Rigor Mortis
Band Eins
Goldrausch
von
Faye Hell
Writer’s Cut
Vollständige Ausgabe 2021
Copyright © Hammer Boox, Bad Krozingen
Lektorat: Melanie Vogltanz
& Hammer Boox, Bad Krozingen
(Fehler sind völlig beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis
behalten werden)
Titelbild: Azrael ap Cwanderay
Satz und Layout: Hammer Boox
Copyright © der einzelnen Beiträge bei den Autoren
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EINE BITTE:
Wie ihr vielleicht wisst, ist HAMMER BOOKS noch ein sehr junger Verlag.
Nicht nur deshalb freuen wir uns, wenn ihr uns wissen lasst, was ihr von diesem Roman haltet.
Schreibt eine Rezension, redet darüber,
fragt uns, wenn ihr etwas wissen wollt ... DANKE!
Einen auf den Weg …
… so nennt man es doch, wenn man sich noch schnell einen Schnaps hinter die Binde kippt, bevor man sich auf den Heimweg macht.
In DAWSON CITY bekommt man im Downtown Hotel einen Sour Toe Cocktail serviert. Klingt, als wäre da ein Zeh in eurem Whiskey? Genau das ist es auch. Whiskey (passenderweise ist das meist ein Yukon Jack) mit einem mumifizierten menschlichen Zeh darin. Falls den jemand verschluckt, muss natürlich ein neuer her. Aber für Nachschub ist gesorgt. Angeblich gibt es einige Menschen, die der Hotelbar nach ihrem Ableben einen Zeh vermachen wollen. Grausam und bizarr? Irgendwie schon, aber vor allem so durchgeknallt, wie ich den hohen Norden Amerikas und Kanadas kennenlernen durfte.
Was ich eigentlich sagen will …
… wird jetzt doch sehr persönlich. Aber so ist das Schreiben. Es ist etwas verdammt Persönliches. Lasst mich kurz aus dem Nähkästchen plaudern, wir sind ja hier unter uns.
Was ihr in Händen haltet, ist die Neuauflage von RIGOR MORTIS – und dieses Buch ist ein echtes Herzensbuch. Aber wie es mit Herzensangelegenheiten oft der Fall ist, ist auch diesem geliebten Roman echt fieses Unrecht widerfahren, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich deshalb gelitten habe wie ein literarisches Tier.
Man hat mich bei der Erstveröffentlichung nicht nur um mein Geld gebracht, es ist noch weitaus Schlimmeres passiert: Die damaligen Verleger haben meinem Roman, für den ich extra nach Kanada/Alaska gereist bin, um zu recherchieren, das Leben genommen. Sie haben ihn zu einem Dasein auf dem Abstellgleis verdammt. Eine ausrangierte, ignorierte Lok irgendwo auf einem toten Gleis in Kennicott, Alaska.
Narratives Koma.
Ich wollte mich damit abfinden.
Ich wollte nicht kämpfen.
Ich wollte es einfach bleiben lassen.
Aber das Buch wollte etwas ganz anderes.
Der Roman wollte zurück ins Leben.
Und um genau zu sein, wollte er sogar so viel mehr sein, als er damals gewesen ist.
Gemeinsam mit meinem neuerworbenen Verleger und langgedientem Freund Markus Kastenholz ist RIGOR MORTIS tatsächlich zu dem Projekt gereift, das der Roman von Anfang an hätte sein sollen. Deshalb haltet ihr genau genommen nicht nur RIGOR MORTIS in einer Neuauflage, sondern den ersten Teil in euren Händen. Da das Buch auch ursprünglich schon eine Dreigliederung aufgewiesen hat, habe ich diese nicht nur beibehalten, vielmehr habe ich das Konzept der Trilogie vertieft.
In diesem ersten Band erzähle ich euch demnach nicht nur den ersten Teil der Geschichte, sondern auch das Prequel. Ich führe euch an den Ursprung. An die Quelle.
I’ll show you fear in a handfull of dust.
(T. S. Eliot)
Ich bringe euch dorthin, wo die Geschichte wirklich ihren Anfang nimmt.
Wenn ich ehrlich bin, ist es eine Schande und wohl gleichermaßen auch ein Glück, dass ich das erst jetzt mache. Aber vor allem ist es ein Befreiungsschlag und eine Herausforderung für mich. Was erzählt werden wollte, wird nun erzählt, damit ihr es hören und meine Geschichte noch tiefer erfassen könnt.
RIGOR MORTIS lebt nicht weiter, der Roman lebt wieder. Er ist ein Wiederkehrer, ein literarischer Vampir, ein grauenerregender Untoter und dieses Mal lebt dieses Monster (und damit meine ich nicht bloß Randall Henderson) intensiver.
Was gibt es sonst Neues im Wilden Westen Alaskas?
In FAIRBANKS habe ich die Geisterjägerin Jessie Desmond getroffen, und sie hat mir einen Blick auf ihre Heimat gewährt, der mir das Blut in den Adern hat gefrieren lassen. Aber wo bliebe da der Spaß, wenn nur ich mich fürchte? Deshalb nehme ich euch mit auf eine unvergessliche Stadtführung.
Ihr wollt mir in die Karten schauen? Ich lege mein Blatt offen auf den Tisch! Denn Ähnliches habe ich auch mit den weiteren beiden Teilen vor. Ihr werdet so nicht nur einen intimeren Einblick in die Geschichten meiner Figuren bekommen, sondern auch in meinen Schaffensprozess.
Pragmatisch oder eben streng mathematisch betrachtet sind das insgesamt bloß viele Seiten mehr. Aus dem Herzen gesprochen, kann ich sagen, dass RIGOR MORTIS bei HAMMER BOOX angekommen ist. Mein Roman hat seine Heimat gefunden, und ich danke Markus Kastenholz dafür. Es war eine lange und schmerzhafte Reise, aber manchmal braucht es diesen Schmerz, um wie der Phönix aus der Asche emporsteigen zu können. Obwohl es in meinem Fall eher ein Schatten ist, den ich auf eure Welt loslasse.
Denn ihr wisst, die Schatten sind überall. Und überall, wo ein Schatten ist, da bin auch ich.
Also, nehmt euch einen Sour Toe Cocktail und folgt mir nach DAWSON CITY. Habt Spaß, fürchtet euch … aber vor allem genießt die Reise!
from Hell
eure Faye Hell
»Weshalb kümmert es euch, ob Blut an meinen Händen ist, wenn ich euch zum Gold führen kann?«
1898, Yukon Territory:
Ein erbarmungsloser Holzbaron tyrannisiert die Goldgräberstadt Dawson City.
Sein menschliches Antlitz ist bloß Fassade.
2005, Alaska:
Ein mysteriöser Schatten verfolgt eine Reisegruppe.
Mit jedem Tag, der verstreicht, ist seine rachsüchtige
Gestalt deutlicher zu erkennen.
2017, Kalifornien:
Ein fanatischer Talkshowmaster schockiert mit seiner
Late-Night-Horror-Show.
Aus blindem Ehrgeiz wird fataler Größenwahn.
Drei Geschichten, eine Wahrheit.
Vielleicht ist Legende doch nur ein anderes Wort für
»ihr wurdet gewarnt«.
*****
TEIL EINS der RIGOR MORTIS Reihe.
WRITER‘S CUT:
& Prequel »Pechschwarze Dunkelheit«
& Reisereportage »Bei Walmart spukt es ebenfalls«
INHALT
Einen auf den Weg …
(Vorwort)
RIGOR MORTIS
Band 1
GOLDRAUSCH
Neetseekhaadaatl'oo
Pechschwarze Dunkelheit
»Bei Walmart spukt es ebenfalls.«
Eine paranormale Stadtrundfahrt in Fairbanks und eine Reise in das dunkle Alaska
(Hintergrundreportage)
Corpus mortui
meum sepultum est sed adhuc vago.
(Liegt auch mein Körper begraben,
so wandelt mein Geist immer noch.)
Würdest du eher deine Mutter ficken oder deinen Vater töten?
Ein antikes Dilemma für einen Popstar des dritten Jahrtausends.
Die Quintessenz des Desasters trifft auf die personifizierte Belanglosigkeit.
Das bringt Quote.
Ich lehne mich in meinem Ledersessel zurück, lasse meine rechte Hand aber weiterhin gebieterisch auf der Tischplatte ruhen und beobachte ihn. Es mag wirken, als würde ich, lauernd wie eine Bestie, nach seiner Antwort gieren, ihn mit meiner Aufmerksamkeit strafen und das in Todesangst erstarrte Freiwild somit in eine Falle locken. Ich bin das allgemeine Böse, bin sein ganz konkretes Verderben und magisch schön in meiner Arroganz. Hochkonzentriert und überlebensgroß. In Wirklichkeit unterdrücke ich ein Gähnen. Er langweilt mich, meine eigene Inszenierung langweilt mich. Seine Starallüren schrumpfen unter meinem Blick, das aufbrechende Blendwerk des geborgten Ruhms lässt das Kind durchscheinen, das er gestern noch gewesen ist. Ich muss ihn nicht vorsätzlich anstarren. In meiner Gegenwart fühlt sich jeder angestarrt. Nennen wir es Talent, aber genau genommen ist es mein Naturell. Ich bin einschüchternd, also wirke ich auch so.
»Ich warte.«
Meine Stimme ist die Stimme des großen bösen Wolfs, märchenhaft gepaart mit dem Schnurren der Grinsekatze. Sie macht die Menschen an und sie macht ihnen Angst. Wenn ich lächle, wird mein Gesicht zur Fratze.
»Wir alle warten«, setze ich nach.
Ein Tosen und Toben geht durch das Studiopublikum. Hysterisch reißen sie die Hände in die Höhe und die Mäuler auf. Sie alle in dieser Halle und ihr alle da draußen: Ihr seid mein Wir. Und ihr verlangt nach diesem Spiel, weil ich es euch unterbewusst aufgezwungen, euren Verstand vergewaltigt und gebrochen habe. Ihr wollt es, genauso wie ihr T-Shirts mit meinem Konterfei und Kaffeetassen mit dem Schriftzug Count Mortis – Willkommen in der Hölle wollt. Eigentlich begehrt ihr mich, aber ihr bekommt nur, wofür ihr bezahlen könnt.
Ich hebe meine Hand und die grölende Meute verstummt augenblicklich. Auf mein Kommando beginnen sie zu zählen, all diese Stimmen, in einem geifernden Countdown vereint.
FÜNF
Das identitätsfreie Insekt im Menschenkostüm ist gerade mal zwanzig Jahre alt, sein strohblondes Haar verschleiert sein halbes Gesicht. Nervös nagt er an seiner Unterlippe. Die Tattoos, die sein blasses Fleisch bedecken, sollen ihn rebellisch erscheinen lassen, aber sie sehen aus wie aufgemalt. Er selbst ist nicht mehr als ein Abziehbild.
VIER
Geh dorthin, deine Fans werden dich feiern, hat sein Management gesagt. Das ist der Burner, wenn du heiß bist, bist du in dieser Show, haben seine Freunde gesagt. Das bringt uns hunderttausende Klicks in allen Netzwerken, wir schießen auf Platz eins, hat seine Band gesagt. Sie hätten ihm stattdessen sagen sollen, wer auf ihn wartet. Ich und mein keifendes Wir. Wer in mein Revier kommt, der gibt seine Würde an der Garderobe ab und bekommt sie erst zurück, wenn ich sie besudelt habe.
DREI
Er denkt an seine Mama und daran, dass sie schon immer sein größter Fan gewesen ist. Sie hat in der Küche gesungen, und bevor er überhaupt hat sprechen können, hat er mitgelallt und mitgesabbert. Seine Mama hat an sein Gesangstalent geglaubt, da hat er bei Albträumen noch ins Bett gemacht. Jetzt bin ich sein Albtraum. Sein von mir determiniertes Kopfkino zeigt ihm, wie er das tränennasse Gesicht seiner Mutter in ein Kissen drückt und ihr von hinten seinen winzigen Schwanz zwischen die fetten Arschbacken rammt.
ZWEI
Mit seinem Papa hat er Vogelhäuschen gebastelt. Im Winter haben sie gemeinsam die hungrigen Gäste beobachtet und gewissenhaft Strichlein in ein winziges Büchlein gemacht. Ein Vogeltagebuch. Einmal hat sein Papa geweint, als eine Meise mit zerrupftem Gefieder unter einem der Häuschen gelegen hat. Steifgefroren. Der Papa, der hat Herz. Und in diesem Augenblick zeige ich dem suizidgefährdeten Sänger, wie er dieses Herz mit einem Küchenmesser durchbohrt, erst langsam mit der höllisch scharfen Klinge in den festen Brustkorb eindringt, dann immer und immer wieder zustößt. Stoß um Stoß, wie er zuvor seine Mutter gestoßen hat.
»Deine Mutter ficken oder deinen Vater töten?«, will meine wölfische Stimme wissen. Ich will einzig und allein, dass die Sendezeit endlich vorübergeht.
EINS
»Ich … ich … aber …«, stottert der von fettleibigen Grundschülerinnen angebetete Magersüchtige. Ob sie davon träumen, seine glasklare Knabenstimme mit ihren Schenkeln zu ersticken? Mit ihren unberührten Feigen aufzusaugen?
»Aber … was?«, frage ich.
Mein Publikum brüllt: NULL
Und er schweigt.
Eine Sternschnuppe unserer Unkulturgesellschaft, bereits von meiner dritten Frage zum Verglühen gebracht. Gleißend brennen die Scheinwerfer auf uns herab. Ich kann deutlich sehen, wie blind er in diesem Rampenlicht ist. Wer sich in die erste Reihe drängt, dem entgeht die Welt in seinem Rücken. Mir entgeht nichts. Verstört krallt er sich mit beiden Händen an der weißen Ledercouch fest, während er krampfhaft versucht, weiterhin lässig zu wirken. Hat er schon keine Persönlichkeit, so hat er doch ein Image zu verlieren. Wenn er nicht antworten kann, dann muss wenigstens die Pose stimmen.
Kommen Sie mit mir.
Atmen Sie dreimal tief durch, werden Sie zu einem Baum, der seine Äste in den Himmel hochreckt und seine Wurzeln in den Schoß der Urmutter vergräbt. Spüren Sie das Licht und wiederholen Sie mit mir gemeinsam das Mantra der Generation, die sich dafür verantwortlich wähnt, dass die Erde sich weiterhin um ihre eigene Achse dreht: Die Pose muss stimmen! Die Pose muss stimmen! Die Pose muss stimmen!
Perfekt.
Zurück ins Studio.
Ein feiges Lächeln ziert sein beschissen schönes Gesicht. Seinen Fans sagt es: Ich bin heiß, das lässt mich kalt! Mir sagt es: Wenn du das machst, wirst du mich vernichten.
Das weiße Licht bricht. Erbricht brodelnde Lava. Im Hintergrund lodern auf einer überdimensionalen Leinwand die virtuellen Flammen meiner Hölle. Die Schreie der Zuschauer verebben, die Stille gebiert frenetisches Schweigen. Die Menschen im Saal wissen, dass es zu spät für seine Antwort ist, und sie wissen, was das bedeutet. Ich neige meinen Oberkörper nach vorne, schaue meinem zyklopischen Ehrengast über den Schreibtisch hinweg in das Auge, das nicht von seinen Haaren verdeckt wird, und flüstere werkgetreu. Gerade so laut, dass es selbst die letzte Reihe hören kann, gerade so leise, dass ich sie alle dazu zwinge, mir gebannt zu lauschen.
»Warum nicht beides?«
Und in diesem köstlichen Moment, als die letzte Silbe meiner Abartigkeit massenmedial Gehör findet – über den entmystifizierten Äther zu einer devoten Gesellschaft hinausgetragen, die mir zu Füßen liegt – ergießt sich ein schier endloser Schwall von Rot über den Jungen, dessen Song You are my moonlight den komplexbeladenen Harmoniesüchtigen weltweit als emotionale Onanier-Vorlage dient.
Rot.
Blut.
Ich ertränke die Feigen, ich ertränke die Zartbesaiteten, ich ertränke die von der Moral Gefesselten. Ich taufe sie in Kunstblut.
Zumindest behaupte ich, dass es das wäre. Künstlich.
Die Anwesenden kreischen in Ekstase, springen von den Sitzen hoch, deuten wie die Römer im Kolosseum auf den Blutbesudelten. Ich bin das Tier, das gewonnen hat, und sie sind mein Mob. Ein entmündigter, aber von Konventionen befreiter Mob.
Mein Publikum will meine Studiogäste nicht antworten hören, sie wollen sie bluten sehen. Erst verbal, dann wahrhaftig. Auf diese Weise sind sie glücklich, und sie gehören mir.
Die Leute hier, die Leute dort, und auch du.
»Heiße Sendung, Rick! Die absolute Pest, wie immer, Großmeister! Lang lebe die Hölle!«, ruft mir mein Regisseur im Vorübereilen zu. Ich erhebe meine rechte Hand zum Dank, forme die Geste, die ich nicht erfunden, aber erfolgreich okkupiert habe: mano cornuta – die gehörnte Hand.
Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand salutiert er an der imaginären Krempe seines imaginären Hutes. Er hat keine Zeit, um stehenzubleiben und mit mir den Handschlag einer erfolgsverwöhnten Männerfreundschaft zu teilen. Sogar die Zeit, die ihm noch bleibt, ist geborgt, und der Kredithai kaut bereits an seiner Arteria carotis. Ich höre meinen Regisseur rufen und ich sehe ihn rennen. In seinem Leben gibt es keinen Platz für etwas, das nicht schnell oder laut geschieht. Selbst während meine Show aufgezeichnet wird, rast er pausenlos am Bühnenrand auf und ab, schreit sein Team lautlos an. Seine überstrapazierten Stimmbänder mögen in stummer Stille verweilen, immerhin will er die Aufnahme nicht gefährden, aber seine Gesten entlarven sein Schreien. Das, und die Gesichter seiner Mitarbeiter. Seine Hektik wird ihn demnächst umbringen, doch bis dahin pumpt sein Ehrgeiz knallhart die Lebensgeister durch unsere Late Night Horror Show. Er ist eine wahre Bereicherung für meinen bizarren Fundus an Individuen, sein absehbarer Tod wird dennoch keine Lücke hinterlassen.
Alle sind austauschbar, alle kann man ersetzen.
Alle und alles.
Ich allein bin immer, und ich bin ewig.
Zufrieden betrachte ich mein Spiegelbild. Nicht irgendwo, mein changierendes Abbild wird von einer Glasscheibe reflektiert, die ein gerahmtes Werbeplakat meiner Sendung vor der abnutzenden Zeit und den lüsternen Blicken beschützen soll. Mein tatsächliches Antlitz ruht über meinen auf Hochglanzpapier gedruckten Gesichtszügen. Ich bin stets mehr als einfach nur da. Pechschwarz gefärbtes, schulterlanges Haar, aus der Stirn frisiert, um mein markantes Gesicht zur Geltung zu bringen. Eisige, blassgrüne Augen, die denjenigen, der es wagt, direkt hineinzublicken, mit dem Irrsinn der Unendlichkeit strafen. Beinahe zwei Meter groß, sehr schlank und geschmeidig, der Körperbau eines Gepards. Angeblich um die vierzig Jahre alt, aber wer weiß das schon genau? Mein wahres Alter würde meine treuen Anhänger schockieren, also halte ich diese Angabe vage. Ich bestimme mein Ich und ich bestimme über euch. Richard Darius, besser bekannt unter dem Namen Count Mortis, ein verdammtes Bild von einem Mann.
Ich bin die Ikone der Geschmacklosigkeit und Intoleranz.
Ich bin das Zeichen der Zeit.
Ich bin euer neuer Messias.
»Du hast in dreißig Minuten einen Interviewtermin«, reißt mich die Stimme meines persönlichen Assistenten aus meiner autoerotischen Allmachtsfantasie. Andere Menschen haben einen Terminkalender, ich habe Peter. Er ist der Einzige am Set, den ich persönlich eingestellt habe. Ich hätte aus zahllosen Bewerbern wählen können. Der Entertainmentmoloch Hollywood thront auf den malträtierten Rücken traumverblendeter Sklaven, die es im Showbiz zu etwas bringen wollen und sich deshalb für jeden beliebigen Star prostituieren, ihr Wesen und ihre Seele ausverkaufen. Sich selbst vernichten für einen Augenblick des Wahrgenommenwerdens. Aber ich habe nicht wählen müssen.
Ich habe gefunden.
Eines Nachts traf ich auf einem meiner Streifzüge durch die dunklen Gassen unserer erleuchteten Stadt der Engel auf einen Teufel. Ein kindlich wirkender Mann mit einem Gesicht, das so schwarz war, dass es mit der Dunkelheit verschwamm, die ihn umgab, kniete im Rinnstein neben einem blutverschmierten Hund, dessen Genick widersinnig verdreht war und aus dessen aufgeplatztem Leib dampfendes Gedärm quoll. Der Anblick war von schmerzhafter Schönheit, also blieb ich stehen und betrachtete das menschlich-tierische Stillleben der Vergänglichkeit. Erst dachte ich, er wolle den sinnlosen Tod seines Gefährten betrauern, doch dann erkannte ich, dass er nicht in andächtigem Gram versunken war. Er beobachtete. Musterte eingehend den Vorgang des Sterbens, und dennoch war sein Gesicht ebenso erstarrt wie die tote Fresse des toten Hundes. Er sah es, aber er fühlte es nicht.
Ausgezeichnet.
»Rick, komm schon, Alter, du kannst später wieder in dein krankes Gehirn abtauchen, aber das ist wichtig«, setzt das hässliche Menschenwesen mit den Fischaugen nach, als ich nicht antworte. Es stört mich nicht, dass er diesen respektlosen Ton anschlägt, es muss sogar jemanden geben, der es wagt, auf diese Weise mit mir zu sprechen, und Peters Persönlichkeitsstörung ist die ideale Grundvoraussetzung dafür. Er ist völlig frei von Empathie, kann keine Beziehung zu seinen Mitmenschen aufbauen und könnte mir ein Messer in den Rücken rammen, ohne den geringsten Funken Schuld zu verspüren. Mein Wesen ist ihm fremd, was ihn gänzlich unempfänglich für die Apokalypse macht, die in mir haust und gedeiht. Er empfindet nichts und somit empfindet er nichts für mich. Keine Furcht, keine Verehrung, keinerlei Hingabe. Er ist wie für mich erschaffen.
»Rick, du solltest wirklich …«
»Wer?«, falle ich ihm ins Wort und lächle dabei wohlwollend. Das sieht gewiss grässlich aus, aber Peter kann die Nuancen meiner Mimik ohnehin nicht deuten. Ihm kann meine giftige Sympathie gelten, denn er wird sie nicht erwidern. Das ist unendlich beruhigend. Jeder braucht etwas, das er bedenkenlos hätscheln und tätscheln kann, sogar ich.
»Valery Cummings«, klärt Peter mich auf.
Valery Cummings. Nomen est omen.
Sie ist also das Stück, das ich heute ficken werde. Gut, ich steh nicht auf Valery, aber es gibt ohnehin niemanden, der mich wirklich anmacht. Ich bin der einzige geile Mensch auf diesem gottverdammten Planeten, und mein Schwanz ist das Einzige, das mich sexuell erregt. Wenn er zu voller Größe anschwillt und damit meine Macht repräsentiert, dann komme ich. Ich bin ein überzeugter Wichser und besorge es mir genau genommen auch dann selbst, wenn ich andere ficke. Denn sie alle sind bloß Fleisch und Löcher, und am liebsten ist mir ein Loch, das nicht willig ist, das ich erst aufreißen muss. Blut ist das Gleitmittel der Natur.
»Rick? Ich bitte dich!«
»Cummings … verfluchte liberale Schlampe. Sie kommt ins Studio?«
»Ja, in dreiundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden.«
»Du zählst die Sekunden?«
»Immer«, antwortet er und nickt bestätigend. Das beharrliche Wackeln seines Schädels lässt seine glasigen Forellenaugen noch weiter hervortreten. Er ist nicht nur ein emotionaler Krüppel, sondern darüber hinaus wahnsinnig abstoßend und ebenso widerwärtig anzusehen wie der tote Hund.
»Was genau will sie hier?«, keife ich genervt und überprüfe gleichzeitig mit einem gezielten Griff zwischen meine Beine, ob mein Schwanz bereits Interesse zeigt. Wieder ein kleines Detail, das Peter nicht irritieren kann. Meine Marotten jucken ihn nicht. Ich liebe diesen potthässlichen Scheißkerl. »Kann sie uns nicht einfach die Frage schicken und irgendein versoffener und von Selbstzweifeln geplagter Autor aus einer meiner zugekackten Legebatterien antwortet dann darauf?«
»Nein. Sie will endlich persönlich mit dem König des Late Night Talks sprechen«, sagt Peter und deutet auf meinen Penis. »Ich glaube, sie will Count Mortis auf den Zahn fühlen.«
»Unlustig«, antworte ich, muss aber dennoch breit grinsen. Das Wortspiel hat was, wo die Boulevardblätter doch so scharf auf mein wohldurchdachtes und intensiv gepflegtes, aber vor allem blutrünstiges Vampir-Image sind.
»Ich bin auch keiner deiner Gag-Schreiber«, entgegnet er. »Ich kacke, wo ich will.«
»Richtig. Und das ist besser so. Wie hat dir die Show heute eigentlich gefallen?«
»Wie immer großartig«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
»Wie wäre es ausnahmsweise mal mit deiner ehrlichen Meinung?«
»Spielt keine Rolle. Ich sage, was du hören willst. Außerdem haben wir keine Zeit für Meinungen. Zweiundzwanzig Minuten und …«
»Schon gut! Ich bin auf dem Weg.«
»Sie wartet im Konferenzraum direkt neben dem Empfang. Sei der, den sie unbedingt haben will, aber sei dennoch ein dermaßen selbstgefälliger Arsch, dass sie dir einen grauenvollen Tod wünscht.«
»Das ist der Grat, auf dem ich wandle. Und deshalb …«
» …deshalb vergöttern dich deine Fans …«
» … und hasst mich der Rest der Welt. Wir müssen bemerkt werden und wir müssen im Gedächtnis bleiben. Immer. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, in jedem einzelnen verdammten Augenblick. Hass und Liebe. Keine Gleichgültigkeit. Das ist pures Gold, ich sage dir, pures Gold.«
»Hass und Liebe«, wiederholt er.
»Hass und Liebe«, bestätige ich. »Und Peter, es gibt Menschen, die ficken, und es gibt Menschen, die gefickt werden. Ich werde immer zu der ersten Gruppe gehören. Ficken oder gefickt werden, das ist das Dogma.«
Ficken oder gefickt werden, das ist das Dogma.
Obwohl er es nicht fühlen kann, so weiß ich doch, dass er versteht. Peter ist kein Teil des Affentanzes, den wir soziale Interaktion nennen, aber er hat gelernt, dieses meta-emotionale Miteinander zu analysieren und das Ergebnis seiner eingehenden Studien zu seinem Vorteil zu nutzen, und somit auch zu meinem.
In Gedanken jene stereotypen Vorurteile durchgehend, die mich ausgezeichnet kleiden und die ich dementsprechend während des Interviews bedienen will, schlendere ich davon, als mich Peters Zuruf abermals aus dem Konzept bringt und aufhält.
»Rick!«
»Was willst du noch?«
Ich verabscheue es, wenn er meine Bahnen auf diese Weise durchkreuzt, aber ich brauche es. Ohne Peter würde ich mich festfahren. Er erinnert mich an die Authentizität meiner Personifikation, er selbst ist dermaßen inhaltsleer, dass sogar mein Ich an ihm wächst.
»Ich kann dir nicht sagen, ob mir deine Show gefällt. Das einzige Gefällt mir, zu dem ich fähig bin, findest du auf Facebook. Ich bin Patient Null der modernen Menschheit. Aber ich kann dir sagen, wie ich deine Show sehe. Willst du das wissen?«
»Lass mich meine Welt durch deine Augen sehen. Teile deine Wahrnehmung mit mir.«
»Die Show ist grausam, sie ist menschenverachtend. Es wird alles in den Dreck gezogen und zerstört, das Herz oder Anstand besitzt. Und dann erst die Studiogäste. Du stellst beliebigen Prominenten abartige Fragen. Notgedrungen stoßen sie irgendwann an ihre moralischen Grenzen und können nicht mehr antworten, ohne ihr Gesicht und somit ihre Fans zu verlieren. Daraufhin übergießt du sie mit Blut. Das ist es. Punkt. Was du machst, ist nicht mehr als billige Provokation.«
Tief in mir baut sich ein Lachen auf. Es fühlt sich an, als hätte jemand eine Flasche Sprudelwasser geschüttelt und nun den Verschluss gelockert. Heiser und bitter kriecht das Lachen aus meiner Galle, gleitet meine Speiseröhre entlang wie ein beinloser Nerz, zwängt sich an meinem weichen Gaumen vorbei und erbricht sich aus meinem Schandmaul auf eine von mir totgetrampelte Welt. Jeder andere wäre geflohen oder wenigstens erschrocken zurückgewichen. Nicht Peter. Der abscheuliche Soziopath steht felsenfest da und starrt mich an, hängt teilnahmslos an meinen Lippen, als ich antworte: »Warum sollte ich die Menschen teuer kaufen, wenn ich sie billig haben kann?«
»Reiß dich zusammen«, flehte sie ihr Spiegelbild an. Allerdings konnte sie bei der behelfsmäßigen Badezimmerbeleuchtung beim besten Willen nicht erkennen, ob ihre Worte die erwünschte Wirkung zeigten. Vielleicht war es besser so, denn die nagende Nervosität hatte auf ihrem Gesicht ebenso tiefe Spuren hinterlassen wie die strapaziöse Anreise. Die Ringe unter ihren sonst strahlenden Augen gingen mit ihrem dunkelbraunen Haar, das platt ihr eingefallenes Gesicht umrahmte und in verfilzten Strähnen bis über die Schultern hinabfiel, eine fatale Farballianz der Erschöpfung ein, die ausschließlich eine ausgedehnte Dusche überwinden konnte. Es war zwar Hochsommer, aber dennoch eisig kalt im Badezimmer, was die verrostete Badewanne eher abstoßend als einladend wirken ließ. Das Hotel war eine billige Absteige, für die erste Station ihrer Reise hätte sie sich eine komfortablere Unterkunft gewünscht. Unterwegs würden genug Entbehrungen auf sie warten, die sie gerne in Kauf nahm, wenn sie dafür mit unberührter Natur und geheimnisvollen, von Menschenhand erschaffenen und dann vergessenen Plätzen belohnt wurde. Aber hier gab es noch keine Belohnung für ihren Verzicht. Keine majestätischen Weißkopfseeadler, keine im Sonnenlicht türkisfunkelnden Gletscher und auch kein Panorama, das einem gleichzeitig die Sprache verschlug und eine Art von Frieden spendete, wie ihn nur wenige Menschen im Laufe ihres Lebens erfuhren. In diesem Motel gab es noch nicht mal eine prall gefüllte Minibar, nur Wasserflecken an der Decke und eine spärliche Badezimmerbeleuchtung.
An sich war das Triumvirat ihres Unbehagens – desolate Unterkunft, lähmende Erschöpfung und emotionaler Ausnahmezustand – ohnehin nicht weiter von Bedeutung, denn in weniger als drei Stunden würde sie Anchorage, und damit hoffentlich auch ihrem Selbstmitleid, den Rücken kehren. Und sie würde sechs vollkommen Fremde im Schlepptau haben, die sich nicht nur auf ihr Fachwissen, sondern vor allem auf ihre Kompetenz als Reiseleiterin verlassen würden.
Was völliger Wahnsinn war.
Sie hatte bisher noch nicht einmal einen Wochenendtrip für ihre Freundesclique geplant, der über die eigenen Landesgrenzen hinausgegangen wäre, und im alljährlichen Familienurlaub hatte sie es seinerzeit nicht weiter als bis nach Italien geschafft. Der Flug nach Anchorage, dessen fehlender Komfort ihr das Gefühl vermittelt hatte, er würde sie direkt in den siebenten Kreis der Hölle und nicht nach Alaska führen, war ihre erste Flugreise überhaupt gewesen, und obwohl sie gestern nach ihrer Ankunft den ganzen Nachmittag geschlafen hatte, hatte sie jetzt erst recht mit einem grauenvollen Jetlag und einer dementsprechenden Panik zu kämpfen.
Reiseleiterin?
Am Arsch der Welt?
Am Arsch!
Was hatte sie sich dabei gedacht?
Die Antwort darauf war zu simpel, um die Beweggründe leugnen zu können. Sie hatte gar nicht gedacht, sondern bloß auf die nahezu obszön hohe Summe auf dem Scheck gestarrt und zugesagt, ohne lang zu überlegen. Wozu auch? Selbst ein hitziger Diskurs zwischen ihrem Draufgänger-Ich und ihrem Memmen-Ich, selbst ein rationales Abwägen der Vor- und Nachteile hätte zu keinem anderen Ergebnis geführt. Finanzielle Argumente waren schlagende Argumente. Seit man ihr das Stipendium gestrichen hatte, fraß die zeitintensive Arbeit an ihrer Dissertation ihr letztes Erspartes, und die versprochene Tutorenstelle an der Universität ließ auf sich warten. Ihre Eltern wollte sie nicht um Hilfe bitten, sie hatte sich ihre Unabhängigkeit vom überfürsorglichen Elternhaus zu hart erkämpft, um jetzt klein beizugeben, und für einen Studentenjob blieb ihr einfach nicht genügend Zeit. Da war das großzügige Angebot des Reisebüros für Abenteuer-Touristik gerade recht gekommen. Es war ein unerwarteter Geldsegen und darüber hinaus eine spannende Herausforderung. Außerdem hatte das Vorhaben zu Hause, in ihrer vertrauten Umgebung, gar nicht dermaßen undurchführbar geklungen, wie es sich jetzt anfühlte: Sie sollte, den Destinationen ihrer sich in Arbeit befindlichen Doktorarbeit folgend, sechs Reiseteilnehmer aus Österreich, Deutschland und der Schweiz vier Wochen lang durch Alaska und das Yukon Territory führen. Auf den Spuren des Goldrauschs würden sie ehemalige Goldgräberstädte und Minen besuchen, darüber hinaus standen mehrere ausgedehnte Wanderungen auf dem Programm, bei denen sie vor Ort erfahrene Bergführer unterstützen würden, wenn es die Bedingungen erforderten.
Soweit die Theorie.
Und theoretisch hatte wahrscheinlich kaum jemand, der darüber hinaus die erforderlichen Deutschkenntnisse aufzuweisen hatte, so viel Ahnung von der Materie wie sie. Zweifelsohne war sie, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, die perfekte Fachfrau für diesen Job. Um sechs Uhr morgens, bei diffuser Badezimmerbeleuchtung in einem Hotel am Stadtrand von Anchorage, sah die Sache allerdings gleich ganz anders aus.
Eine elementare Angst, die weder mit Worten noch mit Gesten zu fassen war, die sich erst klirrend glatt über ihren Rücken schob und sich dann widerwärtig säuselnd an ihren steifen Hals schmiegte, ergriff von ihr Besitz. Es war mehr als die Furcht vor der Aufgabe. Es war die Furcht an sich, das unausweichliche Unbehagen in seiner reinsten Erscheinungsform, demaskiert und auf den schmerzhaftesten Punkt im Geist eines jeden Menschen gebracht. Irritiert fasste sie sich in den Nacken, schüttelte den Kopf und tat, was wir alle tun: nachdrücklich leugnen, was wir intuitiv bereits wissen, sobald wir es nicht rational erklären können.
»Echt jetzt, verdammt, reiß dich zusammen!«, wiederholte sie die Forderung, die sie eben erst an sich selbst gestellt hatte, mit etwas mehr Nachdruck, und sie konnte spüren, wie die alarmierende Furcht der indoktrinierten Überzeugung wich. »Du bist die Expertin. Das ist deine Leidenschaft und das ist deine Chance. Nicht nur, dass man dir gutes Geld bezahlt, nein, auf diese Weise hast du endlich die Möglichkeit, nach der Reise einen weiteren Monat hierzubleiben und den Forschungsschwerpunkt deiner Arbeit vor Ort eigenständig umzusetzen. Betrachten wir das Ganze nüchtern: Ohne das hier bist du geliefert. Kein Geld, keine Forschung, keine Dissertation, keine Unistelle. Aus und vorbei. Der ganze verdammte Traum für die Tonne.«
Sie atmete tief ein, drückte das Kreuz durch, hob das Kinn an und zog die Mundwinkel in die Höhe, atmete langsam aus und schenkte ihrem Abbild ein gequältes, aber letztendlich doch überzeugendes Lächeln.
»Mein Name ist Rosa Martin, ich bin Doktorandin an der Geschichte-Fakultät der Karl-Franzens-Universität in Graz, mein Forschungsschwerpunkt ist der Goldrausch in Alaska und dem Yukon Territory zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und ich bin Ihre Reiseleiterin. Heute ist Sonntag, der zehnte Juli 2005, und das ist der Beginn unseres gemeinsamen Abenteuers. Glückauf!«
Hätte sie vor dem Spiegel bereits die Gesichter ihrer Reisegruppe gesehen, hätte sie das Badezimmer erst gar nicht verlassen. Nie wieder. Sie hätte dort gewartet, bis der körperliche Verfall eingesetzt hätte, und sich dann klammheimlich Stück für Stück die Toilette runtergespült. Kein besonders starker Abgang, aber wenigstens ein Ausweg.
Ein Blick sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Diese Blicke sprachen Bände der Ablehnung, und sie wollte keinen einzigen davon lesen, die Klappentexte waren mehr als ausreichend:
Die ist schrecklich jung, die geht sicher noch zur Schule.
Was sollen wir mit diesem Kind anfangen?
Eine Frau … Was weiß eine Frau über Bergbau?
So ein dürres Gestell, die hält doch dem Druck nicht stand.
Am Ende müssen wir das Mädel über den Gletscher schleppen.
Und dafür hab ich ein Vermögen bezahlt?
Sechs Erwachsene in funktionaler Sportbekleidung, die sich zum gemeinsamen Frühstück um einen Tisch versammelt hatten, Rosa eindringlich musterten und die, neben der obligatorischen Jack-Wolfskin-Abenteureruniformierung, vor allem ein Merkmal als Gruppe auswies: eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen.
Begeisterung sah anders aus.
Die Veranstalter hatten wohl verabsäumt, die Teilnehmer darüber zu informieren, wer für die vier Wochen authentische Goldrausch-Erfahrung vor Ort verantwortlich sein würde. Was zur Folge hatte, dass diese sich den sportbegeisterten Bergbauexperten augenscheinlich anders vorgestellt hatten. Schätzungsweise fünfzig Jahre alt, einen Bart wie Reinhold Messner, glühende Kohle in den Augen und flüssigen Stahl in den Adern, die Statur eines Grizzlybären und deutlich weniger Brüste, dafür aber ein paar richtig fette Eier.
»Ich weiß, Sie sind enttäuscht …«, setzte Rosa an, die unter den prüfenden Blicken zu einem Häufchen Elend verkommen war, und machte sich mit ihrer unbeholfenen Wortwahl gleich noch zwei Köpfe kleiner. Schließlich verstummte sie mitten im Satz und wartete geduldig darauf, dass der Boden sich auftat. Das war Alaska, es konnte alles passieren, und schon spürte sie, wie reinigende Flammen zärtlich an ihren Beinen leckten. Aber die Hölle zog es vor, sie wieder auszuspeien. Wahrscheinlich genoss der Teufel den bizarren Humor uneingeschränkter Peinlichkeit und somit Rosas Anblick.
»Wir sind enttäuscht, aber …?«, wollte einer der anwesenden Männer ihr eine Erklärung abringen, was ihm sofort einen Boxer seiner Frau einbrachte, die ihm damit den Mund verbot und gleich an Rosas Stelle weitersprach.
»Kindchen, wir sind nicht enttäuscht. Wir sind aufrichtig überrascht!«
»… und nicht gerade begeistert«, setzte eine burschikos wirkende Frau nach, die ungefähr in Rosas Alter war.
Die resolute Dame ließ sich nicht beirren. »Was für ein Schwachsinn! Hör gar nicht hin. Ich bin Gertie, der Quatschkopf an meiner Seite ist mein Ehemann Karl und das unhöfliche Fräulein mit dem praktischen Haarschnitt ist mir völlig unbekannt, weil sie über keinerlei Manieren verfügt und sich deshalb nicht vorgestellt hat. Jetzt setz dich, iss mal was und dann erkläre uns, was auf dem Programm steht.«
Nachdem der Boden sich weiterhin standhaft weigerte, Rosa zu verschlingen, folgte diese sehr gern der mütterlichen Anweisung.
Gertie strahlte eine Zuversicht aus, die Rosa nach ein paar Minuten wenigstens einen Teil ihres Selbstvertrauens zurückzugeben vermochte. Eigentlich war es völlig untypisch für sie, derart unbeholfen zu reagieren. Normalerweise sprühte sie förmlich über vor Lebensfreude, ging offenherzig auf ihr selbst unbekannte Menschen zu und wusste diese meist innerhalb eines Augenaufschlags für sich zu gewinnen. Ihre Mutter behauptete immer, es wäre das spanische Feuer ihres Vaters, das in ihren Adern brannte, aber dieser Morgen hatte es nachdrücklich verstanden, eben dieses Feuer mit feuchter Erde zu ersticken, ihren Kampfgeist unter einem Haufen Dreck zu begraben. Glücklicherweise brachte die Schilderung des Reiseablaufs Rosa in Fahrt und zurück in ihr Element. Langsam züngelten ihre Flammen wieder hoch, atmeten auf, wie auch sie aufatmete. Mit jeder ihrer Ausführungen ließ auch die Anspannung der Gruppe nach, und wenn sie schon nicht ganz verschwand, so wuchs doch langsam das Vertrauen in die überraschend junge Reiseleiterin.
Das Team der Abenteuerlustigen war bunt zusammengewürfelt, machte aber einen durchaus stimmigen Eindruck. Diese Menschen waren hierhergekommen, weil sie die Natur liebten, die Einsamkeit, die Geschichte und vor allem den Bergbau. Somit sollte es an Gesprächsbasis nicht mangeln, und die atemberaubenden Eindrücke, die in der Wildnis und im Umfeld der Mining Claims auf sie warteten, sollten ihr Übriges dazu beitragen. Der erste Eindruck hatte auf beiden Seiten getäuscht und relativierte sich sehr schnell. Das weitere Kennenlernen verlief ausgesprochen harmonisch.
Wie sich herausstellte, waren die Österreicher Gertie und Karl seit bald vierzig Jahren verheiratet und damit älter, als Rosa anfangs gedacht hatte. Aber beide wirkten topfit und voller Tatendrang. Den kleinen Fleischereibetrieb in einem winzigen Ort nahe von Wien hatte vor ein paar Wochen der Sohn übernommen, also hatten die Eltern endlich Zeit für das große Abenteuer, das ihnen bereits lange vorschwebte und das sie sich in den schillerndsten Farben ausgemalt hatten. Für diese Menschen erfüllte sich ein Lebenstraum, und Rosa durfte den frischgebackenen Pensionisten dabei den Weg weisen.
Die junge Schweizerin mit den streichholzkurzen, blonden Haaren trug den Namen Claudie und war allein angereist. Neben zahlreichen Tattoos, die ihre Arme bis nach vorne zu den Fingerknöcheln zierten, hatte sie ein besonders loses Mundwerk zu bieten, das aber nur im ersten Moment aggressiv rübergekommen war und eher ihre Unsicherheit kaschieren sollte. Das konnte Rosa bestens nachempfinden, gewiss war es für Claudie eine Überwindung gewesen, die Reise allein anzutreten. Die Kindergärtnerin hatte lange gespart und wollte nun, dass einfach alles perfekt war. Rosa wusste, dass sie mit Claudie gut zurechtkommen würde. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich sogar eingestehen, dass sie die großmäulige Frau mit dem französischen Akzent anziehend fand. Aber solche hormongesteuerten Empfindungen waren hochgradig unprofessionell, also schob sie die Gedanken schnell beiseite. Oder hob sie für später auf, wenn sie wieder allein war.
Die deutschen Brüder Stefan und Robert hatten beide Familie, wollten diesen Urlaub aber fernab von Kleinkindergeschrei und lieber hoch oben auf einem Gletscher oder tief unten in einem Minenschacht verbringen, deshalb waren sie zu zweit angereist. Stefan war Handballtrainer und Robert war Sportlehrer, sie würden Rosa gewiss an die Wand wandern. Vor allem Robert war ein echter Fanatiker, was Geschichte anging, und verwickelte sie sofort in ein Gespräch über Dawson City. Vielleicht wollte er ihren Wissensstand prüfen, aber wenn dem so war, bestand sie mit Bravour.
Nur einer aus der Gruppe schwieg, und er war dermaßen geübt im Schweigen, dass es Rosa gar nicht sofort auffiel. Doch während sie mit den anderen die Route und die Aufenthalte des ersten Tages durchging und erläuterte, warum sie ihre Reise ausgerechnet mit dem Besuch des Denali National Parks beginnen würden, fühlte sie sich unter seinen stummen Blicken zusehends unwohl. Jene Furcht, die im Badezimmer an ihrem Nacken geknabbert hatte, kicherte ihr ein blechernes Zischen ins Ohr, das an den zermürbenden Klang eines hysterischen Tinnitus erinnerte.
Nachdem Rosa die meisten Fragen, teils mit vollem Mund, beantwortet hatte, löste sich die Gruppe auf und die Reiseteilnehmer zogen sich in ihre Zimmer zurück, um zu packen und sich mental auf einen Monat der Extreme einzustimmen. Gegen neun Uhr würde der Fahrer der Mietwagenfirma Head North mit einem Ford Passanger Van, der ausreichend Platz für Mensch und Gepäck bot und dennoch geländegängig genug für diverse Schotterstraßen auf der Strecke war, vor dem Hotel auf sie warten. Da sie sich etwas verplaudert hatten, war die Zeit nun knapp und Rosa eilte den bedrückend engen Gang entlang. Der Teppich, der die Lebensader des derangierten Gebäudes entlanglief wie ein scharlachrotes Band, starrte vor Dreck und war in der Mitte abgetreten. Der nackte Boden gaffte durch die zerfransten Löcher wie das Nichts durch die Augen eines Totenschädels. Es stank nach Fisch, Schweiß und nach rohem Fleisch. Selbst in Anchorage waren die besten Jagd- und Angelgründe keine Autostunde entfernt und ebenso allgegenwärtig wie Vollbärte und Handfeuerwaffen. Die spärliche Beleuchtung flackerte, tauchte den von unzähligen Türen gesäumten Schlauch in ein visuelles Zittern, in dem sich Zwielicht und Dunkelheit, dem willkürlichen Schema eines arrhythmischen Herztons folgend, abwechselten.
Plötzlich löste sich ein Schatten von der Wand, als habe sich der Scherenschnitt eines Menschen eben erst in einen dreidimensionalen Körper verwandelt, und der schwarzgekleidete Mann mit dem kahlen Schädel, der Rosa während des Frühstücks mit eisigem Schweigen und einem ebensolchen Blick gestraft hatte, versperrte ihr den Weg.
»Wissen Sie, worauf Sie sich einlassen?«, fragte er und seine Stimme grollte wie ein Donnerschlag, der dem diabolischen Aufblitzen seiner starren, blauen Augen folgte.
»Selbstverständlich, sonst hätte ich diese Aufgabe nicht angenommen. Ich bin als Kind der Eisenerzer Alpen im Schatten des Bergbaus aufgewachsen und widme meine gesamte Forschung dem Goldrausch in genau diesem Gebiet, das wir bereisen werden. Was es zu wissen gibt, weiß ich und ich bin darüber hinaus davon überzeugt, dass ich mit meiner Arbeit den gegenwärtigen Wissensstand revolutionieren werde«, entgegnete Rosa mit einer Gewissheit, die offenbarte, dass sie sich diese Antwort bereits zu Hause zurechtgelegt hatte.
»Junge Dame – und mit meinen dreiundsechzig Jahren ist es keineswegs unhöflich, sie als eine solche zu bezeichnen –, ich zweifle weder an Ihrer fachlichen Kompetenz, noch an Ihrer beeindruckenden Leidenschaft. Wir haben mehr gemein, als Sie denken. Sie sind im Schatten des Erzbergs aufgewachsen, ich habe mein Leben lang dort gearbeitet. Für uns beide gilt: Eisen für immerdar. Aber wissen Sie wirklich, worauf Sie sich einlassen?«
Rosa wollte sofort antworten, verbal zurückschießen und die eigentümliche Macht, die er auf sie ausübte, untergraben, doch ihr Atem stockte und sie lauschte dem klirrenden Klang ihrer Angst.
»Das dachte ich mir. Sie sind eine Frau ganz nach seinem Geschmack«, fuhr der Mann in Schwarz fort, kam auf sie zu, blieb unmittelbar neben ihr stehen und durchbrach somit rücksichtslos die unsichtbare Grenze, die Rosas persönlichen Bereich umschloss. Er schaute auf sie hinab, musterte ihre sprachlosen Lippen und ihre angstgeweiteten Augen, berührte sie wie beiläufig am Oberarm und grinste lieblos, bevor er weitersprach. »Eine Frau, ganz nach seinem Geschmack. Sie sollten nicht an diesem Ort sein, aber Sie sind es. Und was einmal begonnen hat, wird ganz gewiss seinen Lauf nehmen.«