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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-996-2
Dr. Roberta Steinfeld konnte sich nicht daran erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein wie augenblicklich, weder bei all ihren Prüfungen, nicht einmal bei ihrem Staatsexamen.
Sie würde Kay Holl wiedersehen …
Ihr Herz klopfte stürmisch, sie hatte vor lauter Aufregung schweißnasse Hände, und, wenn sie ehrlich war, kam sie sich vor wie eine Fünfzehnjährige auf dem Weg zu ihrem ersten Date mit dem Klassenschwarm.
Sie war keine Fünfzehnjährige, und Kay war nicht ihr Klassenschwarm.
Kay war der erste Mann, der sie vollkommen durcheinandergebracht hatte und für den sie nun bereit war, alle Bedenken über Bord zu werfen.
Er war toll, er sah gut aus, er war belesen. Sie konnte mit ihm lachen. Er war sanft und zärtlich. Ein Bilderbuchmann.
Aber es gab auch einiges, was gegen ihn sprach. Er war ein paar Jahre jünger, das konnte man vielleicht noch akzeptieren. Doch er war auch das, was man einen Aussteiger nannte. Kay hatte ein etabliertes Leben hinter sich gelassen und tat nun das, wonach ihm war.
Während der Saison betrieb er am Sternsee einen Bootsverleih, und in der übrigen Zeit ließ er sich treiben und tat das, wonach ihm war.
Nun, man konnte schon sagen, dass er sich von den anderen Aussteigern unterschied, die streckenweise von der Hand in den Mund lebten. Er hatte seine Firma verkauft, war in der komfortablen Lage sein Aussteigerleben so zu finanzieren, dass er sich alles erlauben konnte.
Aber er war anders als sie.
Wenn man es so betrachtete, waren sie wie Sonne und Mond.
Wenn man das Alter ausklammerte, was wirklich nicht erheblich war, dann gehörte sie zu den Menschen, die ihren Beruf liebten und auch brauchten. Sie hatte schon immer Ärztin werden wollen, und sie konnte sich einen anderen Beruf für sich nicht vorstellen.
Sie war Fachärztin geworden, hatte mehrere Zusatzausbildungen. Sie hatte eine große, florierende Praxis aufgebaut. Sie war beliebt, vor allem war sie gut.
Dass ihre Ehe mit Max gescheitert war, der sie pausenlos betrogen hatte, dass sie ihm alles überlassen hatte, um aus dieser unschönen Nummer herauszukommen, das hatte sie auch überstanden. Und der Neuanfang im Sonnenwinkel war nach anfänglichen Schwierigkeiten hervorragend. Ja, so konnte man es bezeichnen.
Und Kay …
Sie hatte weder damit gerechnet, ihm ausgerechnet hier zu begegnen, und schon gar nicht hatte sie geglaubt, sich so verlieben zu können.
Max … Was sie an dem gefunden hatte, wusste sie bis heute nicht. Sie hatten zusammen studiert, er gehörte zu ihrem Freundeskreis. Und er war der Erste, der sie gefragt hatte. Ja, da hatte sie geglaubt, dass ein gemeinsamer Beruf, sich zu kennen, zu wissen, wie der andere tickte, eine gute Basis war.
Es war der totale Reinfall gewesen.
Sie hatte Max nicht gekannt, aber er hatte von Anfang an gewusst, dass es ihm mit Roberta an seiner Seite gut gehen würde.
Es war vorbei.
Sie hatte keine Lust, darüber weiter nachzudenken, weil mit ihm alles geklärt hatte und die Wunden, die er ihr zugefügt hatte, langsam verblassten.
Dazu beigetragen hatte auf jeden Fall auch Kay Holl. Der hatte ihr gezeigt, wie leicht das Leben sein konnte, er hatte ihr irgendwo auch gezeigt, was wirklich zählte.
Und …
Er hatte ihr auch gezeigt, was es bedeutete, eine Frau zu sein. An seiner Seite hatte sie unendliche Zärtlichkeit erlebt, halt die Liebe …
Roberta konnte sich noch immer nicht verstehen, warum sie nach dieser wundervollen, dieser traumhaften Nacht einfach aufgestanden war und gegangen war, nachdem sie ihm ein paar Zeilen hinterlassen hatte.
Angst?
Ja, das konnte gut sein, und das hatte ihre Freundin Nicki ihr auch an den Kopf geworfen. Nicki war es allerdings auch gewesen, die sie ermuntert hatte, sich auf das Abenteuer einzulassen, ohne zu wissen, wie es ausgehen würde.
Und auch Nicki war es gewesen, die sie beinahe dazu aufgefordert hatte, sofort an diesem Dienstagabend loszugehen und nicht bis Mittwochnachmittag zu warten, wie sie es sich zurechtgelegt hatte.
Das kurzzeitige Tief hatte sich längst entfernt, war weitergezogen. Es war wieder angenehm warm, auch am späten Abend, und am Himmel zeigten sich viele Sterne. Es war schön, doch es war längst nicht zu vergleichen mit jener geradezu magischen Nacht, als »es« mit Kay geschehen war, zwangsläufig, nach allem, was vorausgegangen war.
Diese Nacht war wie Samt gewesen, man hatte sie auf der Haut fühlen, man hatte sie schmecken können.
Roberta blieb stehen.
Sie hatte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt.
Sie war verunsichert.
Lag es daran, dass die Wirkung des kleinen Glases Rotwein, mit dem sie sich Mut angetrunken hatte, längst verflogen war?
Oder lag es ganz einfach daran, dass das hier nicht ihre Idee gewesen war, sondern dass Nicki sie mehr oder weniger manipuliert hatte.
Ihr war inzwischen klar, dass sie dumm gewesen war. Sie wusste mittlerweile, dass es Liebe war, auf die sie sich einlassen musste und wollte. Doch ihr war auch klar, dass sie und Kay sehr viel reden mussten, weil es eben diese Unterschiede gab, die nicht zwischen ihnen stehen durften.
Sie blickte auf ihre Uhr.
Zweiundzwanzig Uhr und ein paar Minuten!
Klar, Nicki hatte gesagt, dass es nie zu spät war, dass man später immer noch reden konnte, dass sie hingehen sollte, ihm sagen, dass sie ihn liebe, dass sie ihn haben wollte.
Roberta ließ sich auf eine in der Nähe stehende Bank sinken.
Neben ihr raschelte es im Gebüsch, mit lautlosem Flügelschlag schwebte ganz dicht neben ihr ein Uhu durch die Nacht.
Es ging nicht.
So zu handeln war Nickis Mentalität, nicht ihre. Nicki hatte schon viele Frösche geküsst, in der Hoffnung, darunter endlich den Mr Right zu finden. Die sah das locker.
Sie war in dieser Hinsicht ein wenig unbedarft, und der erste richtige Mann war für sie leider der Frosch Max gewesen.
Roberta bückte sich, hob einen im Mondlicht blinkenden weißen Stein auf, nahm ihn in die Hand.
Es ging wirklich nicht.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, und sie war zu dem Entschluss gekommen, dass der Mittwoch der perfekte Tag war für die Aussprache mit Kay, und dass sie dann den Abend und die Nacht hatten.
Roberta nahm den Stein von der einen in die andere Hand. Er fühlte sich gut an, aber mit »Fühlsteinen« hatte sie es schon immer. Ihre kühle Glätte zu spüren beruhigte sie. Und Beruhigung hatte sie derzeit bitter nötig.
Die widerstreitendsten Gefühle in ihr stritten miteinander.
Sollte sie an ihrem Konzept festhalten, bei dem sie sich sicher fühlte?
Sollte sie auf Nicki hören, die, was Männer anbelangte und demzufolge zu wissen, wie sie tickten, mehr, viel mehr Erfahrung hatte?
Sie stand auf, machte ein paar Schritte Richtung Bootshaus, um erneut stehen zu bleiben.
Vielleicht schlief Kay ja schon?
Vielleicht sah er einen spannenden Film im Fernsehen?
So, wie sie sich davongemacht hatte, war das nicht die feine englische Art, und da bedurfte es ganz einfach einer Erklärung.
Doch um diese Zeit?
Roberta warf den Stein weg, weil er sich doch nicht so gut anfühlte, um es sofort wieder zu bereuen.
Das zeigte ihr auch, wie durcheinander sie war.
So sollte sie Kay gegenübertreten?
Sie machte eine Kehrtwendung, um erneut stehen zu bleiben.
War sie feige?
Roberta traf in der Regel klare Entscheidungen, deren sie sich auch sicher war.
Sie war vollkommen durch den Wind und konnte das eigentlich nur damit erklären, dass sie im emotionalen Bereich derartige Entscheidungen noch niemals getroffen hatte. Es war nicht nötig gewesen, weil sie wegen eines Mannes emotional auch noch niemals zuvor so bewegt gewesen war.
Kay …
Sie war ganz sehnsuchtsvoll, und deswegen machte sie erneut kehrt und lief Richtung Bootshaus.
Vielleicht hatte Nicki ja recht, und es bedurfte keiner Erklärungen, die Zeit hatten.
Roberta beschleunigte ihren Schritt. Es war eine bewegte Nacht, viele Kleintiere huschten über den Weg, und das Wasser des Sees schlug gleichmäßig sanft an das Ufer.
Der Mond versteckte sich für einen Augenblick hinter einer Wolke.
Noch eine Wegbiegung …
Mittlerweile war es noch später geworden, und als Roberta jetzt auf ihre Armbanduhr sah, wusste sie, was sie zu tun hatte.
Mit Kay war es unbeschreiblich gewesen, sie waren sich unglaublich nahe gewesen, das zwischen ihnen war Magie, und dann hatte sie es durchbrochen und ihm ein paar Zeilen hinterlassen.
Danach war nichts mehr geschehen, und eine Zeit später tauchte sie beinahe mitten in der Nacht auf, um ihm zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte.
Bei aller Liebe, das ging überhaupt nicht.
Wie sollte Kay das denn empfinden?
Dass sie ging und kam wie es ihr gefiel?
Wäre es umgekehrt, sie wäre pikiert und käme sich benutzt vor wie ein Spielzeug.
Nein, nein!
Es war schon richtig so, wie sie es geplant hatte.
Es war viel zu wichtig, und so wundervoll es auch gewesen war mit ihm zu schlafen und so sehr sie sich auch danach sehnte.
Sex war nicht das Vordergründige in ihrer Beziehung. Er gehörte, weil sie sich liebten, zwangsläufig dazu, und das war auch gut so.
Diesmal machte Roberta abrupt kehrt, und dann lief sie zügig den Weg zurück.
Es fühlte sich gut an.
Sie würde es auf ihre Weise machen.
Und wenn sie schon vorhatte, so oder so, ihr Leben mit Kay Holl zu verbringen, dann kam es auf die paar Stunden nun wirklich nicht an.
*
Inge Auerbach genoss den Nachmittag auf ihrer Terrasse.
Es war sonnig und warm, und da war es angebracht, jeden Moment zu genießen.
Der Sommer begann, sich seinem Ende zuzuneigen. Das sah man an den ersten gefärbten Blättern und den Morgennebeln, die auf den Wiesen lagen.
Neben sich hatte sie eine Tasse Kaffee, doch sie kam nicht dazu, sich in ihren Roman zu vertiefen, weil es einfach zu schön war, Bambi und der kleinen Luna zuzuschauen, die sich weiter hinten im Garten um einen großen bunten Ball balgten, der für den kleinen Labrador eigentlich viel zu groß war.
Zwischen Bambi und Luna wurde es immer inniger, und es war nicht zu übersehen, dass der Schmerz um den Tod ihres Jonnys, dem Begleiter durch viele Kinderjahre, ganz allmählich zu verblassen begann.
Gerade als Luna versuchte, den Ball in die von ihr gewünschte Richtung zu bringen, klingelte es draußen an der Haustür. Wer mochte das wohl sein?
Sie erwartete keinen Besuch, und auch Bambi hatte nicht davon gesprochen, dass Manuel kommen wollte, ihr guter Freund seit Kindertagen.
Inge trank einen Schluck, dann lief sie zur Haustür, um zu öffnen.
Es war Ursula Fritz, eine Frau aus der Nachbarschaft, zu der sie eigentlich nicht so viel Kontakt hatte, weil diese Person für ihre Verhältnisse zu viel schwatzte.
Und das war nicht so Inges Ding.
Sie legte Wert auf eine gute Nachbarschaft, war freundlich und hilfsbereit. Aber es war für sie unmöglich, stundenlang am Gartenzaun zu stehen und alles durchzuhecheln. Dazu hatte sie weder Zeit noch Lust.
Ursula Fritz war nett, doch leider war sie eben auch sehr schwatzsüchtig. Sie war eine Frau mittleren Alters, die zusammen mit ihrem Mann vor ein paar Jahren hergezogen war, um ein Haus zu mieten.
Von ihm bekam man nicht viel mit, und das war vermutlich auch der Grund, dass sie anderweitig Zerstreuung suchte, weil sie mit ihrer Zeit nichts anzufangen wusste.
»Hallo, Frau Fritz«, sagte Inge dennoch freundlich, weil sie wirklich nichts gegen diese Frau hatte, ihr halt nur aus dem Weg ging, wenn es ging.
»Frau Auerbach«, platzte es aus der Frau heraus, »ich weiß ja, dass Ihr Sohn auf Weltreise ist, sich irgendwo in der Nähe der Galapagos-Inseln aufhält …«, sie atmete durch, »ich habe da gerade etwas im Radio gehört, was sich überhaupt nicht gut anhört.«
Bei Inge gingen alle Alarmglocken an.
Hannes, ihr Dritter, hatte sich nach einem Einser-Abitur auf Weltreise gemacht, gegen ihren Wunsch, allerdings mit Unterstützung von Werner, der diesen Traum niemals gelebt hatte und es deswegen seinem Sohn Hannes wünschte.
Hannes war schon länger unterwegs, hatte vieles gesehen, seine Eltern auch an allem teilhaben lassen. Doch seit einiger Zeit gab es eine Sendepause, und das Letzte, was sie von ihm gehört hatten, war er, dass er mit Leuten, die er unterwegs kennengelernt hatte, mit dem Boot auf die Galapagos fahren wollte.
Mit jemandem mitzufahren war bei den Bagpackern durchaus üblich, doch Inge hatte schon da, als sie es gehört hatte, ein mulmiges Gefühl gehabt. Sollte sich das jetzt bewahrheiten?
Sie wurde blass, hielt sich am Türrahmen fest.
»Was …, was haben Sie gehört, Frau Fritz«, krächzte sie mit einer ihr kaum gehorchenden Stimme.
Frau Fritz genoss es sichtlich, für Inge Auerbach, die sie insgeheim bewunderte, wichtig zu sein.
»Nun, da sind Leute mit einem Segelboot überfallen worden, und man weiß nicht genau, ob es da nur Verletzte oder ob es da auch Tote gegeben hat.«
Nun glaubte Inge, ihr Herz müsse stehen bleiben.
Die Ankündigung ihres Sohnes von der Seereise.
Sein nicht zu begreifendes Schweigen.
Wenn er nun …
Nein!
Inge wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen.
Das durfte nicht wahr sein.
Sie war wie gelähmt und nicht in der Lage, etwas zu Frau Fritz zu sagen. Ihre Gedanken schwirrten durcheinander wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.
»Machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Auerbach«, sagte Ursula Fritz voller Mitleid. »Ihr Sohn wird ja nicht der Einzige sein, der die Galapagos ansteuert, und ein Segelboot hat er doch auch nicht.«
Unbemerkt hatte Bambi sich zu ihnen gesellt.
Die bekam gerade noch Galapagos mit, sah, wie kreidebleich ihre Mutter war und rief deswegen schrill: »Mami, ist etwas mit unserem Hannes?«
In Gegenwart ihrer Tochter konnte Inge sich nicht gehen lassen. Sie riss sich zusammen, überlegte, was sie Bambi jetzt sagen sollte, die sie mit schreckgeweiteten Augen ansah. Das war zu verstehen, Hannes und Bambi hatten die meiste Zeit zusammen verbracht, miteinander gespielt, weil sie sich altersmäßig am Nächsten waren. Für Bambi war es schlimm gewesen, als sie von den Reiseplänen ihres Bruders gehört hatte.
Inge strich Bambi über die braunen Locken.
»Kind, beruhige dich. Frau Fritz hat mir gerade nur erzählt, dass da etwas passiert ist. Aber passiert täglich weltweit nicht überall etwas?«
Bambi begann zu weinen, ihre schönen grauen Augen waren tränenerfüllt.
Inge musste sich um ihre Kleine kümmern. Deswegen bedankte sie sich bei Ursula Fritz, sagte, sie wolle sich kümmern, und die wohlgemeinten Worte: »Es wird schon nichts sein, Sie sollten es nur wissen«, bekam Inge kaum noch mit.
Hannes …