisen?«
»Alles?« Mrs. Jameson blickte erschrocken drein. »Aber ich weiß doch so gut wie gar nichts über ihn! O meine Liebe, das hört sich vermutlich befremdlich an, schließlich habe ich ihn in mein Haus gelassen, obwohl ich nichts über ihn wusste … doch er war ein so freundlicher, stiller und vergnügter Gentleman. Ich glaubte, ihm trauen zu können, auch was den Haustürschlüssel angeht. Selbstverständlich werde ich der Polizei alles sagen, was ich weiß.«
In diesem Augenblick läutete die Uhr auf dem Kaminsims, und wir zuckten beide zusammen.
Mrs. Jameson atmete tief durch. Ich denke, das Reden half ihr, denn es war, als wäre plötzlich ein Damm gebrochen, und die Worte sprudelten aus ihr hervor.