Über den Autor

Klaus-Rüdiger Mai studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Halle-Wittenberg und arbeitete als Regisseur und Autor für das Theater. Über viele Jahre war er als Drehbuchautor, Dramaturg und Produzent von Fernsehproduktionen tätig. Im Gustav Lübbe Verlag erschien von ihm 2006 »Geheimbünde. Mythos, Macht und Wirklichkeit« und 2008 »Der Vatikan. Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht«.

Klaus-Rüdiger Mai

BENEDIKT XVI.

Joseph Ratzinger:
Sein Leben – sein Glaube – seine Ziele

BASTEI ENTERTAINMENT

INHALT

  1. Römisches Vorspiel
  2. HABEMUS PAPAM
    1. Weißer Rauch
    2. Der Heilige Vater
    3. Der Weg durchs Konklave
  3. DAS GESCHENKTE LEBEN
    1. Kindheit in Oberbayern
    2. Im Krieg
    3. Lehrling der Wahrheit
  4. DER MOZART DER THEOLOGIE
    1. Das Drama der Habilitation
    2. Berater des II. Vatikanischen Konzils
    3. Der Sturz in die Utopie
  5. MITARBEITER DER WAHRHEIT
    1. Kleine Eschatologie
    2. In der Pflicht
  6. HÜTER DER WAHRHEIT
    1. Der Tagesablauf des Inquisitors
    2. Der Präfekt bei der Arbeit
    3. Abwicklung des Zeitgeistes
    4. Dominus Jesus
  7. AUF DEM STUHL DES FISCHERS
    1. Der Name des Papstes
    2. Auf dem weiten Ozean des dritten Jahrtausends
    3. Das unterschätzte Pontifikat
  8. ANHANG
    1. Anmerkungen
    2. Auswahlbibliographie
    3. Lebenslauf
    4. Bildnachweis
    5. Register

RÖMISCHES VORSPIEL

April des Heiligen Jahres 2000. Rom zeigte sich von seiner schönsten Seite, mit einem blauen Himmel und freundlich warmen Temperaturen. Ich war wegen eines Filmprojekts in die Ewige Stadt gekommen, das spannend und aufregend war. Wochen zuvor erfuhr ich von einem Wissenschaftler, der in den gerade geöffneten Archiven der Kongregation für die Glaubenslehre forschte, um den Geheimnissen der Inquisition auf die Spur zu kommen. Das war möglich, weil der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, im Nebenberuf selbst Wissenschaftler, das Archiv für die Forschung öffnete. Ich hatte mit dem Historiker Peter Godman, einem charmanten Neuseeländer, Kontakt aufgenommen, und so kam es, dass ich an diesem freundlichen Tag mich auf meine Audienz beim Präfekten der Glaubenskongregation vorbereitete. Zum ersten Mal betrat ich den Palast, der über Jahrhunderte die Inquisition beherbergt hatte, und genau genommen neben der Vatikanstadt stand, nicht mehr ganz drinnen und doch nicht draußen, ein eigenes und dazu noch recht selbstbewusstes Machtzentrum. Der Sekretär des Kardinals, Monsignore Clemens, hieß mich freundlich willkommen und bat mich, kurz im Vorraum Platz zu nehmen. Es war nicht das übliche und langweilige Spielchen von Leuten, die einen schon aus Prinzip warten ließen, um gleich von Anfang an die Spielregeln zu definieren. Nein, aus Sorge, zu spät zu kommen, war ich zu früh, und Clemens hatte wie immer seinem Kardinal einen eng terminierten Arbeitstag exakt geplant. So saß ich unter den gestrengen Augen des Heiligen der Inquisition, Pius V., der mich von seinem Gemälde herunter prüfend ansah, und wartete darauf, den Mann zu treffen, über den in Deutschland viel gesprochen, vor allem aber viel Negatives gesagt wurde, den Mann, den man für den Großinquisitor hielt.

Mancher Theologe, der hier auf dem Stuhl saß, hatte schon auf ein Gespräch gewartet, um mit dem Präfekten die Positionen zu diskutieren, die er in einem Buch vertreten hatte und die der Präfekt und die Gutachter als nicht katholisch einstuften. Sicher keine angenehme Situation. Drewermann beispielsweise hatte von seinem Besuch in Worten und Attributen des tiefen Abscheus gesprochen. Es war für ihn, als sei er dem leibhaftigen Großinquisitor begegnet, dessen Parfüm aus falscher Freundlichkeit und aus Intoleranz Übelkeit bei ihm hervorgerufen hatte.

Die Tür wurde geöffnet und ein mittelgroßer, weißhaariger Mann, in einem schwarzen, eleganten Talar gewandet, mit einem großen Kreuz auf der Brust, das an einer Kette um den Hals hing, begrüßte mich freundlich: Kein Zweifel, das war Joseph Kardinal Ratzinger. Er führte mich in seinen prächtigen Audienzsaal und hieß mich auf dem mit rotem Samt bezogenen Stuhl Platz zu nehmen, während er sich selbst auf dem kleinen Sofa niederließ. Ich war zu ihm gekommen, um ihn zu bitten, uns bei einem Filmprojekt zu unterstützen, in dem wir anhand der neuen Forschung die Geschichte der Inquisition erzählen wollten. Er sagte zu. Der Film lief später erfolgreich als Dreiteiler im ZDF und im ORF.

In der Folgezeit hatte ich in der Vorbereitung des Projekts noch öfter die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, schließlich führten wir mehrere große Interviews mit ihm. Diese Interviews gehörten zum Aufregendsten der ganzen Arbeit. Da hatte sich niemand vorbereitet, da hatte auch niemand einen Kanon, den er mit den immer gleichen Phrasen herunterbetete, nein, man war eingeladen, einem Menschen beim Denken zuzusehen. Und das war höchst spannend. Mit unmissverständlicher Klarheit beschrieb er sein Amtsverständnis und seine Vorstellung über die katholische Kirche.

Auf der einen Seite erschien Joseph Ratzinger als ein kluger, freundlicher, charmanter und humorvoller Mann, der Priester und Theologe war, auf der anderen Seite sprach man von ihm als dem Exekutor der Glaubenslehre, als dem Großinquisitor, der rücksichtslos seine Vorstellungen durchsetzte? Wer ist er nun wirklich, der Mann, der jetzt Papst Benedikt XVI. ist?

HABEMUS PAPAM

»Du bist Petrus, und auf diese petra (Fels) will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.«

Matthäus 16, 17–19

WEISSER RAUCH

Es ist Dienstag, der 19. April 2005. Der zweite Tag des Konklaves, der zweite Tag, an dem sich 115 Kardinäle aus der ganzen Welt in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan versammeln, um einen neuen Papst zu wählen. Nirgendwo auf der Welt sind zweitausend Jahre christliche Überlieferung und künstlerische Vision so den Menschen zutiefst berührendes Ereignis geworden wie in dieser Kapelle inmitten des Apostolischen Palastes. In beeindruckender Weise verbindet sich an diesem Ort kunstgeschichtliche und geradezu mythische Bedeutung in den Deckenbildern Michelangelos. Szenen aus der Schöpfungsgeschichte, aus dem Leben Christi wechseln sich ab mit den Bildnissen vergangener Päpste. An diesem Ort den 265. Papst in der Geschichte der katholischen Kirche zu wählen bedeutet für den einzelnen im Diesseits verhafteten Menschen, der jeder Kardinal unabhängig von seinem Amt ja auch ist, sich in eine Kontinuität von Gottes Schöpfung und der zweitausend Jahre alten Geschichte der Kirche zu stellen. Trotz dieses gewaltigen Druckes muss er die Freiheit in seiner Entscheidung bewahren, den Mann zu küren, der die aktuellen Aufgaben der Kirche, die sich seiner Meinung nach in einer Krise befindet, bewältigen kann. Fast alle sind Erstwähler, von Johannes Paul II. in seinem sechsundzwanzig Jahre währenden Pontifikat erst in das Kardinalskollegium berufen und dadurch erst wahlberechtigt geworden. Es ist, es muss für die Wahlmänner so sein, als schaue der Heilige Geist den Kardinälen bei der Wahl über die Schulter, anders wäre der Verantwortungsdruck für einen Sterblichen nicht zu ertragen. Aber außer dem Heiligen Geist wirkt natürlich auch der Geist der Politik. Es gibt Favoriten, die seit Tagen von der Presse diskutiert werden. Jeder Kardinal hat seine Vorstellung, wie die Kirche geleitet werden und wie sie Stellung beziehen soll in der Gegenwart. Hinter den Kulissen werden Chancen für einzelne Kandidaten sehr diskret ausgelotet. Unterhändler sprechen in Halbsätzen, in Andeutungen, aber für die Eingeweihten sind die Botschaften eindeutig herauszuhören. So entstehen Fraktionen. Der Leitung und der Hilfe des Heiligen Geistes haben sich die Kardinäle in der Messe vor dem Beginn des Konklaves versichert. Joseph Kardinal Ratzinger hält die Predigt, die sich wie eine Ermahnung liest. Die Wahl des Papstes wird von existentieller Bedeutung für die Kirche sein. Die Kardinäle können sich keine Fehlentscheidung leisten, denn die Welt befindet sich in einem Umbruch, dessen Ausmaß von der Öffentlichkeit und vor allem vom handelnden politischen Personal in der kurzen Perspektive ihres tagespolitischen Agierens noch gar nicht in der Dimension wahrgenommen wird, und für die Kirche äußert sich der Paradigmenwechsel als Krise. Mit wachsender Spannung erwarten nicht nur die über eine Milliarde Katholiken aus der ganzen Welt den Ausgang der Wahl, sondern auch viele Menschen, die anderen Religionen angehören oder an keinen Gott glauben. Bei all den sehr ernsten Zeichen der Krise ist der Katholizismus immer noch eine Weltmacht, die sich weder auf Staatsgewalt, sieht man einmal vom kleinen Vatikanstaat ab, noch auf Armeen und schon gar nicht auf den weltweit agierenden Terror, sondern lediglich auf das Wort stützen kann. Aber das Wort hat immense Bedeutung. Eindrucksvoller als in diesen Tagen kann man das nicht erleben. Um wie viel größer aber ist deshalb auch die Spannung in diesen Stunden und Tagen gerade in Rom bei den Tausenden, die sich an diesem Dienstag wieder auf dem Petersplatz versammelt haben und dort ausharren, bis endlich der erlösende weiße Rauch aus dem Kamin steigen wird.

Die Kardinäle haben sich ins Konklave zurückgezogen, und kein Wort, kein Zwischenstand, wie wir es von unseren Wahlprognosen und Hochrechnungen gewohnt sind, wird aus der Abgeschirmtheit des Konklaves dringen. Den Vorsitz im Kardinalskollegium führt der Dekan, der Mann, der dafür verantwortlich ist, das Kollegium einzuberufen, der die Themen für die Sitzungen formuliert und die Sitzungen auch leitet. Vor drei Jahren wählte das Kollegium Joseph Kardinal Ratzinger zum Dekan. Der Dekan hat seine Kollegen nachdrücklich zum Schweigen gegenüber den Medien verpflichtet, wie es Johannes Paul II. 1996 festgelegt hatte. Nicht nur das. Die Sixtinische Kapelle wurde professionell und sehr gründlich nach Wanzen, also nach Abhörgeräten durchsucht und das Dienstpersonal mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Exkommunikation bedroht, falls es jemand wagen sollte, auch nur die kleinste und unbedeutendste Information an eine dritte Person weiterzugeben, ganz gleich, ob es sich dabei um Medienvertreter handelt oder nicht. Sie wurden sogar vereidigt, die Diener, die Köche, die Reinigungsleute. Nur Geheimniskrämerei?

Inzwischen hat sich das große Publikum in der westlichen Welt an Wahlsendungen gewöhnt, die zu Wahlshows, zu einem durchkalkulierten Unterhaltungsevent geworden sind, bestehend aus einer Unmenge statistischen Materials, das scheinbar analysiert wird, und dem rasanten Wettrennen der Hochrechnungen. Warum also nicht einfach ein paar Kameras in die Sixtinische Kapelle montieren? Big Brother zog schließlich inzwischen auch ins Allerheiligste der deutschen Demokratie, in einen Untersuchungsausschuss des Parlaments ein. Weshalb nicht statt Visa-TV Konklave-TV? Warum also diese wichtigtuerische und antiquierte Heimlichtuerei des Vatikans fortsetzen? Wäre jetzt nicht der geeignete Moment gekommen für mehr Transparenz, für Glasnost im Kirchenstaat? Oder ist der Kardinaldekan, der im Hauptberuf »Großinquisitor« war, ein Mann von gestern, ein Mann, dessen Modernität bei der Erfindung des Buchdrucks endet? Es heißt, dass er nicht einmal in der Lage sei, ein Auto zu steuern?

Für die Kardinäle und für die Kirche ist die Papstwahl zu wichtig, zu einzigartig, um sich den Spielregeln der Mediengesellschaft zu unterwerfen. Ihre Spielregeln für die Wahl sind älter, beinah eintausend Jahre alt. Nicht die geringste Information gelangt an die Öffentlichkeit. So steigt die Spannung ins Unermessliche. Die Wetten in den Wettbüros laufen heiß. Dabei ist voraussichtlich erst die Hälfte der Zeit herum, denn Vatikanexperten schätzen, dass am Donnerstag die Kardinäle sich geeinigt haben werden, also vier Tage nach dem Einzug ins Konklave. In der Geschichte gab es Papstwahlen, die sich über Wochen, manche über Monate, im Mittelalter sogar einige über Jahre hingezogen hatten. Und heute ist erst Dienstag, zwei Tage und zwei Wahlgänge sind erst vergangen. Doch daran denken die harrenden Menschen auf dem Petersplatz nicht. Sie warten auf das Ende des vierten Wahlganges. Sie warten auf das Ende der papstlosen Zeit, der so genannten Sedisvakanz, der Zeit des leeren Stuhls Petri, der Zeit, in der es keinen Heiligen Vater gibt und die katholische Kirche seltsam verwundbar wirkt, weil alles plötzlich zum Provisorium geworden ist, bis ein neuer Stellvertreter Christi nach außen die Richtung bestimmt und die Katholiken in sein Amtscharisma hüllt wie in einen schützenden Mantel. Zweimal haben die Menschen auf dem Petersplatz bereits schwarzen Rauch gesehen, zweimal mussten sie feststellen, dass die Kardinäle sich nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. Und für einen der Favoriten läuft unerbittlich die Zeit davon, denn Joseph Kardinal Ratzinger hat von Anfang an durchblicken lassen, dass er nicht beliebig oft und nicht für beliebig viele Wahlgänge zur Verfügung stünde. Anders als man es von weltlichen Politikern kennt, hält er sich an das, was er sagt. Das »was kümmert mich mein Geschwätz von vor einer Stunde« ist ihm zutiefst fremd. Man kann das konservativ nennen, aber vor allem ist es verlässlich. Ist Joseph Kardinal Ratzinger überhaupt ein Favorit? Kann ein Deutscher denn Papst werden? Ein Italiener ist wahrscheinlich, ein Südamerikaner möglich, ein afrikanischer Papst wünschenswert. Immer wieder bringen die Medien die Namen von papabili ins Spiel, d.h. von Kardinälen, die über genügend Rückhalt in der Kurie und über ein klares Profil verfügen, um zum Papst gewählt werden zu können. Sei es der brasilianische Kardinal Cláudio Hummes oder der Argentinier Jorge Mario Bergoglio, seien es die Italiener Scola, Tettamanzi oder Martini. Obwohl Ratzinger eine natürliche Autorität unter seinen Kollegen ausstrahlt, wirkt die Idee eines deutschen Papstes so fern, dass selbst Bruder Georg am Vortag noch der Münchener Abendzeitung sagte: »Mein Bruder wird bestimmt nicht Papst.«

Die Stimmung auf dem Petersplatz verändert sich spürbar. Erst entdecken es einige, dann mehr Menschen auf dem Platz, dass Rauch aufsteigt. Endlich. Sie weisen sich gegenseitig darauf hin.

Der gusseiserne Ofen, in dem der Rauch erzeugt wird, wurde zum ersten Mal im März 1939 benutzt, als das Kardinalskollegium Eugenio Pacelli, der sich dann Pius XII. nannte, zum neuen Papst wählte. Der Ofen ist in der Mitte der Sixtinischen Kapelle aufgestellt. Angestellte montierten auf das Dach der Kapelle einen Blechkamin. Ein zweiter gusseiserner Ofen dient dazu, den Kamin zu erwärmen, so dass der Rauch besser aufsteigen kann. Anschließend werden bereitstehende Chemikalien beigemischt, um den Rauch weiß oder schwarz erscheinen zu lassen. Davor benutzte man nasses oder trockenes Stroh. Die alte Mär, dass der schwarze Rauch zu Stande kommt, weil die Wahlzettel bei einer erfolglosen Wahl verbrannt werden, entspricht, so ökologisch und romantisch sie klingen mag, leider nicht der Realität, denn die Wahlzettel werden auch bei geglückter Wahl verbrannt. Doch trotz der gründlichen Vorbereitungen können die vielen Beobachter auf dem Petersplatz nicht eindeutig erkennen, ob der Rauch wieder schwarz oder endlich weiß ist. Die Stimmung erreicht ein Höchstmaß an Konzentration, an Spannung, an Erwartung: Es ist, als ob die Christenheit in dieser Minute auf dem Petersplatz den Atem anhält. Die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass die richtige Farbe des Rauchs nicht sofort zu erkennen sein könnte, wurde von vornherein berücksichtigt, deshalb sollte das Aufsteigen des weißen Rauches mit dem Läuten der Glocken verbunden werden. Doch die Glocken schweigen. Und die Gläubigen beginnen sich zu fragen, ob sie einen neuen Papst haben oder auf den morgigen Tag warten müssen.

Doch wenige Minuten später wird der Rauch eindeutig weiß, und schließlich erklingen auch die Glocken des Petersdoms, mächtig und für die Wartenden erlösend. Was anfangs lediglich Hoffnung war, wird nun auf dem Petersplatz schöne Gewissheit: Die Kardinäle haben den 265. Papst in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche gewählt. Die Nachricht verbreitet sich dank der Medien in urbi und orbi, in der Stadt und im Weltkreis gleichermaßen rasant, und immer mehr Menschen drängen zum Petersplatz, um den neuen Papst zu erblicken. Doch noch müssen sie sich gedulden, seinen Namen zu erfahren und ihn zu sehen. Getreu des alten Brauchs wird der neue Papst vom Zeremonienmeister und dem Kardinalkämmerer in das Tränenzimmer des Apostolischen Palastes geführt. In diesem Zimmer befinden sich drei Papstsoutanen in verschiedener Größe. Das war nicht immer so. Als Roncalli, der sich Johannes XXIII. nannte, den Ornat anlegen sollte, stellte sich heraus, dass er zu klein dafür war, und brachte deshalb die Schneider erst in arge Verlegenheit, dann ins Schwitzen. Seitdem gibt es drei Ornatsgrößen. Kein Amt auf dieser Welt steht in einer annähernd großen historischen Tradition und verlangt mehr an Verantwortung. Nach katholischer Lehrmeinung ist der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden. Ist es da nicht nur zu natürlich, dass der Kardinal, der aus dem Kreis seiner Kollegen zum Mittler zwischen Himmel und Erde, zumindest für 1,1 Milliarden Katholiken auf der ganzen Welt wird, überwältigt ist von der Größe der Aufgabe, der Schwere der Verantwortung und schließlich im Gemüt tief bewegt in Tränen ausbricht. Deshalb trägt dieses Zimmer, in dem der neue Papst die Kardinalskleider ab- und das Papstornat anlegt, diesen auf den ersten Blick merkwürdigen, bei genauerem Hinsehen aber sehr verständlichen Namen: Tränenzimmer. Es ist inzwischen 18.40 Uhr, und die Menschen auf dem Petersplatz rufen in aufbrausenden Sprechchören »Viva il Papa« (»Lang lebe der Papst«). Keine vier Minuten später erscheint auf dem Mittelbalkon des Petersdoms der Kardinalprotodiakon Jorge Arturo Medina Estévez. Nun erreicht die Spannung den Siedepunkt. Und Estévez genießt es augenscheinlich, den Gläubigen die frohe Botschaft zu bringen. Immer wieder lässt er zwischen den einzelnen Wörtern und Wortgruppen der traditionellen und sehr alten Formel wirkungsvolle Pausen, die den Menschen die Gelegenheit geben zu jubeln, ihre Freude auszudrücken, die ungeheure Spannung des Augenblicks zu erleben: »Annuntio vobis gaudium magnum. Habemus papam: Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Josephum, Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Ratzinger qui sibi nomen imposuit Benedictum XVI« Wie ein überwältigender Chor antworten die Menschen mit Jubel und mit Benedetto-Rufen. Tremoliert hatte Estévez: »Ich verkünde Ihnen eine große Freude. Wir haben einen Papst. Einen hervorragenden und höchstzuverehrenden Herrn, Herrn Joseph der Heiligen Römischen Kirche Kardinal Ratzinger, der sich den Namen Benedikt XVI. gegeben hat.«

Das Undenkbare ist geschehen, ein deutscher Kardinal wurde zum ersten Mal seit 500 Jahren zum Papst gewählt, genau genommen seit 900 Jahren, denn jener Hadrian VI. war im strengen Sinne ein Niederländer, der nur im Jurisdiktionsbereich des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation gelebt und gewirkt hatte.

Nach Estévez’ Verkündigung betritt der neue Papst Benedikt XVI. den Mittelbalkon, und die Welt sieht einen gelösten, einen glücklichen Mann, der die Hände hebt und segnet und alle in seinen Segen einbeziehen möchte. Sein ganzes Wesen wird in diesen Minuten auf dem Balkon von einer großen Freude ausgefüllt, aber es ist eine sehr menschliche Freude, die er mit allen teilen möchte. Dieser eher scheue Mensch genießt die Euphorie der Massen, weil darin für ihn das Wesen der Kirche besteht, in dem Eins-sein. Was ihm niemand, der ihn nicht näher kennt, zugetraut hätte, dieser als kühl geltende Gelehrte erobert die Herzen der Menschen auf dem Petersplatz im Sturm. Seine ersten Worte bringen die Gefühle der Zuhörer zum Klingen: »… nach dem großartigen Papst Johannes Paul II. haben die Herren Kardinäle mich, einen einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herren, zum Diener der Kirche gewählt. Mich tröstet, dass der Herr auch mit unzureichenden Mitteln regieren und arbeiten kann.«

Die Fahrt, einige Tage später, nach der Messe zur Amtseinführung, in der offenen Limousine durch die Menge, wird zum Triumphzug, und Ratzinger kommt den Menschen, die ihn begeistert als neuen Papst begrüßen, nahe, sehr nahe. Die Nähe, die er zu den Menschen sucht, ist eines seiner ersten Zeichen als Papst. Diese Nähe genießt er, er saugt sie mit allen Poren auf, denn so zurückgezogen er auch leben mag, so ist er auch Priester und will wirken. Das darf man bei ihm nicht unterschätzen. Immer wieder hat er sich gewünscht, nach seiner Pensionierung als Präfekt der Glaubenskongregation endlich längst geplante Bücher schreiben zu können, am Abend des Lebens noch einmal Zeit für die innig geliebte Wissenschaft zu haben. Nun wird es dazu nicht mehr kommen, denn Joseph Aloysius Ratzinger ist nun Benedikt XVI., der Papst der katholischen Kirche, ein Amt, das man üblicherweise bis zu seinem letzten Tag auf Erden wahrnimmt. Die Geschichte kennt nur einen einzigen Rücktritt, und zwar von Coelestin V., der eigentlich ein weltabgeschiedener Eremit auf dem Berg Morone war und den die Kurie holte, weil sie sich moralisch so diskreditiert hatte, dass sie ihr Glück darin suchte, einen heilig lebenden Mann einzusetzen. Dieser kannte sich weder in der Verwaltung aus, noch sprach er Latein, auch wusch er sich nicht. Er ernannte ständig neue Kardinäle, stimmte in seinen Entscheidungen mal dem einen, mal dem anderen zu, so dass ein großes Chaos entstand. Ein Zeitgenosse bemerkte: »Er regiert nicht aus der Fülle seine Macht, sondern aus der Fülle seiner Einfalt.« Nach fünf Monaten trat er zurück. Die Kurie hielt ihn dann in einem Kloster gefangen, so dass sich niemand seiner Einfalt bemächtigen konnte.

Seine Kirche hat Benedikt XVI. das höchste Amt gegeben, das sie zu vergeben hat. Der Stellvertreter Christi auf Erden und somit auch Mittler zwischen Gott und den Menschen zu sein muss notwendigerweise die Kraft eines Menschen übersteigen. Deshalb kokettierte der neue Papst nicht, als er sich damit tröstete, dass Gott auch mit unzureichendem Werkzeug arbeiten kann. Dieser totale Anspruch, mit dem der neue Papst von nun an täglich konfrontiert wird, erklärt das tiefe menschliche Mitgefühl, die Sorge seines Bruders Georg Ratzinger, der ihn verschont von dem Amt wissen wollte. Denn im Verständnis der Kirche hat Gott durch die Wahl der Kardinäle diesen Mann zum Papst bestimmt, und er wird dieses Amt so lange ausführen, bis Gott ihn abberuft.

Aber was macht dieses Amt so einzigartig? Warum diese Begeisterung, warum dieses Warten so vieler Menschen? Was macht dieses Amt so wichtig, dass Menschen dafür alles stehen und liegen lassen und zur Beerdigung oder Wahl des neuen Papstes nach Rom pilgern? Vergleicht man die öffentliche Wahrnehmung des Todes von Johannes Paul II. und der Wahl Benedikts XVI., erkennt man sehr deutlich, dass auch die katholische Kirche im Medienzeitalter angekommen ist, dass sie die Medien bewusst und geschickt nutzt, um ihre Botschaften zu übermitteln. Als Joseph Kardinal Ratzinger am 19. April gegen 18.30 Uhr die Gewänder anlegt, die ihn als Papst kenntlich machen, übernimmt er ein zweitausend Jahre altes Amt und stellt sich in die Kontinuität einer ungeheueren, einer einzigartigen Geschichte.

DER HEILIGE VATER

Der theologische Schriftsteller Johann Auer hat in der »Kleinen Katholischen Dogmatik«, die er gemeinsam mit Joseph Ratzinger verfasst hat, die Besonderheit des Papsttums zu fassen gesucht. Das Geheimnis »des Petrusamtes und des Papsttums ist, dass es in dieser Welt und für diese Welt und doch nicht von dieser Welt ist.«1 In diesem Satz findet sich das ganze Amtsverständnis des Papsttums wieder. Es soll und es muss in der Welt wirken, dazu ist es da, es ist gleichzeitig auch den speziellen Anforderungen der jeweiligen Zeit ausgesetzt und darf sich dennoch nicht ganz auf diese Zeit einlassen, denn es ist nicht ganz von dieser Welt. In vielen Jahrhunderten haben Menschen an der Gestalt des Papsttums gearbeitet, immer wieder Erfahrungen einfließen lassen und die Mechanismen verfeinert. Wie ein selbst lernender Organismus hat es über die lange Zeit an seiner heutigen Gestalt gefeilt. Aber damit nicht genug. Richtung und Kontinuität des Gestaltens wurden gewährleistet durch die Fixpunkte katholischen Denkens: die Bibel einerseits und andererseits die Überlieferung der katholischen Kirche, die erstens in der Praxis katholischen Lebens, wie sie in der Liturgie ausgebildet ist, besteht und zweitens in der sehr langen Geschichte katholischen Denkens, die in dem Bemühen der Theologie, Gott zu verstehen, von den Kirchenvätern seit den Tagen des Paulus Gestalt annahm. Diese Fixpunkte sind dem Priester und dem Professor der katholischen Dogmatik, Joseph Ratzinger, geläufig, gehören für ihn zum Einmaleins. Im Matthäusevangelium verkündet Jesus dem Jünger Simon: »Du bist Petrus, und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen.« So wird Simon zu Petrus, zum Stellvertreter Christi auf Erden, zum Mittelpunkt der Kirche, zum Vermittler zwischen Gott und Mensch, zum Wahrer des Glaubens. Begründet wurde diese lückenlose Kontinuität durch den Bischof Irenäus aus Lyon, der ein bedeutender Theologe des 2. Jahrhunderts war und als erster eine Papstliste veröffentlichte, die lückenlos von Petrus beginnend bis zur Zeit des Irenäus die Namen und Pontifikate der Päpste aufzählte. Damit stellte er die Kontinuität des Papsttums her, von Petrus, der das Amt von Christus selbst übernahm, bis in seine Zeit und schuf damit die Basis, auf der die Chronologie der Pontifikate bis heute aufbaut. So verheißt es eine höchst umstrittene Tradition. 263 Päpste vor Benedikt XVI. übernahm Linus von Petrus selbst die Nachfolge Christi, zu einer Zeit, als es in Rom vermutlich der lebensgefährlichste Job war, den man annehmen konnte. Christ zu sein bedeutete damals, ein sicheres Recht darauf zu besitzen, grausam gefoltert, gekreuzigt und quälend getötet zu werden. Die ersten Päpste sind auch als Märtyrer für ihren Glauben gestorben. Diese martyrologische Erfahrung des Amtes darf man nicht unterschätzen. Ein Amt, das mit so enormen persönlichen Risiken für seine Träger verbunden war, dennoch dem Zeitgeist und der Gewalt getrotzt hat, entwickelt ein eigenes Selbstverständnis und eine eigene historische Perspektive. Diese Komponente ist Benedikt XVI. ausgesprochen präsent. Wie wenige ist er mit der Frühzeit der Kirche vertraut, ein exzellenter Historiker, der in der Überlieferung der Kirche den Willen Gottes entdeckt. Für ihn verkörpert diese Überlieferung einen Teil des geschichtlichen Handelns Gottes. Bereits als junger Theologe befragte Joseph Ratzinger die Kirchenväter, die Männer, die der jungen Kirche Theologie und Verfassung gaben. Den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck machte dabei Augustinus auf ihn, über den er auch promovierte und den er seit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Beschäftigung seit nunmehr fast fünfzig Jahren immer wieder befragt. Über die Jahrzehnte wird für ihn aus dem Bezug eine Gewissheit, in dem Maß, wie zu eigenen Erfahrungen Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Arbeit stoßen und umgekehrt. Joseph Ratzinger hat immer wieder gesagt, dass er sich in seinen Ansichten über die Jahre nicht verändert habe, seine Kritiker behaupten das Gegenteil, indem sie den jungen Theologen, den Reformer auf dem II. Vaticanum gegen den kompromisslosen Konservativen, den Präfekten der Glaubenskongregation stellen. Lassen wir einstweilen noch offen, wer Recht hat, unbestritten aber und wichtig zum Verständnis des Papstes ist, dass die Erfahrungen der frühen Kirche und der Kirchenväter für ihn geistig und geistlich prägend geworden sind, ja mehr noch, dass sie das große geistige und seelische Abenteuer seines Lebens bedeuten.

Unter großen Anstrengungen, unter persönlichen Opfern, unter aufreibenden Diskussionen, einem uns Heutigen kaum noch verständlichen Ringen um Positionen, die uns nichts mehr sagen, wird im ersten Jahrtausend aus christlichen Gruppen allmählich die katholische Kirche, die in der Folge atemberaubend an geistlicher und an weltlicher Macht hinzugewinnt. Joseph Ratzinger wird in einem Gespräch mit Peter Seewald skeptisch die weltlichen Ansprüche und Herrschaftsgelüste der Kirche beurteilen, weil sie immer mit einem Verlust an geistlicher Macht einhergingen und einhergehen würden. Doch diese überragende Bedeutung konnte die Kirche nur erlangen, indem sich ein starkes, absolutes, selbstverständliches Zentrum herausbildete. Insofern ist für Benedikt XVI. die Erfahrung der Kirche genauso wichtig wie die Heilige Schrift, weil sie für ihn, theologisch ausgedrückt, die gelebte Offenbarung Gottes ist. Über Petrus, der das Stellvertreteramt von Jesus empfing, wurde es von Papst zu Papst weitergereicht. Heute existiert keine Institution, die älter als das Papsttum ist. Selbst die europäischen Königshäuser erscheinen uns im Vergleich dazu wie eine Versammlung von Teenagern.

Das macht das Amt des Papstes so einzigartig, aber nicht nur das, denn Matthäus berichtet in der oben zitierten Stelle noch mehr aus dem Gespräch zwischen Jesus und Petrus, dem Jesus Christus verheißt: »Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.« Der Papst stellt nicht nur das Oberhaupt der katholischen Kirche dar, er übernimmt auch die Schlüsselgewalt, er darf lösen und binden, er darf Menschen ausschließen aus der Gemeinschaft der Gläubigen, ihnen die Sakramente verweigern, er darf aber auch Menschen selig oder heilig sprechen. Er ist der Fels in der Brandung der Alltäglichkeit, der den Gläubigen Orientierung geben muss in einer Welt, die für das Individuum unverständlich und gefährlich ist. So lautet heute der volle Titel des Papstes: »Bischof von Rom, Statthalter Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Summus Pontifex der gesamten Kirche, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der römischen Kirchenprovinz, Souverän des Staates der Vatikanstadt«. Zunächst gilt der Papst als primus inter pares, als Erster unter Gleichen, denn er ist Bischof wie andere auch, nämlich der Bischof von Rom. Zunächst waren auch die ersten Päpste lediglich die Bischöfe von Rom, die aber schon eine gewisse zentrierende und teilweise auch integrierende Rolle eingenommen hatten, also auch tatsächlich die Ersten unter Gleichen darstellten. Die Besonderheit des Bischofs von Rom ergab sich daraus, dass er das Amt von Petrus, dem Apostelfürsten übernahm und mithin von Jesus Christus, also so zum direkten Statthalter Christi wurde. Die schweren und komplizierten Glaubensstreitigkeiten, die im frühen Christentum nur die dissonante Begleitmusik des Findens eines Kanons oder – bildlich ausgedrückt – einer geistlichen Verfassung gab, verlangten, wollte man nicht in tausend sich bekriegenden Sekten zerfallen, eine oberste Instanz, die integriert und letzte Entscheidungen fällt, wie es schließlich das I. Vatikanische Konzil 1870 definierte, einen Summus Pontifex der gesamten Kirche. So stand beispielsweise keinesfalls von Anfang an die Trinität fest, die Gemeinsamkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Auf den Marktplätzen und auf den Konzilien diskutierten die ersten Christen heftig darüber, ob Jesus Christus der Sohn Gottes, Gott also wesensgleich sei, oder ob er nur als gottähnlich angesehen werden dürfe.

Das Integrieren und das Entscheiden sind in dem Begriff gleichermaßen präsent, denn Pontifex heißt eigentlich Brückenbauer, oder noch genauer Pfadbahner. Hieraus ergibt sich für Benedikt XVI. eine wichtige Aufgabe, nicht nur Hüter des Glaubens, sondern auch Brückenbauer zu werden. Ein Teil der nach der Wahl zum Papst formulierten Skepsis bezieht sich exakt auf diesen Punkt.

Der Pontifex gehörte als Priester der römischen Staatspriesterkaste der pontifices an. Der ranghöchste Priester im antiken Rom hieß pontifex maximus. Diesen Titel trugen bis Konstantin dem Großen die römischen Kaiser, dann ging er auf den Papst über. Interessanterweise wurde die Verwaltungsstruktur der Kirche vom Römischen Reich adaptiert. Pontifex bedeutet lateinisch aber auch Bischof, und der Pontifex Summus ist der Oberste Bischof, der Bischof der Bischöfe. Zuerst wird in den Titeln des Papstes also die Stellung in der Tradition geklärt, dann werden die Herrschaftsbereiche definiert: Haupt der gesamten Kirche, Haupt des Abendlandes, und, nachdem es zum großen Schisma kam und die Ostkirche und die Westkirche sich 1054 trennten, schließlich Vorsteher der italienischen Kirche und weiter eingegrenzt Chef der römischen Kirchenprovinz. Durch die Lateranverträge von 1929 mit dem italienischen Staat wurde aus der Vatikanstadt der Vatikanstaat, also ein völkerrechtliches Gebilde. Deshalb ist der Papst seitdem auch Staatsoberhaupt, in seiner Funktion als Souverän des Vatikanstaates.

Benedikt XVI. sieht diese Staatlichkeit, die von der eigentlichen Aufgabe der Seelsorge ablenkt, eher als notwendiges Übel, denn sie allein garantiert die weltliche Unabhängigkeit des Papstes. Durch die völkerrechtliche Selbständigkeit lebt der Papst auf eigenem Territorium und befindet sich nicht im Regierungs- und Machtbereich eines weltlichen Herrschers. Was es bedeutet, sich letztlich in den Händen eines weltlichen Souveräns zu befinden, notfalls auch seine Geisel zu sein, hatten die Päpste im Laufe der Geschichte hinreichend leidvoll erfahren.

Das Papstamt hebt den Menschen auf eine geradezu Schwindel erregende Höhe, er wird direkter Mittler zwischen Christus und den Menschen. Im Gegenzug ist er vor Gott auch verantwortlich für den Zustand seiner Kirche. Als absoluter Fürst herrscht er unumschränkt, autokratisch, durch keine irdische Instanz kontrolliert. Wen er auf Erden nach den dafür geltenden Regeln heilig spricht, der hat im Himmel einen Fensterplatz. Manche Päpste wie beispielsweise Gregor VII., der Reformpapst, der den deutschen Kaiser Heinrich IV. nach Canossa zwang, meinten sogar, dass das Amt selbst heilige. In der Anrede Heiliger Vater drückt sich dieser fromme Wunsch, diese Vorstellung aus. Inwieweit Gregors Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmte, soll dahingestellt bleiben. Aber Machtfülle und moralische Autorität des Heiligen Vaters in der katholischen Kirche und im Vatikanstaat sind praktisch unbegrenzt. Es gibt kein Amt, das einen Menschen auch nur in eine ähnliche – auch im Wortsinn – absolute Stellung bringt. Sein Wort gilt für die Katholiken mehr als ein Gesetz, wenn er ex cathedra spricht, denn der Richter wäre im Falle der Zuwiderhandlung nicht irgendein Staatsbeamter, sondern der himmlische Richter. Es geht um nichts Geringeres als um die ewige Seligkeit. Das ist die Perspektive. Deshalb wird vor den Augen des Papstes nach seiner Wahl dreimal ein Wergbüschel verbrannt. Dazu wird ihm mahnend gesagt: »Sancte Pater, sic transit gloria mundi!« – »Heiliger Vater, so vergeht die Herrlichkeit der Welt!« Demut wird heftig anempfohlen. Mit so viel Macht muss maßvoll, behutsam und klug umgegangen werden. Das verlangt vom Amtsträger eine ganz außerordentliche menschliche Reife. Deshalb ist die Wahl eines neuen Papstes für die Gläubigen, aber auch für die Welt ein so entscheidendes Ereignis. Joseph Ratzinger hat einmal zu Bedenken gegeben, dass niemand sich die ungeheure Katastrophe auszumalen vermag, die es für die Menschheit bedeuten würde, wenn das Papsttum als moralische und unabhängige Weltinstanz, die keiner irdischen Macht noch einer irdischen Konjunktur verpflichtet ist, verschwände, welchen zivilisatorischen Dammbruch das nach sich zöge.

Das Primat des Papsttums stand und steht im Spannungsverhältnis zum Episkopalismus, einer Vorstellung, die mehr Macht den Bischöfen einräumt, und zum Konziliarismus, der die Bestimmung der Grundlinien, welche Richtung die Kirche einschlägt und wie sie sich zu grundlegenden Fragen verhält, regelmäßig stattfindenden Versammlungen der Kirchenoberen übertragen möchte. Immer wieder haben die Vorsteher der Ortskirchen darauf aufmerksam gemacht, dass sie die praktischen Probleme der Gläubigen und der konkreten Kirche vor Ort wesentlich besser kennen und sie deshalb ein größeres Mitspracherecht und eine weiter gefasste Freiheit in den Entscheidungen wünschen. Holzschnittartig betrachtet, stehen sich hier der römische Zentralismus und der Dezentralismus der Ortskirchen gegenüber. Wie dieses Spannungsverhältnis in einer produktiven Balance austariert werden wird, gehört zu den wesentlichen und drängenden Fragen des neuen Papstes. Natürlich kann Benedikt XVI. ein Jahrtausende währendes Verhältnis nicht einfach auflösen, aber er wird dieses Verhältnis für sein Pontifikat neu definieren. Auch wenn äußerlich die Kontinuität zu seinem Vorgänger in Worten gewahrt bleibt, wird er hier eher still neue Akzente setzen. Überraschungen wird es in diesem Pontifikat geben, aber sie werden sich aller Voraussicht nach in großer Ruhe vollziehen. Denn die Prozesse, wie wir noch sehen werden, sind bereits längst im Gang.

Der zweite Spannungspunkt ist die Forderung nach einem Konzil. Die Konzilien haben bei allem Petrusbezug in Wirklichkeit die Kirche erst geschaffen. Im ersten Jahrtausend gab es acht große Konzilien, die alle wichtigen Glaubens-, Liturgie- und Verfassungsfragen regelten. Darauf kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, ebenfalls nicht auf die Konzilien im Mittelalter und auf das I. Vaticanum im 19. Jahrhundert. Das II. Vaticanum von 1962 bis 1965, an dem der junge Theologe Joseph Ratzinger wesentlich beteiligt war, wurde als Aufbruch verstanden, als große Reform, durch die sich die Kirche der Welt öffnet und der Entwicklung auf unserem Erdball Rechnung trägt. Es kam dazu, weil es in der Kirche ein starkes Gefühl gab, dass sie nicht zurückbleiben dürfe, sondern mitten in das Leben hineinspringen müsse. So hatte es der populäre Johannes XXIII. gefordert. Konzilien finden nicht jeden Tag statt und müssen lange und klug vorbereitet sein. Doch dazu später, wenn wir den jungen Konzilsberater Joseph Ratzinger nach Rom zum II. Vaticanum begleiten.

Es gibt heute Stimmen in der Kirche, die nachhaltig ein neues Konzil fordern. Ihnen schwebt vor, dass das Konzil zu einer regelmäßigen Einrichtung wird, die die Tätigkeit des Papstes überprüft und bewertet, also eine Art Parlament mit dem Papst als Kanzler oder Premierminister. Der frühere Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, meint hingegen, dass das II. Vatikanische Konzil noch nicht einmal richtig ausgewertet worden sei. Es will scheinen, als ob er die Forderung nach einem Konzil, den Konziliarismus durch Konzessionen an den Episkopalismus aushebeln will, indem Benedikt XVI. eine neue und intensivere Zusammenarbeit mit den Bischöfen entwickelt, die ausgehen wird von den Bischofskonferenzen und den Ad-limina-Besuchen der Bischöfe in Rom. Wörtlich bedeutet ad limina an die Schwelle oder an die Grenze gehen. Diese Besuche, die in den letzten Jahren intensiviert worden sind, gehen auf Papst Sixtus V. zurück, der 1585 verfügt hatte, dass die Bischöfe, die Oberhirten der Regionen regelmäßig nach Rom reisen müssten, um über die Entwicklung in ihrer Diözese zu berichten. Im Vergleich zu früheren Zeiten werden die ad limina durch die Möglichkeit schellen Reisens natürlich stark vereinfacht. Ein Bischof aus Brasilien muss keine lange Schiffsreise mehr antreten, sondern ist in wenigen Stunden mit dem Flugzeug in Rom. Moderne Verkehrsmittel beschleunigen die Kommunikation der Kurie.

DER WEG DURCHS KONKLAVE

Wie sehr Joseph Kardinal Ratzinger das Amt angestrebt hat, ob er es mit allen Fasern seines Herzen auch wirklich gewollt hat, lässt sich noch nicht mit großer Sicherheit sagen, aber es fällt zumindest auf, dass er mit hoher Virtuosität alles richtig gemacht hat, um schließlich auch gewählt zu werden. Wieder einmal hat sich Kafkas Satz »Es lohnt sich, nicht feige zu sein« bestätigt. Denn der Präfekt der Glaubenskongregation handelte alles andere als feige, diplomatisch oder beschwichtigend. Er hat klar und deutlich erklärt, zuletzt bei der Predigt zur Messe, die die Kardinäle vor dem Einzug ins Konklave feiern, wofür er steht und wofür nicht. Diese Predigt wurde nicht zu Unrecht als Bewerbungsrede um das Amt des Papstes gewertet. Umso erstaunlicher, dass die Predigt herausfordert, anstatt sich Liebkind zu machen. Was ging der Predigt voraus? Das Pontifikat Johannes Pauls II. gehört zu den prägendsten und außergewöhnlichsten in der Geschichte der katholischen Kirche. Und Joseph Kardinal Ratzinger war ab 1982 als enger Mitarbeiter und Vertrauter des Papstes mit dabei. Die Politik des Vatikans, die Aktivitäten des Papstes wurden von ihm mit verfasst und theologisch fundiert. In den 26 Jahren seiner Amtszeit vermochte es Johannes Paul II. sehr wirksam, beispielsweise beim Zusammenbruch des Kommunismus zu helfen, indem er den Menschen immer wieder Mut machte, besonders in seiner polnischen Heimat. Er bereiste beinah alle Länder der Erde, traf unzählige Menschen und vermittelte bis in den Tod hinein persönlich und anschaulich gelebtes Christentum. Damit wirkte er authentisch und vermochte es, die Jugend zu begeistern. Hier entwickelte sich ein ganz eigenes, hoffnungsvolles Verhältnis. Dieser Papst fand seinen Weg – wie vor ihm zuletzt Johannes XXIII. seine Form gefunden hatte – von der äußerlichen Kühle und Ferne des Amtes in die Herzen der Menschen, indem er sich so zeigte wie er war und sich nicht verstellte oder vordergründig politisch nach Opportunitäten schielend handelte. Man musste nicht in allen Fragen mit ihm übereinstimmen, doch biederte er sich der öffentlichen Meinung nicht an und sorgte so für eine wahrhafte Auseinandersetzung um die zentralen moralischen Fragen. Politiker neigen dazu, den Menschen auf das Maß der Nützlichkeit für die eigene Karriere und die eigene Macht zu reduzieren. So war auf der einen Seite der Irakkriegsgegner Johannes Paul II. in Deutschland immer willkommen, der Gegner des Schwangerschaftsabbruches, wie immer man auch dazu stehen mag, wurde auf der anderen Seite von den gleichen Politikern totgeschwiegen oder heftig kritisiert. Der Irakkriegsgegner war für jene der Bannerträger des Fortschritts, der Verurteiler des Schwangerschaftsabbruchs ein finsterer Reaktionär. Gemeinhin nennen Politiker oder Kommentatoren in diesem Fall einen Menschen, der nicht in ihr Raster passt, widersprüchlich. Dieses Attribut meint dann »nur bedingt für die eigenen Zwecke brauchbar«. Dass es bei Johannes Paul eine tiefe Einheit gab in seiner Einstellung zum Irakkrieg und zum Schwangerschaftsabbruch, wurde dabei nur allzu gern übersehen. Was widersprüchlich genannt wird, zeigt nur die Eindimensionalität des Wertenden, der gar nicht auf den Gedanken kommt, dass es andere Weltbilder geben könnte als das seinige. Nur allzu oft ist das scheinbar disparate Faktum eine Facette eines komplexen und in Wahrheit konsequenten Denkens. Bei Benedikt XVI. werden wir in den scheinbar widersprüchlichen Positionen die Einheit finden. Zu Beginn seines Pontifikats berief Johannes Paul II. Joseph Kardinal Ratzinger zum Präfekten der Glaubenskongregation. Und nicht nur ihn. Bis auf zwei Kardinäle, Ratzinger war einer davon, waren alle, die an der Wahl Benedikts XVI. teilnahmen, von Johannes Paul II. in seiner Amtszeit ernannt worden. Dieses lange Pontifikat hat die katholische Kirche, vor allem aber die Kurie stark geprägt, denn es hat in der Personalpolitik die Konservativen gestärkt. Enger Mitstreiter des polnischen Papstes war in all den Jahren der Chef seiner wichtigsten Kongregation, Joseph Kardinal Ratzinger. Insofern besaß der deutsche Kurienkardinal gute Chancen, den Stuhl Petri zu besetzen, wenn die Kardinäle die Kontinuität zum vorigen Pontifikat suchen würden. Doch konnte das in ihrer Absicht liegen? In all den Jahren als oberster Glaubenswächter hat Ratzinger sich als Meister der deutlichen Aussprache nur allzu viele Feinde gemacht, die in ihm das Konservative, das Reaktionäre, das Lebensfremde, das Intolerante, das Autoritäre und Zentralistische sehen wollten, je nach Standpunkt. Der Begriff des Panzerkardinals machte die Runde. Wie oft entlud sich an der Person Ratzingers, was eigentlich dem Papst galt. Dass es so war, lag auch an der virtuos gehandhabten Rollenverteilung der beiden, die der deutsche Kardinal mit Überzeugung, mit dem ehernen Willen zur Pflichterfüllung ohne Murren, ohne Augenzwinkern annahm. In einem Gespräch mit dem Autor erklärte der Kardinal seine Rolle und Funktion in der Kurie, wie er sie verinnerlicht hat, mit dem Bild des heiligen Sebastian, der die Pfeile auf sich zog. Und erklärend fügte er hinzu, dass es doch viel besser sei, wenn die Prügel beim Kardinal Ratzinger abgeladen würden anstatt beim guten Papst, der doch über dem kleinlichen und alltäglichen Gezänk stehen müsse. Und in diesem Moment im Gespräch schien es, als empfände der Kardinal eine heimliche Freude, Blitzableiter der Widersacher zu sein. Ein Gutteil bayerische Dickköpfigkeit half ihm dabei mit Sicherheit, diese Rolle auch anzunehmen.

Die Vertrautheit der beiden Kirchenfürsten fand zumeist hinter verschlossenen Türen statt. Konnte sie auch, denn der Kardinal hatte jederzeit Zugang zum Papst. Er musste sich weder um einen Termin noch um eine Audienz bemühen. Doch wie weit diese Vertrautheit ging, konnte die Öffentlichkeit beim Karfreitagsgottesdienst 2003 sehen, als Kardinal Ratzinger für den schwer kranken Papst das Kreuz trug. In dem Moment, in dem der Kardinal dem Papst das Kreuz reichte, das jener berührte, konnte der aufmerksame Beobachter die tiefe Verbundenheit der beiden entdecken, ja förmlich fühlen. Immer mehr fielen dem Dekan der Kardinäle, der Ratzinger seit 2002 inzwischen war, die Aufgaben des todkranken Papstes zu. Unter seiner Leitung arbeitete die römische Kurie geräuschlos, trotz eines Papstes, der immer weniger Einfluss nehmen konnte und sich bereits in die Ewigkeit begab. Doch eine Empfehlung für eine Wahl ist dies nicht. Eher das Gegenteil, denn das Kardinalskollegium entschied sich nicht selten gegen Kardinäle, die ein Übermaß an Macht besaßen. So musste schon Ratzingers Vorvorgänger im Amt des »Inquisitors«, der mächtige Giulio Antonio Kardinal Santori vor einem halben Jahrtausend erfahren, vor dem sich selbst der Mann, der »unter ihm« Papst war, gefürchtet hatte, dass die Kardinäle ihn nicht noch mächtiger werden lassen wollten, auf dass er nicht empfindlich ihre Kreise stören konnte. Ein Kardinal, den er für die eigene Wahl gewinnen wollte, schlug sogar im Konklave das Kreuz vor ihm und sagte: »Weiche von mir, Satan.« Heftige Empfindungen sind also nicht ausgeschlossen.