Ay
ş
e Bosse arbeitet als Autorin, Schauspielerin und
Trauerbegleiterin. Ihre Bücher zur Trauerbegleitung
mit Kindern und Jugendlichen (»Weil du mir so
fehlst«, »Einfach so weg«) wurden viel beachtete,
große Erfolge. Ay
ş
e Bosse wuchs in einer türkisch-
deutschen Familie auf. Heute lebt sie mit ihrem
Mann und ihrer Tochter in Hamburg.
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2020 by Carlsen Verlag GmbH, 22703 Hamburg
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Alle deutschen Rechte vorbehalten
Illustrationen: Ceylan Beyo
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lu
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Lektorat: Stefan Pluschkat, Frank Kühne, Larissa Speer
Herstellung: Derya Yıldırım
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ISBN: 978-3-646-93333-8
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Nina Stiller
Mit Illustrationen von Ceylan Beyoğlu
Halb und halb
macht doppelt
glückl
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ch!
Ayşe Bosse
5
1. Kap
¡
tel:
Das Mädchen ohne Namen
Mondschein glitzert silberweiß auf dem nachtschwarzen
Wasser. Es duftet nach süßem Jasmin, nach salzigem Meer
und herrlich köstlichen Köfte. Es ist ganz warm, und ein
kleiner freundlicher Wind weht vom Meer her zu dem
großen Freilufttheater herauf, dessen bunte Lichter hoch
oben auf der Meeresklippe funkeln.
Alles ist absolut megamagisch …
Es ist ihre achtundfünfzigste Show in diesem Sommer, und
wie jeden Abend ist das Theater restlos ausverkauft. Der
Magier ist heute mal wieder in Bestform. Sein Glitzeranzug
leuchtet im Licht der Scheinwerfer, in Tausenden kleinen
Strahlen bis hoch in den dunklen Nachthimmel. Er dreht
sich, schimmert elegant wie eine Discokugel, schnipst mit
dem Finger und murmelt dabei leise eine Zauberformel. Das
Publikum vergisst fast das Atmen vor lauter Aufregung.
Die Tochter des Magiers schaut hinauf in den
Sternenhimmel. Dort funkeln die Sterne in hellem Glanz.
Sie liegt auf einem silbernen Himmelbett, das nach oben hin
offen ist. An den vier großen Bettpfosten wehen hauchdünne
Tücher, die aussehen, als wären sie aus Mondlicht gewoben.
Jetzt hebt der Magier bedächtig die Hände. Und dann, ganz
sanft und langsam, schwebt das Mädchen wie eine kleine
silberne Wolke empor, und ihr langer mondscheinfarbener
Umhang flattert mit den Tüchern am Bett im sanften Wind.
Zu schweben ist für sie das Allernormalste der Welt. Sie
schwebt mehrmals am Tag, drei bis dreißig Mal, seit sie ein
Baby ist. Schweben ist für sie so normal wie Essen, Trinken
und Zähneputzen. Schweben hilft ihr am besten, wenn sie
abends nicht einschlafen kann, und schwebend kann sie am
besten nachdenken. Die Leute im Publikum hingegen haben
so etwas noch nie gesehen und können ihren Augen kaum
glauben. Sie sind begeistert und machen sich gleichzeitig
Sorgen, dem Mädchen könnte etwas zustoßen. Aber das
wird nicht geschehen, ihr Vater würde sie niemals fallen
lassen.
»Das Mädchen ohne Namen« wird sie genannt. Dabei hat
sie sehr wohl einen Namen. Den kennen aber nur sie und ihr
Vater. Ihr Name ist ein Geheimnis, das geheimste Geheimnis
überhaupt!
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Den Namen
des Magiers hingegen
kennt jeder: MAGIC MUSTAFA.
Alle Bewohner des Dorfes, das unterhalb der Klippe in einer
kleinen gemütlichen Bucht liegt, sind absolut megastolz auf
ihren Zauberer und auch jeder, der das Dorf besucht, kann
Magic Mustafas Magie förmlich spüren. Sie kitzelt im Bauch
und sie macht glücklich.
Das Mädchen ohne Namen schwebt weiter empor. Immer
höher – den Sternen entgegen. Millionen-Milliarden von
Sternen. In Richtung Milchstraße. Es gibt so viele Sterne
am Himmel, wie es Liebe auf der Erde gibt, und wenn auf
der Erde jemand die drei magischsten Worte überhaupt zu
jemand anderem sagt, fallen vor Freude Sterne vom Himmel.
Die drei magischsten Worte der Welt lauten: »Ich liebe dich.«
Mit diesen drei Worten darf man nicht sparsam umgehen
und man sollte sie mindestens dreimal am Tag sagen. Und
gesagt bekommen. Das ist gut für die Gesundheit.
»Ich liebe dich, Baba!«, flüstert das Mädchen in den
Sternenhimmel hinauf.
Und tatsächlich! Kaum hat das Mädchen die drei
gesündesten Worte der Welt geflüstert, fällt eine gigantische
Sternschnuppe genau über ihr vom Himmel und landet im
Meer, dessen Wellen einen Moment lang silbern glänzen.
Das Publikum klatscht und schreit vor Begeisterung.
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Eine alte Dame in der ersten Reihe klatscht und schreit so
stürmisch, dass ihr das Gebiss aus dem Mund fällt.
Das Mädchen ohne Namen schwebt weiter, immer höher
und höher in ihrem silbernen Gewand. Fast ist sie ein
bisschen traurig, denn sie weiß, was jetzt gleich passiert. Ihr
Vater wird noch einmal mit dem Finger schnipsen und sich
dabei drehen. Und sie wird für die Zuschauer verschwunden
sein, und an ihrer Stelle werden zweitausend weiße Tauben
über die Köpfe des Publikums fliegen. Das ist das große
Finale, und ihr Vater und sie sind jedes Mal froh, wenn
alles geklappt und keine der zweitausend Tauben einem
Zuschauer auf den Kopf gekackt hat. Ihr Vater ist der größte
Magier der Welt, aber wenn eine Taube mal muss, dann
muss sie. Da hilft keine Magie auf der Welt.
Heute läuft alles glatt. Die Zuschauer springen auf. Sie
klatschen und rufen: »BRAVOOO!« Viele weinen sogar vor
Freude. Auch die alte Dame, die ihr Gebiss inzwischen im
Bierglas ihres Mannes entdeckt hat.
Magic Mustafa und seine Tochter sind die größte Attraktion
im ganzen Land, nein, auf der ganzen Welt! Von überallher
kommen Angebote für Tourneen, selbst am Nordpol sind
sie berühmt, und wenn sie wollten, könnten sie eine eigene
Show in Las Vegas haben.
Doch hier ist der schönste Ort der Welt und ihr Zuhause.
Von hier hat man den besten Blick auf das weite, endlose
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Meer, hier sind ihre Freunde, hier sind sie zu Hause, sie
gehören HIERher und nirgendwo anders hin. Deshalb treten
sie jeden Abend hier auf, und die Leute kommen aus allen
Ländern, nur um sie zu sehen.
Kurz nach der Geburt seiner Tochter hat der Magier einen
Vertrag geschrieben. Mit geheimen Feuerbuchstaben in den
uralten Steinboden des Theaters auf der Meeresklippe, das
kein anderer als sein Ur-Ur-Urgroßvater gebaut hatte, vor
langer, langer Zeit. Darin steht, dass sie nur hier auftreten
werden und nirgendwo sonst. Nichts und niemand könnte
sie dazu zwingen, ihr Zuhause zu verlassen.
Auch kein blöder toter Friseur-Onkel.
Niemals.
»Pembo?« Es klopft an meiner Tür.
Und GÜM! Ich bin wieder in der Wirklichkeit gelandet.
Der furchtbarsten Wirklichkeit der Welt.
Vor der Tür steht Baba, dieser miese Verräter.
»Geh weg!«, motze ich.
»Wir müssen reden, mein Kind.«
»Kann man hier denn nie mal seine Ruhe haben,
ohne andauernd belästigt zu werden?«,
kreische ich in Richtung Tür.
»Außerdem rede ich nicht mit dir.
NIE WIEDER! Hörst du?«
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Ich liege auf meinem Bett und starre wütend die bunten
Sterne an, die über mir an der Zimmerdecke kleben. Mein
Kater Süleyman liegt auf meinem Bauch und schnurrt, als
ob alles total in Ordnung wäre, aber nichts ist in Ordnung,
absolut gar nichts!
Mein Vater hat mein komplettes Leben zerstört!
Ich streichle Süleyman über sein Köpfchen, während mir die
Tränen in die Augen steigen und die Wut-Lava in meinem
Bauch brodelt. Ich explodiere bald, das kann ich fühlen.
»Pembo, hayatım, darf ich bitte reinkommen?«
Aha. Baba versucht es also auf die Schleimertour.
»Warum fragst du denn noch so blöd?«, rufe ich. »Ernsthaft
jetzt, habe ich eine Wahl? Nein, DU hast ja schon alles
entschieden, und zwar OHNE mich zu fragen! Also komm
rein, wenn du's nicht lassen kannst!«
Die Tür geht ganz langsam auf, und mein Vater schaut
vorsichtig ins Zimmer. Seine Haare stehen wild in alle
Richtungen ab, wie immer, wenn er sich vor Ratlosigkeit
durch seine Locken strubbelt. Er ist total blass um die Nase.
Selbst schuld!
Ich bin bekannt für meine Wutanfälle, und die Chancen
stehen gut, dass gleich der Wutanfall meines Lebens kommt.
»Verdammte Sülze!«, brülle ich. Baba, der gerade ein paar
mutige Schritte in meine Richtung gemacht hat, springt
vor Schreck einen Satz zurück und stößt sich den Kopf an
meinem riesengroßen Planeten-Mobile. Am Jupiter, um
genau zu sein. Hoffentlich bekommt er eine Beule, die so
groß ist wie der Todesstern!
Ich drehe mich zur Wand.
»Ist alles okay da drinnen, Mustafa?«
Jetzt steht auch noch meine Mutter vor der
Tür und klopft leise.
Mein Vater heißt Mustafa, meine Mama
Mona. Unser Nachname ist Mutlu,
was auf Türkisch »glücklich« heißt.
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Aber keiner hier wird je wieder glücklich sein, das ist mal
sicher, und daran ist allein Baba schuld!
»Ja, ja, alles okay«, ruft Baba wenig überzeugend. Mama
bleibt draußen. Bestimmt hat sie ihm gesagt, er soll allein
mit mir reden, nachdem ich aus der Küche gerannt bin
und – GÜM! – ordentlich mit den Türen geknallt habe. Ich
glaube, dass Mama auch nicht von hier wegwill, aber sie
möchte es Baba nicht noch schwerer machen. Wenn das
Babas großer Traum ist, dann kommt sie mit, hat sie gesagt,
obwohl sie hier immer total glücklich war. WAR! … Wenn
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ich nur daran denke, dass unser Leben hier
bald WAR und nicht mehr IST, spüre ich
wieder die Lava in mir. Mit einem Ruck
drehe ich mich um und schreie meinen Vater
an, der wieder erschrocken einen Satz zurück macht.
»Wie oft willst du eigentlich noch mein Leben ruinieren?
Erst gibst du mir den schrecklichsten Namen der Welt und
jetzt willst du, dass ich auch noch ins schrecklichste Land
der Welt ziehe?«
Ich weiß, dass ich gerade so richtig gefährlich aussehe,
ungefähr so wie ein wild gewordenes Kaninchen, aber das
ist mir so was von egal. Verdammt noch mal. Hier geht es
gerade um alles, und dieses alles muss aus mir raus!
»Deutschland ist nicht das schrecklichste Land der Welt,
Kuzum«, sagt Baba, ganz sanft und leise.
Kuzum heißt »mein Lämmchen« auf Türkisch. Ich rede mit
meinem Vater immer Türkisch, mit allen anderen hier auch,
ich kann aber beides. Türkisch und Deutsch. Meine Mutter
kommt aus Deutschland. Vor zwölf Jahren hat sie sich in
meinen Vater verliebt und ist mit ihm hiergeblieben, in der
Türkei. Das ist ihr auch gar nicht schwergefallen, schließlich
leben wir im schönsten Land der Welt. Unser Dorf liegt
direkt am Meer. In den kleinen Straßen ist immer etwas los,
und die Leute sind immer gut drauf, außer Onkel Osman
vielleicht. »Dilo sagt, dass es in Deutschland so düster und
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kalt ist, weswegen sie da absolut alle gruseligen Szenen von
Harry Potter UND Herr der Ringe gedreht haben.«
»So, das sagt Dilo also?«, antwortet mein Vater vorsichtig.
Ja, und dass die Deutschen, diese Kartoffeln, alle einen
Frosch im Hals haben und deshalb beim Reden immer so
komisch chhh, chhh, chhhh machen.
Baba schmunzelt, und das macht mich noch wütender.
»Und in so einem Land willst du leben? Baba! Das ist
Tierquälerei! Ich will nicht zu den Kartoffeln ziehen, Baba!«
»Du bist doch selber eine halbe, Kuzum. Du bist eine
Köftoffel! Halb Köfte, halb Kartoffel.«
»Ja, schon, aber hier merkt man das nicht. Hier ist das
cool, wenn ich Deutsch kann und Onkel Osman mit
den deutschen Kundinnen helfe. Aber ich kenne da doch
niemanden, Baba!«, brülle ich, und dabei explodiert die
ganze Lava-Wut in mir und wird zu Tränen, und ich heule
und heule und heule. Mein Vater setzt sich vorsichtig zu mir
aufs Bett, nimmt mich in den Arm und singt mir leise mein
Lieblingskinderlied vor, das von dem kleinen Löwen und
seinem Vater. Ich lasse das durchgehen. Wenn ich ehrlich
bin, tut es sogar ganz gut. Tief in mir drinnen weiß ich ja, er
kann nichts dafür, dass alles so gekommen ist …
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2. Kap
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tel:
E
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n Fehler
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m System
Ich hasse meinen Namen. Also meinen Vornamen. Und
ich hasse Mädchenkram. Ich hasse einfach alles, was süß
und mädchenhaft ist, schon seit ich ein kleines Baby war.
Meine Oma Melek hat das damals herausgefunden. Jedes
Mal, wenn sie mir den rosa Strampelanzug mit den kleinen
Häschen drauf angezogen hat, hab ich immer ganz furchtbar
angefangen zu schreien.
Oma Melek kenne ich nur noch von dem großen Foto, das
über Dedes Bett hängt. Ich kann mich leider nicht an sie
erinnern. Sie ist meine Babaanne, so sagt man in der Türkei,
die Mutter meines Vaters. Meine andere Oma, Oma Angela,
ist meine Anneanne. Aber ich sag Oma zu ihr. Oma Angela
ist nicht tot wie Oma Melek. Auf dem Foto in Dedes Zimmer
sieht meine Babaanne wunderschön aus, mit großen blauen
Augen und langen weißen Haaren. Dede bekommt immer
feuchte Augen, wenn er von ihr redet, und Baba geht dann
aus dem Zimmer, damit keiner merkt, dass er traurig ist,
aber natürlich merke ich das, ist doch klar.
»Melek« bedeutet Engel, und genau das ist meine Oma
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im Himmel für mich.
Sie beschützt mich und
lächelt mich immer so
lieb aus dem Bild an, egal
wie ätzend ich gerade
war. Mama sagt, Oma
Melek war die beste
Schwiegermutter, die sie
sich wünschen konnte, und dass sie von ihr gelernt hat, die
weltleckersten Börek zu backen.
Kurz nachdem Oma Melek das mit meiner Rosa-Allergie
herausgefunden hat, ist sie gestorben. Ich finde das sehr
schade, denn ich hätte mich so gern bei ihr dafür bedankt.
Schließlich hat sie mir damit viel Ärger erspart. Aber
eigentlich glaube ich sowieso, dass sie immer noch da ist,
nicht nur auf dem Foto. In unserer Familie werden nämlich
ständig Dinge gesagt wie: »Oma Melek würde …«
»… diese Blumen lieben«, sagt Tante Leyla.
»… so stolz auf dich sein«, sagt Baba zu mir.
»… mir jetzt mit Rosenöl die Füße massieren«, sagt Dede.
»… Onkel Osman mal ordentlich die Leviten lesen«, sage ich
zu Baba.
»… deine Börek köstlich finden«, sagt Baba zu Mama.
»… dir sagen, du sollst auf jeden Fall deinen Traum leben«,
sagt Mama zu Baba.
Also ist sie doch immer dabei.
Das gefällt mir.
Oma Melek war also die Allererste, die gemerkt hat, dass ich
etwas Besonderes bin.
Seitdem ich denken kann – und auch schon seitdem ich
noch nicht so viel denken kann –, hasse ich Mädchenkram.
Eben alles, was süß und mädchenmäßig ist: Kleider,
Röcke, Zöpfe, Spängchen, Rüschen, Glitzer, Prinzessinnen,
Meerjungfrauen auch, Lackschuhe, weiße Söckchen
und natürlich Krönchen, Feen-Zauberstäbe, Ballett-
Tutus, Puppen, Pferde mit Zöpfchenmähnen, hässliche
Stofftierchen mit viel zu großen Augen und vor allem:
Barbies, diese jämmerlichen Kreaturen.
Ich weiß sogar, warum das so ist. Das liegt an einer Sache,
einem kleinen Fehler im System, der
natürlich eigentlich gar kein
Fehler ist – nämlich an
meiner Rosa-Allergie. Ich
bin gegen alles allergisch,
was Rosa eben noch so
bedeutet: süß, zart, hübsch und
kitschig. Und dass ich so bin, wie ich bin, soll so
sein.
Und Oma Melek wusste das schon, als ich erst zwei
Monate alt war. Deshalb hat sie allen anderen in
der Familie immer wieder gesagt, sie sollen darauf Rücksicht
nehmen. Und obwohl es ihnen anfangs schwerfiel zu
kapieren, dass ich kein Mädchen-Mädchen bin, haben sie
sich mittlerweile eigentlich alle daran gewöhnt.
Für Tante Leyla war es besonders hart. Aber irgendwann
hat sie es aufgegeben, mir süße Kleidchen zu kaufen. Aus
Sicherheitsgründen. Tante Leyla ist Babas Schwester. Sie hat
drei Söhne, Onkel Osman, Onkel Hamit und Onkel Ümit.
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Onkel Osman ist klein und gemein, Onkel Hamit ist rund
und gemütlich, und der Liebste von den dreien ist Onkel
Ümit. Der ist zwei Meter und zehn groß und hat Schuhgröße
fünfzig! Eigentlich sind sie ja meine Cousins, aber ich nenne
sie Onkel, weil sie schon uralt sind, dreißig oder so. In der
Türkei sagt man Onkel zu allen alten Männern, egal, ob man
mit ihnen verwandt ist oder nicht.
Als Mama und Baba dann wussten, dass sie ein Mädchen
bekommen, ist Tante Leyla fast ausgerastet, so sehr hat sie
sich auf eine kleine Prinzessin gefreut … Na ja, ich musste
sie leider enttäuschen. Sie bekommt immer noch diesen
dämlichen, leidenden Gesichtsausdruck, wenn sie irgendwo
süße Kleidchen sieht. In jedem Klamottengeschäft gibt
es diese Glitzer-Mitzer-Mädchenabteilungen. Überall! Da
durchzulaufen ist für mich der absolute Horror, schlimmer
als die übelste Geisterbahn. Also, eigentlich liebe ich ja
Geisterbahnen, aber bei der Glitzer-Mitzer-Nummer wird
mir echt ganz anders. Wenn ich mit Tante Leyla durch
so eine Abteilung laufen würde (was niemals passieren
wird), würden bestimmt alle denken, wir hätten gerade
einen schlimmen Todesfall zu betrauern oder schlechte
Miesmuscheln gegessen, weil ich kreidebleich wäre und
Tante Leyla die ganze Zeit seufzen und stöhnen würde.
Und an allem ist nur mein blöder Name schuld. Wegen
dem habe ich nämlich diese Allergie, da bin ich mir sicher.
Und an meinem Namen sind meine Eltern schuld, ganz
besonders mein Vater. Er ist schuld daran, dass ich nur halb
glücklich bin. Mein Name, der ist einfach zu viel.
Und mein Vorname kombiniert mit meinem Nachnamen ist
der absolute Overkill. Da hätten sie mich gleich »Prinzessin
Lilifee« oder »Fluffy, das Regenbogen-Einhorn« nennen
können.
Okay, ich verrate ihn jetzt. Aber nur einmal! Mein Nachname
ist Mutlu, das wissen wir alle ja schon. Und wie gesagt:
Mutlu heißt glücklich. Gegen meinen Nachnamen habe ich
tatsächlich gar nichts, der ist eigentlich ganz nett. Vor allem
ist das ein türkischer Nachname, den sogar Deutsche ganz
okay aussprechen können. Aber jetzt kommt der Grund,
warum ich nur halb glücklich bin:
Ich heiße Pembegül.
GÜM!
Leute, die kein Türkisch können, verstehen
das jetzt erst mal nicht. Aber ich kann
Türkisch, wie die meisten Türken auf
dieser Welt. Pembe heißt ROSA und
PINK – gleichzeitig!
Und Gül heißt Rose. Doppel-GÜM!
Ich heiße also: ROSAPINKE ROSE
GLÜCKLICH. Verdammte Sülze!
Aber niemand darf mich so nennen.
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Sonst kann ich für nichts garantieren. Stattdessen heiße ich
Pembo. So nennt mich meine beste Freundin, seitdem wir
uns das erste Mal getroffen haben, im Kindergarten. Sie
heißt Dilek, und das ist fast so schlimm wie mein Name,
na ja, sagen wir mal ein Viertel so schlimm. Dilek bedeutet
»Wunsch«, und wie ich wünscht Dilek sich schon immer
einen anderen Namen. Deshalb nenne ich sie »Dilo« und sie
mich eben »Pembo«.
Mit Dilo kann ich so sein, wie ich bin, denn sie ist genauso.
Wir kennen uns wie gesagt seit dem Kindergarten und gehen
beide in denselben Ringerverein, in dem auch schon mein
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Dede, mein Großvater, trainiert hat. Mein Dede war ein echt
berühmter Ringkampfmeister. Und eines Tages werden Dilo
und ich bei der Olympiade mitmachen wie unser größtes
Vorbild, der beste Ringer der Welt: »Mehmet das Mammut«.
Dede findet es super, dass ich genauso bin, wie ich bin. Mein
Kater Süleyman auch, aber dem ist eh alles egal. Hauptsache,
er bekommt Köfte. Mama und Baba lieben mich natürlich
auch so, wie ich bin. Aber ich glaube, dass Baba manchmal
meine Haare vermisst. Als ich fünf war, habe ich Baba
gezwungen, mir die langen Haare abzuschneiden, und er hat
dabei so richtig schlimm geheult. Beim Ringen nerven lange
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Haare aber einfach nur. Die immer leidende Tante Leyla sagt
oft, dass die anderen Leute über mich reden, und das nervt.
Aber Dede sagt dann, die anderen Leute können uns mal.
Dafür liebe ich ihn noch umso mehr.
Ich bin Pembo. Pembo Mutlu. Ich hasse Mädchenkram, vor
allem, wenn er rosa ist. Ich liebe Jeans und T-Shirts und
Surfen und Fußball und Ringkampf und dicke Kater, solange
sie nicht zu süß sind.
Und ich liebe Geisterbahnen.
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3. Kap
¡
tel:
L
¡
ebe auf den ersten Lacher
Es gibt Liebe auf den ersten Blick, und es gibt Liebe auf den
ersten Lacher.
Als mein Vater das erste Mal das Lachen meiner Mutter
hörte, war er – GÜM! – verknallt, noch bevor er sie sah.
Er sagt, Mamas Lachen hat ihn wie Tausende kleine Fische
im Bauch gekitzelt. Vielleicht wie Hamsis. Das sind kleine
silberne Fische, die sehr lecker schmecken, in Maismehl
gewälzt und dann frittiert.
Als Baba meine Mama dann gesehen hat, hat er richtig
große Augen gemacht. So eine Frau war ihm in seinem
ganzen Leben noch nicht begegnet. Mamas knallrot gefärbte
Haare haben ihn an die wunderschönen reifen Tomaten
in Tante Leylas Garten erinnert, und ihre Augen waren so
blau wie das Meer, ganz weit draußen, wo es am tiefsten ist.
Für Mamas Piercings und Tattoos hatte er erst einmal keine
Vergleiche, weil er so etwas vorher noch nie gesehen hatte.
Aber er fand sie wunderschön. »Perfekt«, sagt er.
Baba ist total romantisch. Immer. Er sagt, er kann nichts
dagegen tun, das sind die Gene.
Bis heute sagt er Mama jeden Tag, wie wunderschön sie
ist. Sie hat zwar nur noch ein einziges Piercing (das in
ihrer Nase), und ihre Haare sind auch nicht mehr knallrot,
sondern braun, aber wenn er sie »Gülüm«, meine Rose,
nennt, wird sie oft knallrot im Gesicht.
Na ja, auf jeden Fall war es noch ganz frühmorgens, und
Baba hängte wie immer die frisch gewaschenen Handtücher
auf den Wäscheständer vor Onkel Osmans
Laden. Man konnte schon spüren, dass es
wieder ein irre heißer Sommertag werden
würde. So heiß, dass die Luft flirrt und die
Touristen sich am Strand die Fußsohlen
verbrennen. Zum Glück hatte Onkel Osman
auch damals schon eine Klimaanlage im
Salon.
Allerdings haben sich seine Kundinnen
ständig erkältet, weil es im Kuaför Osman so
frostig kalt war.
Baba stand also draußen vor dem Laden und
hängte die Handtücher auf.
Als dann auf einmal die Tür von Tarkan
Tattoo gegenüber aufging, hörte er es:
das Lachen! Baba blieb
wie angewurzelt stehen und spürte die
Fische im Bauch. Und dann kam meine Mama
herausspaziert, die wunderschönste Frau der Welt.
Sie hatte ihr Handy am Ohr und sprach und lachte
in einer Sprache, die Baba nicht verstand. Deutsch. Als
sie ihn nett anlächelte und ihm über die Straße hinweg
zuwinkte, fiel der Wäscheständer um, so einen großen Satz
hatte Babas Herz gemacht.
Die nächsten Wochen waren für ihn wunderbar – und
furchtbar. Nachts konnte er nicht mehr schlafen. Die ganze