Am Beispiel einer Kurzmeldung des Wiener „Standard“ vom 27. Februar 2013 wird versucht, einer Information über angeblich stark verbreitete Schilddrüsenanomalien bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima/Japan auf den Grund zu gehen. Im Ergebnis gibt es keine erhöhte Prävalenz von Schilddrüsenknoten bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima. Sie entspricht dem weltweiten und erwartbaren Durchschnitt. Die Aussage, es gebe exorbitante Schilddrüsenveränderungen aufgrund der aufgenommenen zusätzlichen radioaktiven Dosis durch die Havarie der Fukushima-1-Reaktoren, beruht auf einer interessensgeleiteten Falschinformation der österreichischen Umweltgruppe „Global 2000“. Reihenuntersuchungen in anderen Teilen Japans (Aomori, Nagasaki und Yamanashi) zeigen keine Unterschiede zu den Daten aus der Präfektur Fukushima. Die Massenuntersuchungen in Japan belegen die bereits bekannte lineare Korrelation zwischen dem Auftreten von Schilddrüsen-Knoten mit zunehmendem Alter. Erneut wird das Bestreben von Umweltlobbyisten und Medien deutlich, die Bevölkerung in Bezug auf Kernenergie und Radioaktivität zu verunsichern.
Am 27. Februar 2013 veröffentlichte die Tageszeitung Der Standard (Wien) folgende kurze Meldung:
Schilddrüsen-Anomalien bei Fukushima-Kindern
Fukushima (27. Februar 2013) – Bei Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen in der japanischen Präfektur Fukushima habe sich eine "extrem hohe Anomalie" gezeigt, berichtete Global 2000 am Mittwoch. Von den 133.089 Untersuchten hatten 55.592 oder 41,8 Prozent Zysten und Knoten in den Schilddrüsen – teilweise bis zu einem Durchmesser von mehr als zwei Zentimetern. Der normale Durchschnitt liege bei 1,5 bis drei Prozent, erläuterte Reinhard Uhrig1 von Global 2000.2
Quelle des Standard war eine Online-Veröffentlichung von Global 2000 vom gleichen Tag (27.02.2013). Unter der Überschrift „GLOBAL 2000: Fahrlässiger Umgang mit Fukushima-Kindern“ heißt es dort unter anderem:
In der japanischen Präfektur Fukushima werden auch bald zwei Jahre nach Beginn der Nuklearkatastrophe immer noch nur tranchenweise Kinder und Jugendliche auf Schilddrüsenanomalien untersucht. Der Trend, der sich bereits bei den ersten Gruppen 2011 zeigte, hat sich auch nach Untersuchung von 133 089 Kindern und Jugendlichen bestätigt: 55 592 oder 41,8 Prozent der Untersuchten hatten Zysten und Knoten in den Schilddrüsen, teilweise bis zu einem Durchmesser von über 2cm. Die jüngsten Untersuchungsergebnisse zeigen ebenfalls eine Zunahme der Schilddrüsen-Anomalien im Vergleich zu den 2011 untersuchten Kindern, und die Proportion der größeren Anomalien steigt ebenfalls.
Vergleiche mit westlichen Kontrollgruppen legen nahe, dass die in der Präfektur Fukushima nachgewiesenen Anomalien besorgniserregend weit über dem Normalwert liegen: „In ‚normalen‘ Schilddrüsenscreenings liegen die Raten der Schilddrüsenanomalien bei 1,5–3 Prozent. Die in der betroffenen Region auftretenden Werte übersteigen dies um das Dreizehn-bis Siebenundzwanzigfache“, sagt Reinhard Uhrig.3
Sollte diese Meldung stimmen, wäre das tatsächlich eine Sensation. Sie impliziert, dass alle Erfahrungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie das gesammelte Weltwissen über Wirkung von Radioaktivität auf den Prüfstand gehören. Die Meldung impliziert,
Im Folgenden wird versucht, eine Antwort darauf zu finden, welche der angedeuteten sechs Möglichkeiten den tatsächlichen Gegebenheiten am nächsten kommt. Die Relevanz ergibt sich aus der Tatsache, dass mehrere Medien und Umweltschutzorganisationen die Daten aus Fukushima aufgriffen und verbreiteten und viele Kernkraftgegner diese Meldung glaubten und in ihr Argumentationsgefüge einbauten.
1 Reinhard Uhrig wird als „Atomexperte“ der österreichischen Umweltlobbygruppe „Global 2000“ vorgestellt.
2 Quelle: http://derstandard.at/1361241345470/Schilddruesen-Anomalien-bei-Fukushima-Kindern
3 http://www.global2000.at/site/de/nachrichten/atom/fukushima127/pressarticle-schilddruesen2013.htm
Jeder Mensch ist einer natürlichen ionisierenden Strahlung ausgesetzt. Sie kommt aus dem Weltraum (kosmische Strahlung), aus dem Boden (Radionuklide) oder aus dem Körper selbst. In der Bundesrepublik liegt die natürliche Strahlendosis für die meisten Erwachsenen zwischen 1 und 5 mSv pro Person und Jahr (= 0,0001141–0,0005707 Millisievert pro Stunde bzw. 0,1141–0,5707 Mikrosievert pro Stunde). Der Durchschnittswert beträgt 2,1 mSv/a bzw. 0,2397 μSv/h. Dies sollen die Referenzzahlen für die folgenden Zahlen zur radioaktiven Belastung sein. Die zusätzliche Belastung durch deutsche Kernkraftwerke liegt rechnerisch bei maximal 0,0003 mSv pro Jahr = 0,3 μSv/a. Zum Vergleich: Das Rauchen einer Zigarette entspricht im Risikopotenzial etwa 30 μSv. Bei den Angaben zur natürlichen Radioaktivität handelt es sich um Durchschnittswerte; die regionale Schwankungen können das Doppelte nach oben oder die Hälfte nach unten betragen, ohne dass dieser Wert mit der tatsächlich gefundenen Krebsrate einer Region korreliert.
Um die Aussagen einschätzen zu können, ist es sinnvoll, die gesundheitlichen Wirkungen radioaktiver Strahlung zu kennen. Dazu liegen umfangreiche Untersuchungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie aus der Kontamination mehrerer Wohngebäude mit radioaktivem Kobalt in Taipei vor.
Wie eine niedrige zusätzliche Strahlenexposition über längere Zeit auf den Menschen wirken, ist nicht wirklich klar. Vieles spricht dafür, dass eine Verdoppelung oder Verdreifachung der natürlichen Strahlung über einen längeren Zeitraum keinerlei gesundheitliche Folgen hat. Theoretisch kann ein einziges Strahlenquant an einer einzigen Zelle diese verändern und ein Krebswachstum auslösen. Tatsächlich ist Strahlung eine allgegenwärtige Erscheinung, denn der Mensch ist der von der Sonne und anderen Gestirnen ausgehenden Strahlung ausgesetzt. Auch radioaktive Elemente in der Erdkruste spielen eine Rolle, allen voran Uran und sein Zerfallsprodukt Radon. Eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden. Die Aussage, „eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden“, ist jedoch in etwa so sinnvoll wie der Satz „eine Zigaretten-Schwellendosis für die Entstehung von Lungenkrebs kann nicht angegeben werden“ oder „eine Schwellenzahl für Autofahrten, die zu einem tödlichen Unfall führen, kann nicht angegeben werden“. Da Radioaktivität allgegenwärtig ist, können die Effekte einer Null-Belastung nicht simuliert werden. Unterhalb von 100 mSv zusätzlicher Strahlenexposition pro Person in einer größeren Population versagt die Epidemiologie. Erst ab 1000 mSv sind direkte Strahlenschäden zu beobachten.
Abbildung 1: Gesundheitseffekte in Abhängigkeit von der Strahlendosis (Quelle: UNSCEAR)
Unter Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) wurden mit Beteiligung der Bundesrepublik mehr als 160 000 Personen aus der näheren und weiteren Tschernobyl-Umgebung vor Ort radioaktiv ausgemessen. Dabei zeigte sich, dass 99 Prozent von ihnen jährlich weniger als 1,0 Millisievert (mSv) aufgrund des nuklearen Unfalls ausgesetzt sind. Mit Schäden am Knochenmark und einer Erhöhung der Leukämierate ist nach einer Strahlenbelastung von mehr als 2.000 mSv messbar zu rechnen. Gefahr für den Embryo in der Frühschwangerschaft besteht nach Angaben von Fachleuten von 500 mSv an. Für spätere Entwicklungsstadien eines Embryos nach dem 10. Schwangerschaftstag gilt eine Dosis von bis zu 50 mSv als ungefährlich.4 Eine erhöhte Krebshäufigkeit in Deutschland lässt sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl nicht nachweisen.
1999 wurde in Deutschland der Grenzwert für beruflich exponierte Mitarbeiter beispielsweise in Kernkraftwerken oder in radiologisch-medizinischen Abteilungen von 50 auf 20 mSv pro Jahr gesenkt. 100 mSv ist die niedrigste Dosis, bei dem ein Anstieg des Krebsrisikos statistisch zu erwarten ist5. Darüber hinaus korreliert die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krebs mit der Dosis. 100 mSv sind auch die zulässige kurzfristigen Dosis für Rettungsmannschaften. Unter 100 mSv-Dosen gibt es keinen Beweis für Gesundheitsschäden. Über 100 mSv steigt die Wahrscheinlichkeit statistischer Gesundheitseffekte und das Krebsrisiko6. Ab 1000 mSv entwickeln 5% einer Bevölkerungsgruppe innerhalb einiger Jahre eine schwerwiegende Krebserkrankung. Bei Wikipedia hingegen heißt es, ab einer Einzelfall-Gesamtdosis von 1000 mSv versterben zehn Prozent der Personen innerhalb von 30 Tagen.7 Radioaktive „Strahlung ist ein schwaches Karzinogen, aber übermäßige Exposition kann sicherlich Gesundheitsrisiken erhöhen“, betont die World Nuclear Association auf einer Überblicksseite.8
Deterministische Kurzzeitwirkungen kann es naturgemäß nur bei einer „Blitzdosis“ geben. Die gesundheitliche Wirkung von Langzeitdosen lassen sich nur statistisch schätzen. Der Unterschied zwischen Blitzdosis und Langzeitdosis ist vergleichbar mit der Aufnahme von Wärmeenergie: Wenige Minuten in loderndem Feuer führen unweigerlich zum Tod. Dagegen wird die gleiche Energie, verteilt über einen längeren Zeitraum, als angenehme Wärme empfunden. Oder Alkohol: Eine Wodkaflasche in einem Zug getrunken schädigt den Körper (Alkoholvergiftung), eine Flasche über einen längeren Zeitraum leergetrunken erhöht das Wohlbefinden.
Langzeitbeobachtungen an den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki zeigen, dass eine Blitzdosis von 300 mSv kein erhöhtes Risiko für eine Lebensverkürzung darstellt. Erst ab einer individuellen Dosis von 1500 mSv wird eine Lebensverkürzung messbar. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die untersuchte Gruppe auf die zum Zeitpunkt der Exposition 30–45-jährigen beschränkt ist und Aussagen über Feten, Säuglinge und Kinder gesondert getroffen werden müssen.9 Eine Verdoppelung der Mutationsrate bei der Zellteilung wird ab 1000 mSv angenommen.
Einzeldosis in mSv pro Jahr | Dosisleistung in mSv pro Stunde | Dosisleistung in μSv pro Stunde |
2 mSv | 0,00023 mSv/h | 0,23 μSv/h |
20 mSv | 0,0023 mSv/h | 2,3 μSv/h Zielwert außerhalb Evakuierungszone |
50 mSv | 0,0057 mSv/h | 5,7 μSv/h |
100 mSv | 0,0115 mSv/h | 11,5 μSv/h |
1000 mSv | 0,115 mSv/h | 115,0 μSv/h |
Tabelle 1: Vergleich Einzeldosis pro Jahr - Dosisleistung pro Stunde (jeweils leicht aufgerundet)
Die Tabelle ist so zu lesen: Je nachdem, welche Gesamtdosis pro Jahr man bereit ist zusätzlich auf sich einwirken zu lassen, kann eine bestimmte Dosisleistung (in mSv/h oder μSv/h) toleriert werden. Eine Dosisleistung von 5 bis 6 μSv/h beispielsweise in der Nähe des Reaktors Fukushima 1 kann unbedenklich für mehrere Wochen auf sich genommen werden. Selbst eine Ortsdosisleistung von 171,4 μSv/h kann über einige Stunden toleriert werden, da ja erst die Multiplikation mit 8750 Jahresstunden eine bedenkliche Jahresgesamtdosis von 1500 mSv ergibt (eigene Berechnungen).
Am 4. September 2013 hieß es in einer dpa-Meldung, auf dem Fukushima-1-Gelände befinde sich ein Hotspot mit einem Strahlenwert von 2200 Millisievert pro Stunde bei einem Abstand von fünf (!) Zentimetern. Es handele sich um Beta-Strahlung. Diese Dosis sei für einen Menschen nach vier Stunden tödlich.
Die Meldung ist, wie fast alle journalistischen Produkte zum Thema Fukushima, unvollständig und verwirrend. Offenbar handelt es sich um eine kontinuierliche Stundenleistung und keine Einmaldosis. Das Wort „Strahlenwert“ ist eigentlich falsch; es geht bei der Einheit Sievert um die mutmaßliche Radioaktivitätsaufnahme eines menschlichen Körpers (Dosisleistung), nicht um die Radioaktivität des Gegenstandes. Eigentlich müsste die Energie der Betastrahlung in Mikroelektronenvolt (MeV) angegeben werden. Betastrahlen lassen sich mit einem einige Millimeter dicken Absorber (beispielsweise Aluminiumblech) gut abschirmen.
2200 Millisievert pro Stunde sind in der Tat enorm viel; diese Dosisleistung ist eindeutig gesundheitsschädigend, vermutlich tatsächlich tödlich. Sie ist zugleich leicht zu vermeiden und leicht abzuschirmen.
Zwischen dem 11. März 2011 und dem 18. April 2013 wurden auf dem Fukushima-Reaktorgelände, in den Reaktorgebäuden und am Haupttor wesentlich geringere Dosisleistungen zwischen 0,04 und 966.000 μSv/h gemessen.10 Die Dosisleistung ist extrem ungleich verteilt. Die Dosisleistungen an verschiedenen Messpunkten außerhalb des Reaktorgeländes in der Präfektur Fukushima betrugen zwischen 0,3 bis 161 μSv/h.
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