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Laotse

Tao te king

Das Buch des alten Meisters
vom Sinn und Leben

Aus dem Chinesischen übersetzt
und erläutert von Richard Wilhelm

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Übersetzung und Erläuterungen von Richard Wilhelm folgen der Ausgabe Jena 1911.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2010 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9070-3
V002
www.anacondaverlag.de

INHALT

ERSTER TEIL – DER SINN

1. Verkörperung des Sinns

2. Pflege der Persönlichkeit

3. Friede auf Erden

4. Von Ewigkeit her

5. Die Wirkung der Möglichkeit

6. Das Werden der Formen

7. Verhüllung des Lichts

8. Das Wesen der Beweglichkeit

9. Selbstbeschränkung

10. Möglichkeiten

11. Die Wirksamkeit des Negativen

12. Zügelung der Begierden

13. Abscheu vor Beschämung

14. Lob des Geheimnisses

15. Wie das Leben sich zeigt

16. Rückkehr zur Wurzel

17. Reinheit des Wirkens

18. Verfall der Sitte

19. Rückkehr zur Echtheit

20. Abseits von der Menge

21. Das leere Herz

22. Wert der Demut

23. Leere und Nichtsein

24. Bittere Herrlichkeit

25. Des Unzulänglichen Gleichnis

26. Wesen des Schweren

27. Weisheit im Üben

28. Rückkehr zur Einfalt

29. Vom Nichthandeln

30. Warnung vor dem Krieg

31. Die Waffen nieder

32. Das Leben der Berufenen

33. Unterschiede des Wesens

34. Die Aufgabe der Vollendung

35. Das Leben der Liebe

36. Geheime Erleuchtung

37. Ausübung der Herrschaft

ZWEITER TEIL – DAS LEBEN

38. Über das Leben

39. Die Wurzel des Gesetzes

40. Wirkungsart des Zurückgehens

41. Gleichheit und Unterschied

42. Die Wandlungen des Sinns

43. Ungehemmte Wirkung

44. Warnung

45. Überströmendes Leben

46. Mäßigung der Begierden

47. Fernschau

48. Vergessen des Erkennens

49. Das Wesen der Nachgiebigkeit

50. Die enge Pforte des Lebens

51. Pflege des Lebens

52. Rückkehr zum Ursprung

53. Beweis des Überflusses

54. Pflege des Schauens

55. Geheimnisvoller Zauber

56. Verborgenes Leben

57. Der echte Einfluß

58. Schmiegsame Bekehrung

59. Bewahrung des Sinns

60. Ausübung der Herrschaft

61. Leben der Demut

62. Verwirklichung des Sinns

63. Denken beim Anfang

64. Achtung aufs Geringe

65. Reines Leben

66. Selbstverleugnung

67. Die drei Schätze

68. Gemeinsamkeit mit dem Himmel

69. Entfaltung des Geheimnisses

70. Schwierigkeit des Verstandenwerdens

71. Erkenntnis des Leidens

72. Selbstliebe

73. Nachgiebigkeit im Wirken

74. Einschränkung des Selbstbetrugs

75. Der Schaden der Gier

76. Warnung vor der Stärke

77. Des Himmels Sinn

78. Was man dem Glauben überlassen muß

79. Festhalten an der Verpflichtung

80. Selbständigkeit

81. Entfaltung des Wesentlichen

Erklärungen

Benutzte Literatur

Transkription

Anmerkungen

Erster Teil

DER SINN

1VERKÖRPERUNG DES SINNS

Der SINN, den man ersinnen kann,

ist nicht der ewige SINN.

Der Name, den man nennen kann,

ist nicht der ewige Name.

Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.

Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt

der Geschöpfe.

Darum führt das Streben nach dem

Ewig-Jenseitigen

zum Schauen der Kräfte,

das Streben nach dem Ewig-Diesseitigen

zum Schauen der Räumlichkeit

Beides hat Einen Ursprung und nur verschiedenen

Namen.

Diese Einheit ist das Große Geheimnis.

Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis:

Das ist die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.

2PFLEGE DER PERSÖNLICHKEIT

Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,

so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.

Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,

so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.

Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.

Schwer und Leicht vollenden einander.

Lang und Kurz gestalten einander.

Hoch und Tief verkehren einander.

Stimme und Ton sich vermählen einander.

Vorher und Nachher folgen einander.

Also auch der Berufene:

Er verweilt im Wirken ohne Handeln.

Er übt Belehrung ohne Reden.

Alle Wesen treten hervor,

und er verweigert sich ihnen nicht.

Er erzeugt und besitzt nicht.

Er wirkt und behält nicht.

Ist das Werk vollbracht,

so verharrt er nicht dabei.

Und eben weil er nicht verharrt,

bleibt er nicht verlassen.

3FRIEDE AUF ERDEN

Die Bedeutenden nicht bevorzugen:

so verhütet man, daß die Leute streiten.

Schwer zu erlangende Güter nicht wert halten:

so verhütet man, daß die Leute zu Dieben werden.

Auf nichts Begehrenswertes sehen:

so verhütet man, daß das Herz sich verwirrt.

Also auch ist das die Ordnung des Berufenen:

Er macht ihr Herz leer und ihren Leib tüchtig.

Er macht ihr Begehren schwach und ihre

Knochen stark.

Er sorgt stets, daß die Leute ohne Erkennen und

ohne Begehren sind,

und daß jene »Erkennenden« nicht zu

handeln wagen.

Das Nicht-Handeln üben:

so kommt alles in Ordnung.

4VON EWIGKEIT HER

Der SINN faßt alles Bestehende in sich.

Aber durch sein Wirken geht er nicht etwa

im Bestehenden auf.

Abgründig ist er, als wie aller Geschöpfe Ahn.

Er mildert ihre Schärfe.

Er löst ihre Wirrsale.

Er mäßigt ihren Glanz.

Er vereinigt sich mit ihrem Staub.

Unsichtbar ist er und doch als wie wirklich.

Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist.

Er scheint früher zu sein als der HERR.

5DIE WIRKUNG DER MÖGLICHKEIT

Nicht Liebe nach Menschenart hat die Natur:

Ihr sind die Geschöpfe wie stroherne Hunde1.

Nicht Liebe nach Menschenart hat der Berufene:

Ihm sind seine Leute wie stroherne Hunde.

Ist nicht die Feste zwischen Himmel und Erde

wie ein Blasebalg?

Es ist leer und fällt doch nicht zusammen.

Es bewegt sich, und um so mehr kommt

daraus hervor.

Aber viele Worte erschöpfen sich daran.

Besser ist es, das Innere zu bewahren.

6DAS WERDEN DER FORMEN

Der Geist der Tiefe stirbt nicht

Das ist das Ewig-Weibliche.

Des Ewig-Weiblichen Ausgangspforte

Ist die Wurzel von Himmel und Erde.

Endlos drängt sich’s und ist doch wie beharrend.

In seinem Wirken bleibt es mühelos.

7VERHÜLLUNG DES LICHTS

Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.

Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel

und Erde ist,

daß sie nicht sich selber leben.

Darum können sie dauernd Leben geben.

Also auch der Berufene:

Er setzt sein Selbst hintan,

und sein Selbst kommt voran.

Er entäußert sich seines Selbst,

und sein Selbst bleibt erhalten.

Ist es nicht also:

Weil er nichts Eignes will,

darum wird sein Eigenes vollendet?

8DAS WESEN DER BEWEGLICHKEIT

Höchste Güte ist wie das Wasser.

Des Wassers Güte ist es, allen Wesen zu nützen

ohne Streit.

Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.

Drum steht es nahe dem SINN.

Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.

Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.

Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.

Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.

Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.

Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.

Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der

rechten Zeit.

Wer sich nicht selbst behauptet,

bleibt eben dadurch frei von Tadel.

9SELBSTBESCHRÄNKUNG

Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen:

das lohnt der Mühe nicht.

Etwas handhaben wollen und dabei es immer

scharf halten:

das läßt sich nicht lange bewahren.

Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal

kann niemand beschützen.

Reich und vornehm und dazu hochmütig sein:

das zieht von selbst das Unglück herbei.

Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen:

das ist des Himmels SINN.

10MÖGLICHKEITEN

Wer leuchtend seinen Geist bewahrt, daß er

Eines nur umfängt,

der mag wohl innern Zwiespalt vermeiden.

Wer seine Seele einfältig macht und demütig,

der mag wohl werden wie ein Kindlein.

Wer reinigt und läutert sein inneres Schauen,

der mag wohl seiner Fehler ledig werden.

Wer seine Leute liebt als Herrscher des Reichs,

der mag wohl ohne Handeln wirken können.

Wenn des Himmels Pforten sich öffnen

und schließen,

so mag er wohl rein empfangend sein.

Wer mit klarem Blicke alles durchdringt,

der mag wohl ohne Kenntnisse bleiben.

Erzeugen und ernähren,

erzeugen und nicht besitzen:

wirken und nicht behalten,

mehren und nicht beherrschen:

Das ist geheimes LEBEN.

11DIE WIRKSAMKEIT DES NEGATIVEN

Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe:

Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum)

beruht des Wagens Brauchbarkeit.

Man bildet Ton und macht daraus Gefäße:

Auf dem Nichts daran beruht des

Gefäßes Brauchbarkeit.

Man durchbricht die Wand mit Türen und

Fenstern, damit ein Haus entstehe:

Auf dem Nichts daran beruht des

Hauses Brauchbarkeit.

Darum: Das Sein gibt Besitz, das

Nichtsein Brauchbarkeit.

12ZÜGELUNG DER BEGIERDEN

Die Farben machen der Menschen Augen blind.

Die Töne machen der Menschen Ohren taub.

Die Würzen machen der Menschen Gaumen schal.

Rennkampf und Jagd machen der Menschen

Begehren wild.

Seltene Güter machen der Menschen Wandel irr.

Also auch der Berufene:

Er sorgt für den Leib und nicht für das Auge.

Darum tut er ab das Ferne und hält sich ans Nahe.

13ABSCHEU VOR BESCHÄMUNG

Gnade ist beschämend durch die Furcht.

Ehre ist ein großes Übel durch das Ich.

[Was heißt das: »Gnade ist beschämend durch

die Furcht?«